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Bernhard Viel unterzieht Fontane einer historischen Lektüre, aber ist sie auch innovativ?

Von Julia IlgnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Ilgner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Epochenbild, das den ideengeschichtlichen Wandel von der ausgehenden Goethezeit bis zur klassischen Moderne panoramatisch illustriert, wie es die Verlagsankündigung verspricht, bietet Bernhard Viels Studie Utopie der Nation. Ursprünge des Nationalismus im Roman der Gründerzeit nicht, jedoch zeigt sie, wie ein Ideologem deutscher Staats- und Geistesgeschichte epochal die Literatur einer Zeit formen kann.

Der studierte Philologe und Historiker, vor allem jedoch in Feuilleton und Literaturkritik bewanderte Autor Viel sucht Gehalt, Bedeutung, Form und Funktion des Nationalismus reichsdeutscher Prägung anhand ausgewählter Romane der ersten Jahre des jungen Kaiserreichs diskursiv zu bestimmen. Als Exempla dienen ihm Felix Dahns „Kampf um Rom“ (1876) und Theodor Fontanes „Vor dem Sturm“ (1878), beide per definitionem Historische Romane des gründerzeitlichen Realismus. Sie stehen, so die Annahme, als literarische Kinder ihrer Zeit im Dienste der Beglaubigung von Historie und zielen auf Illusionserzeugung, wollen mithin dem geschichtlichen Akt der Staatswerdung im fiktionalen Gewande Legitimation und Kontinuität attestieren. Damit begreift sie Viel als Initiationsromane, als Zeugnisse der Selbstfindung, die, indem sie sich anderen historischen Momenten europäisch-abendländischer Geschichte zuwenden – den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Okkupation (Fontane) oder der römischen Spätantike (Dahn) – doch vor allem über die eigene Gegenwart Aussagen treffen. In insgesamt fünf Kapiteln, die den verschiedenen Symbol- und Motivkreisen, Strömungen und Denkfiguren gewidmet sind, die Nationalismus literarisch konstituieren, leuchtet Viel das politisch-historische Spektrum aus. So erfährt der Leser in einer eng am Text orientierten Analyse viel über den Konnex von Blut, Tat, Ethnie, Volk und Identität oder das konkurrierende Modell eines lebenszugewandten Aktionismus gegenüber dem in Kontemplation und Innerlichkeit sich verlierenden Phänomen von Dekadenz und Degeneration. Das Ergebnis, zu dem Viel am Schluss gelangt, – beide Exponenten des gründerzeitlichen Deutschlands, Fontane wie Dahn, der eine melancholich-reflexiv, der andere emphatisch-affirmativ, schüren in ihrem Werk Empathie für die deutsche Sache und tragen so zur Stabilisation der jungen Nation bei – erscheint vor dem Hintergrund des Argumentationsgangs plausibel und fundiert. Der Literaturliebhaber ist befriedigt, der Literaturhistoriker ist es nicht.

Aus wissenschaftlicher Sicht stellt sich der Ansatz der Untersuchung als wenn nicht fraglich, so doch als problematisch dar. Der Umstand, dass Viels Monografie auf seiner Dissertation, mithin auf einer akademischen Qualifikationsschrift, beruht, rechtfertigt ein solches Paradigma im Folgenden, auch wenn der Grad der Umarbeitung für die Drucklegung im Unklaren bleibt. So sind bei einem derart strittigen und prekären Gegenstand wie dem vorliegenden ein Minimum an methodischen und terminologischen Vorbemerkungen unausweichlich: Welcher Nationalismus-Begriff wird zugrundegelegt? Wie ist der geistesgeschichtliche Kontext, in dem die Texte stehen, konturiert und mit welchen hermeneutischen Verfahren werden diese interpretiert?

Zwar werden vereinzelt die diesbezüglich relevanten Aussagen Ernst Haeckels, Charles Darwins und Friedrich Nietzsches angeführt, auch Richard Wagner und Thomas Mann als geistige Väter zitiert. Eine systematische Verortung der Romane innerhalb dieser Geisteswelt bleibt jedoch aus und wird allenfalls am Ende in synoptischer Form nachgetragen. Ebenso wenig wie der Nationalismus als rein literarische Figuration gefasst werden kann, existiert er als isoliertes historisches Phänomen. Die Ursprünge nationalen Gedankenguts retrospektiv im Roman der Gründerzeit ausmachen zu wollen, hieße das erst jüngst wieder als Kontinuum begriffene lange 19. Jahrhundert (Hobsbawm, Kocka, Osterhammel) zu sedimentieren. Indessen, der Nationalismus ist ein Kind des gesamten Jahrhunderts, geboren spätestens in den Koalitionskriegen, gewachsen in Biedermeier und Restauration genauso wie im Umfeld der 1848er-Revolution. Die Literatur, die ihn propagiert, ist epigonal, historisch oder besser: historistisch. Seine (literarischen) Ursprünge prima vista um 1880 zu datieren, bedarf, sofern sie nicht unzulässig sein will, doch zumindest der Erklärung.

