Körper und Stimmen

Christian Jooß-Bernau analysiert „Das Pop-Konzert als para-theatrale Form“

Von Ole PetrasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ole Petras

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Popkultur lebt von Momenten wie diesen: Madonna gibt Britney Spears und Christina Aguilera bei den MTV Video Music Awards einen Zungenkuss. Madonna trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Kylie“. Madonna liefert sich in der amerikanischen Comedy-Sendung Saturday Night Live ein Handgemenge mit Lady Gaga, ihrer derzeit wohl größten Konkurrentin. Das allen Mikro-Skandalen zugrunde liegende Prinzip ist bekannt: If you can’t beat them, join them. Die auf dem Feld der Verkaufszahlen hinzunehmende Niederlage wird auf Ebene des symbolischen Kapitals kompensiert. All das hat viel mit Popkultur und nur noch am Rande mit Popmusik zu tun. Die physische Präsenz des Künstlers wird zum eigentlichen Komplexitätsversprechen.

Der Münchener Kunstwissenschaftler Christian Jooß-Bernau begibt sich in seiner Studie „Das Pop-Konzert als para-theatrale Form“ auf die Spuren dieses Befundes. Weil die aufgezeigten Mechanismen, wie angedeutet, zum festen Inventar der Popmusikkultur zählen, versucht er mit seinem Projekt einer „Theatergeschichte der Pop- und Rockmusik“ ein terminologisch reliables Konzept zu entwickeln und dem strapazierten Terminus der Inszenierung seine eigentümliche Schlagkraft zurück zu geben. Viel eher denn als bloße Aufführung ist die Popmusik als Wechselspiel von Akteuren und Räumen zu fassen, die eigene Sprechsituationen ausbilden.

Die in Bezug auf diese Aufgabenstellung naheliegende Frage wäre, was mit Para-Theatralität überhaupt gemeint ist. Jooß-Bernau konstatiert, dass es „kurzsichtig [wäre], anzunehmen, die Aktionen auf der Pop-Bühne ließen sich umstandslos als theatral interpretieren.“ Um ihrer Spezifität gerecht zu werden, schlägt er daher als „Alternative des Inszenierungsbegriffs“ den Begriff der Para-Theatralität vor, der „durchlässig sowohl für biografische Momente als auch die theatrale Form“ ist. Dies führt ihn zu einem Aufriss der sowohl für das Theater als auch das Pop-Konzert zentralen Kategorien.

Zunächst erscheint die Bühne als Szene. Mit Erika Fischer-Lichte versteht der Verfasser sie als „performativen Raum“, der durch die Kopräsenz von Produzenten und Rezipienten eine spezifische Kommunikationssituation hervorbringt und gestaltet. Von angesagten Clubs wie dem Cavern oder CBGBs über Konzerthallen wie das Fillmore East bis hin zu Stadien affiziert die auch technische Ausstattung das Spektrum der Performance. Zweitens erscheinen Instrumente als Requisiten, deren Form und Handhabung über die reine Erzeugung von Schall hinausweist.

Drittens rückt mit der Besetzung der Sender-Funktion das Verhältnis von Körper und Stimme ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Unterscheidung von „Stimme, Identität und Rolle“ erlaubt eine differenzierte Betrachtung der genuin performativen Qualitäten der Darbietung, die eigene erzählte Welten kreiert. Die Kategorien der Proxemik, dass heißt der kommunikativen Dimension der Stellung im Raum, und der Gestik erläutern viertens, inwiefern Realität und Fiktion einander angenähert werden, indem die Signale des Künstlers das Kunsterleben der Zuschauer beeinflussen. Dieser letzte Punkt leitet über zur Partizipation des Publikums am Gelingen des Sprechaktes. Eben weil die Popmusik das Versprechen eines Transfers der Haltungen einschließt, erscheint eine Typologie der affektiv wirksamen Bühnenfiguren plausibel.

