Posttraumatische Sommerfrische

Kay Kuntze hat Carl Maria von Webers „Freischütz“ inszeniert – und dabei die Stresssymptome deutscher Soldaten in Afghanistan im Blick gehabt

Von Peter MünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Münder

Eutins berühmtester Sohn war zweifellos Carl Maria von Weber (1786-1826), der Komponist des „Freischütz“. Seine urdeutsche, romantische Oper (Wilhelm Furtwängler: „Eine Sternsunde der Menschheit“) wird regelmäßig in dieser idyllischen Sommerfrische an der Holsteinischen Seenplatte im Freilufttheater direkt im lauschigen Park am See aufgeführt. Zum 60jährigen Jubiläum der Festspiele gab es auch diesmal wieder eine „Freischütz“-Inszenierung, die allerdings schon im Vorfeld von hitzigen Kontroversen und Protesten begleitet war. Als ruchbar wurde, dass der Regisseur Kay Kuntze, ehemaliger künstlerischer Leiter der Berliner Kammeroper, sich auf eine moderne Version mit Anspielungen auf posttraumatische Stresssymptome deutscher Soldaten im Afghanistan-Einsatz kaprizierte und nicht davor zurückschreckte, in szenischen Bildern ein Exekutionskommando im Einsatz zu zeigen, war die Entrüstung im Blätterwald groß: Durfte man den so liebevoll geflochtenen Jungfernkranz so plump mit Blut besudeln? „Würde sich der Komponist Weber im Grabe umdrehen“? (Ostholsteinische Zeitung) „Hat wirklich niemand den Regisseur gewarnt? Hat ihm niemand gesagt, dass Webers Meisterwerk in Eutin sakrosankt ist?“ fragte das Kultur-Magazin „Unser Lübeck“ besorgt. Jedenfalls schien im Eutiner Umfeld kaum ein größeres Unheil vorstellbar als diese Inszenierung, in der deutsche Soldaten in Tarnjacken über die Freilichtbühne robbten, einen Gefangenen standrechtlich erschossen und der unglückliche Freischütz Max als paralysierter Außenseiter gezeigt wurde, dem ein Pappschild mit der Aufschrift „Versager“ um den Hals gehängt worden war. Erschwerend kam noch hinzu, dass ein halbnacktes Mädchen als Bambi durch den Wald gejagt wurde und einige junge Damen dem verwirrten Max ihren entblößten Hintern zeigten. Man konnte den Sturm im Wasserglas jedenfalls schon viele Tage vor Festspielbeginn mächtig brodeln hören.

Die Premiere in der fast ausverkauften kühl-windigen, aber nicht verregneten Freilichtbühne entlarvte das gesamte Entrüstungstheater über die angebliche Provokationsmasche des Regisseurs jedoch als groteske Provinzposse. Da wurden vor Aufführungsbeginn in ermüdenden Ansprachen Dutzende von Honoratioren begrüßt, Sponsoren (vom Autohaus bis zur Sparkasse) genannt, Abgeordnete willkommen geheißen, die sicher nur dem harten Eutiner Politiker-Kern bekannt waren – Ludwig Thoma hätte seine wahre Freude an dieser Posse gehabt. Und dann gab den Unbedarften der oberste Kulturträger aus dem hohen Norden, Landtagspräsident Torsten Gerdts, noch den guten Rat, das gewagte Bühnenexperiment doch möglichst mit milder Nachsicht zu begutachten, denn es handele sich bei diesem opus schließlich um einen notwendigen Teil der Kulturlandschaft. Offenbar sind die Risiken und Nebenwirkungen beim Verabreichen eines so dubiosen Produkts so hoch, dass sich auch Josef Hussek, der künstlerische Leiter der Festspiele, bemüßigt fühlte, dem Provinz-Publikum zu empfehlen, seine altgewohnten Sehgewohnheiten über Bord zu werfen: „Hier werden Menschen in extremen Lebenssituationen gezeigt, die ihren Glauben an feste Werte verloren haben – aber ich möchte Sie bitten, Ihre Herzen für eine neue Sichtweise zu öffnen – auch für diese zerbrochene Gesellschaft mit ihrem diffusen Angstpotential gibt es schließlich doch noch einen Funken Hoffnung!“

Dermaßen eindringlich auf ein so unerhörtes Kulturerlebnis eingestimmt, konnte sich der Betrachter dann nur über das maßlose Erregungspotential der Eutiner wundern: Leiden Webers Figuren, die ja in den Folgejahren nach dem Dreißigjährigen Krieg agieren, nicht auch unter posttraumatischen Störungen? Sind die ironischen Brechungen ritualisierter Macho-Gesten wie das Saufen oder das Gewese um einen erfolgreichen Probeschuss, der Max die Förstertochter Agathe bescheren soll, nicht absolut nachvollziehbare, stimmige Kontrapunkte?

Das Publikum erwies sich jedenfalls als lernfähig: Man applaudierte kräftig und ausdauernd und bejubelte die großartigen Sängerinnen Martina Welschenbach (Ännchen) und Julia Sukmanove (Agathe) sowie Thomas Mohr (Max) und Mathias Klein (Kaspar). Der befürchtete Eklat fand nicht statt; kein einziger Buh-Laut war vernehmbar. Der ebenso souverän wie sensibel agierende Dirigent der Hamburger Symphoniker, Ulrich Windfuhr, wurde stürmisch gefeiert, nachdem er mit einer ironischen Geste das Publikum nach der Pause aufgefordert hatte, ein Eutiner Volksbegehren gegen das grüne Plastikplanen-Ungetüm über dem Orchestergraben durchzuführen, um bessere akustische Verhältnisse zu gewährleisten.

Lautstark bejubelt hatte der Freischütz-Chor des wilden Heeres die Tatsache, sich jederzeit furchtlos „Durch Berg und Tal, durch Schlund und Schacht, durch Tau und Wolken, Sturm und Nacht, durch Höhle, Sumpf und Erdenkluft, durch Feuer, Erde, See und Luft“ einen Weg bahnen zu können. Das mag schon sein. Der aus Hamburg über die Autobahn angereiste Rezensent bezweifelt jedoch stark, ob die wilden Sänger auch die härteste Provokation des Abends, nämlich den geballten Pulk unbedarfter kulturtragender Eutiner Festspiel-Vorredner, so stoisch ertragen hätten wie das schwer geprüfte „Freischütz“-Publikum.