Letztere wäre auch hinsichtlich der Quellenwahl wünschenswert. Zwar begründet Viel seine Entscheidung, bleibt jedoch weitgehend tradierten Gemeinplätzen verhaftet, die wenig Aussagewert besitzen. Insofern weder der „Kampf um Rom“ noch „Vor dem Sturm“ entstehungsgeschichtlich geschweige denn werkgenetisch kontextualisiert sind, ist die Pauschalzuschreibung „gründerzeitliche Musterromane“ fragwürdig. Die Textwahl spiegelt auf hoch- und populärliterarischer Ebene den aktuellen germanistischen Kanon wider, der wenig mit der historischen Verfasstheit des literarischen Marktes der 1870er- und 1880er-Jahre zu tun hat. Inwiefern zwei hinsichtlich Sujet, Komposition und nicht zuletzt sprachlich-stilistischer Gestaltung differente Texte repräsentativ für die ideologische Überformung einer bestimmten literarischen Gattung sind, sei dahingestellt – zumal, wenn sich die Untersuchung primär als Fontane-Exegese entpuppt. Damit trägt Viel jedoch letztlich Ergebnisse zusammen, die zuvor bereits in Detailuntersuchungen durch die Philologie, allen voran die Realismus- und Fontaneforschung, vorbereitet wurden. Einen neuartigen Ansatz oder nichteditiertes Material, das in wissenschaftlicher Hinsicht mit dem Ziel der Neujustierung eine abermalige Behandlung der Romane legitimieren würde, bietet er nicht.

Relativierend muss man, um dem Titel gerecht zu werden, sicher dagegen halten, dass es Viel vorrangig nicht darum ging, in Sisyphos-Akribie eine klassische literaturwissenschaftliche Fallstudie zu schreiben, zumindest nicht in der redegierten, vorliegenden Form. Sein Anspruch wie auch derjenige des Verlags ist ein anderer. Als Band der vergleichsweise jungen „Blauen Reihe“ bei Matthes & Seitz (Berlin) fügt sich die Studie zwar in die Sparte der deutschen und romanischen Geistesgeschichte ein, will sich jedoch nicht als akademische Lektüre im engen Sinne verstanden wissen. Dem kommt neben der attraktiven Aufmachung des Bandes die redaktionelle Maßnahme entgegen, die Anmerkungen und Belege in einem Endapparat zu bündeln.

Mehr noch garantiert jedoch der essayistische Stil Bernhard Viels Lesevergnügen, der den Stoff seinem Publikum in einem Defilée treffsicherer Pointen und provokanten Formulierungen appetitlich zu kredenzen weiß. Insonders der literarisch bewanderte Leser dürfte angesichts der stilistischen Charakteristik dahnscher Prosa als „wagnerhaft-dramatisch“ bis „D’Anunnzio-schneidig“ innerlich frohlocken. So ist die Entwicklung, verstärkt nichtakademische Neuerscheinungen, die an ein breit gefächertes Publikum adressieren sind, in den Sachbuchbereich der Verlagsprogramme aufzunehmen, grundsätzlich lobenswert.

Je nach thematischer Aktualität kann diese Form weitaus mehr Leser erreichen, als es das enge Schrifttum der akademischen Zunft vermag – wie im Falle von Viels Biografie über „Johann Peter Hebel oder Das Glück der Vergänglichkeit“ (2010) erfolgreich geschehen. Prekär wird ein solches Unternehmen allein dann, wenn der Sachgegenstand selbst neuralgische Zonen aufweist. Eine nach außen wissenschaftlich anmutende Studie über das Wechselverhältnis von Nationalismus und Literatur kommt, will sie das Feld weder erratisch noch rhapsodisch bestellen, ohne das notwendige Handwerkzeug nicht aus.

Titelbild

Bernhard Viel: Utopie der Nation. Ursprünge des Nationalismus im Roman der Gründerzeit.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009.
384 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783882217490

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