Jooß-Bernau untersucht nun einerseits die historischen Ursprünge der im Konzert eingenommenen „Pop-Rollen“ und skizziert andererseits exemplarisch das „Figurentheater des Pop“ in Gestalt von Tom Waits, Jethro Tull, David Bowie, Brian Ferry und Frank Zappa. Der Blick auf „Frauen auf der Pop-Bühne“, Janis Joplin und Madonna, und „theatrale Großformen“ wie den Rock-Opern von The Who beschließen die Analyse. Insgesamt zeigt sich, so das Resümee der Arbeit, dass gerade vor dem Hintergrund eines Wandels der Musikindustrie das Konzert als wichtiges Ausdrucksmedium bestehen bleibt, dass ferner die für die Popmusik konstitutive Unmittelbarkeit vor allem im Live-Konzert zur Entfaltung kommt: „Im Idealfall wird die Pop-Bühne zum Schnittpunkt der verschiedensten ästhetischen Entwicklungen, zu dem Ort, wo sich, trotz der zunehmenden Dominanz anderer Medien, Popmusik in ihrer ganzen Bedeutungsvielfalt präsentiert.“

Es scheint den Verfasser dabei selbst zu überraschen, mit einer so naheliegenden und einleuchtenden Idee Neuland zu betreten. Trotz einer bereits sechzigjährigen Geschichte der Gattung liegen noch immer viel zu wenig Studien vor, die sich dem Gegenstand auf Basis einer seriösen Theorie der Zeichen nähern. Jooß-Bernaus Begriff der Para-Theatralität kann hier einen wertvollen Beitrag zur Justierung der Such-Optik leisten. Seine Orientierung an der Praktikabilität des Analyseinventars ist nicht nur methodisch geboten, sondern thematisch begründet.

Trotz der in sich schlüssigen Argumentation wären zwei Einwände zu formulieren, die allerdings Teil der von Jooß-Bernaus Text angestoßenen Diskussion sind. Erstens wäre zu fragen, ob die über weite Strecken historische Ausrichtung der Studie nicht die Gefahr birgt, sich in bestehende Paradigmen der Popmusikgeschichte lediglich einzuschreiben, anstatt aus der abstrakten Beschreibung para-theatraler Ausdrucksformen heraus die spezifischen Anwendungen zu analysieren. So ließen sich die im Kontext von Tom Waits aufgerufenen Verweise auf Jack Kerouac mühelos auf Bob Dylan beziehen, der zudem den Vorteil des Erstgeborenen auf seiner Seite hat.

Zum Zweiten wäre ein systematischer Einwand vorzubringen, der die Gewichtung von konzertanter und konservierter Performance betrifft. Im Gegensatz zu dem von Jooß-Bernau zitierten Popmusikwissenschaftler Roy Shuker wäre mit Simon Frith zu argumentieren, dass „’Liveness‘, in short, whether defined in social or physiological terms, is not essential to musical meaning.“ Frith’ vielzitiertes Buch „Performing Rites“ leitet die Genese von Bedeutung zwar auch aus ritualisierten Handlungen ab, die aber ebenso das Abspielen eines Tonträgers umfassen. Tatsächlich gibt es heute kaum noch Konzerte, die nicht der Bewerbung eines – wie auch immer vertriebenen – Albums dienen, das damit der Aufführung vorausgeht. Das Formenspektrum der Popmusik orientiert sich spätestens seit den Beatles an den Möglichkeiten der Klangkonservierung.

Die anfangs zitierte Konkurrenz zwischen Madonna und Lady Gaga – oder wahlweise Britney Spears, Christina Aguilera und Kylie Minogue – leitet sich aus der Nähe des von ihnen bedienten Recording-Stils ab. Die skandalöse Inszenierung ist folglich dem Wettbewerb geschuldet und damit in ein weiteres System der Bedeutungserzeugung eingebettet. Ein genuin para-theatraler Wahnsinn wäre hingegen ein Kuss zwischen Madonna und, sagen wir: Joan Baez. Man muss abwarten, was geschieht.

Titelbild

Christian Jooß-Bernau: Das Pop-Konzert als para-theatrale Form. Seine Varianten und seine Bedingungen im kulturell-öffentlichen Raum.
De Gruyter, Berlin 2009.
390 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110230475

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