Geschichtspessimismus und Traditionsverlust

Über Barbara Potthasts Studie „Die Ganzheit der Geschichte: Historische Romane im 19. Jahrhundert“

Von Daniela RichterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniela Richter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihrem Band zum europäischen historischen Roman im 19.Jahrhundert hat Barbara Potthast ein bemerkenswertes Kompendium detaillierter literarischer Analysen vorgelegt. Potthasts Projekt geht aus von einer einheitlichen Grundstruktur des Genres in England, Frankreich und Deutschland, vor allem was das Potential zur künstlerlischen Verarbeitung von politischen Machtverschiebungen und Revolutionsereignissen angeht.

Zwar ist der Annahme wohl zuzustimmen, dass die Französische Revolution von 1789 ein Ereignis von immenser Tragweite in der Politik und vor allem im kulturellen Bereich war, allerdings zieht Potthast davon ausgehend recht verallgemeinernde Rückschlüsse über die Auswirkung dieses Ereignisses auf das gesamte kulturelle Leben in England, Frankreich und Deutschland während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts. In Hinsicht auf die Industrielle Revolution, die Auswirkung des Kolonialismus auf die heimische Kultur und dem Bestreben um nationale Einheit, folgen diese drei Länder sehr weit auseinanderliegenden Tangentialen im neunzehnten Jahrhundert. An dieser Stelle, sowie in ihren Ausführungen zum Niederschlag des Historismus in der Architektur, lässt Potthast einiges an Nuancierung und Differenzierung vermissen.

Nachdem in der Einleitung die Grundlage zum Geschichtsverständnis und zur Kunstform des Historismus gelegt wurde, liefert Potthast im zweiten Kapitel eine umfassende Einführung in die Entwicklung des historischen Romans als Genre. Der historische Roman wird als Zwitterwesen vorgestellt, der weder volle Anerkennung von Seiten der Literaturkritiker noch von Seiten der Historiker findet, der aber dennoch den literarischen Markt des neunzehnten Jahrhunderts dominiert wie kaum ein anderes Genre. Angefangen bei den Romanen Sir Walter Scotts verzeichnet Potthast eine neue Entwicklung, die statt einzelner Figuren nun vielmehr die Geschichte an sich in den Vordergrund treten lässt. In ihren Einzelanalysen wählt Potthast kanonische Werke von Sir Walter Scott, Victor Hugo, Gustave Flaubert, Wilhelm Hauff, Conrad Ferdinand Meyer, Adalbert Stifter und Theodor Fontane, die thematisch das gewaltsame Auseinanderbrechen tradierter sozialer und politischer Strukturen behandeln. Die individuellen Analysen arbeiten durchweg sehr ähnliche Tendenzen heraus, vor allem den verzweifelten Pessimismus, den alle Autoren den sozialen Umbrüchen ihrer Zeit entgegenbringen. Mit Ausnahme von Victor Hugo, am Ende von dessen „Notre-Dame des Paris“ (1831) ein Hauch von Hoffnung im Sinne einer neuen friedlichen Revolution in Gestalt des gerade aufkommenden Buchdruckes erscheint, bescheinigt Potthast allen anderen Autoren eine negative Perspektive und Resignation in Hinsicht auf die Zukunft. Beeindruckend ist Potthasts akribische Untersuchung der jeweiligen historischen Vorlagen zu den einzelnen Romanen und die genaue Herausarbeitung der fiktiven Umgestaltungen, welche die Autoren am Originalstoff vorgenommen haben. Interessant auch der Versuch, für jedes Werk Prinzipien herauszuarbeiten, die an bestimmten Geschlechtergruppen fixiert sind. Bei allen untersuchten Werken dominiert am Ende das väterliche Prinzip, was von Potthast als ein reaktionäres, traditionsgebundenes und Gewalt befürtwortendes Element definiert wird. Das weibliche Prinzip, was interessanterweise bei Flauberts „Salammbô“ (1862) von einer männlichen Kriegerfigur repräsentiert wird, erscheint in den meisten Fällen zu unterliegen, obwohl dieser Umstand an sich im Zeitalter tragischer weiblicher Figuren in Romanen wie „Madame Bovary“, „Anna Karenina“ und „Effi Briest“ einer genaueren Untersuchung wert wäre. Allgemein erscheinen Potthasts Analyseresultate relativ konform für jedes Werk. Es wäre vielleicht interessanter gewesen, Texte miteinzubeziehen, die dem erarbeiteten Schema in gewissen Aspekten widersprechen. Vor allem für die Untersuchung der Geschlechterbezüge oder -prinzipien wäre eine Analyse historischer Romane von weiblichen Autoren interessant. Die Werke Louise Mühlbachs und Annette von Droste-Hülshoffs „Judenbuche“ bieten interessante Gegenmodelle zu Potthasts Schema. In der amerikanischen Germanistik gehören die Analysen von Todd Kontje und vor allem Brent Peterson zu diesem Thema, die bei Potthast keinerlei Erwähnung finden, mittlerweile zum festen Bestandteil der Forschung. Potthasts Arbeit ist vor allem wegen ihrer detaillierten Einzelanalysen ein bemerkenswertes Buch, obwohl in manchen Teilen die Fußnoten den eigentlichen Text an Länge übertreffen. Die Parallelen, die zwischen den Formen der bildenden Künste (wie etwa in der Architektur das Zusammenführen verschiedener Stilelemente) und der Anhäufung und Anordnung historischer Ereignisse und Figuren im Roman gezogen werden, eröffnen neue und interessante Perspektiven. Potthasts Einsichten in die narrative Struktur der Romane sind gleichermaßen erhellend, vor allem wenn sie für die Romane des späteren 19.Jahrhunderts eine zunehmende Auflösung der kausalen Zusammenhänge diagnostiziert, die als Reflexion einer Bewusstseinskrise gedeutet werden. Obwohl sie sich weitgehend an kanonischen Autoren orientiert, stellt Potthasts Fokus auf ein Genre, das traditionellerweise der Populärliteratur zugerechnet wird, eine willkommene Erweiterung der Perspektive in der neueren deutschen Literaturwissenschaft dar.

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Barbara Potthast: Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
347 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783835301962

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