Blick zurück nach vorn

In „Wie komme ich hier raus“ mixt Kolja Mensing Beobachtungen, Erinnerungen und Tatsachen zu einem vergnüglich bunten Textcocktail über die Provinz

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die Provinz eine Gegend ist, in der „in kultureller, gesellschaftlicher Hinsicht für das Vergnügungsleben o.ä. nur sehr wenig oder nichts geboten wird“, weiß sogar das Wörterbuch. Wer dann noch seine Kindheit und Jugend selbst dort verbringen darf und so auf jede Menge Eigenerfahrungen kommt, fragt sich irgendwann nur noch: „Wie komme ich hier raus?“

Kolja Mensing (in den 1970er- und 1980er-Jahren in Niedersachsen aufgewachsen) hat 27 Texte dazu verfasst, die sich dem „Müll für die Ewigkeit“ genauso stellen wie der „Apokalypse in der Pausenhalle“ oder dem „Blick zurück nach vorn“. Sieben Mal steht auch „Heimatkunde“ auf dem Programm. Sie verhandelt Themen wie das „Eigenheim“, die „Kommunale Selbstverwaltung“ oder die „Gothics“.

Es ist daher weniger eine ichbezogene Befindlichkeitsprosa, auf die man trifft, wie dies der Titel vermuten ließe – sondern es sind relativ faktenreiche Betrachtungen, die einmal mehr, einmal weniger mit dem Komplex „Aufwachsen in der Provinz“ zu tun haben. In ihnen zeichnet Mensing unter anderem auch die Entwicklung des ländlichen Raumes nach. Ausgehend von der Provinz als „segensreicher Landschaft“, in der es „Natur. Frieden. Ruhe. Frische Luft. Heimatgefühle“ gibt, über den Makel, ein „Rückzugsgebiet der Ewiggestrigen“ zu sein, bis hin „zum gelobten Land der neuen Mittelschichten“ zeigt er, was die Provinz alles sein und werden kann. Dort geriert sie sich als „familienfreundlicher Wohn- und Arbeitspark“, da verwandelt sie sich über „künstliche Freizeitstädte“, die eine Parallelwelt aus Kinocenter, Spielotheken, Tanzlokalen, Bistros et cetera bieten, vom „verpuzzelten Bastlerparadies [in] ein modernes und weltoffenes Kreativlädchen“.

Immer wieder ist von der „modernisierten Provinz“, der „neuen Provinz“ oder der „heutigen freieren Provinz“ die Rede, die es von der vermeintlichen Rückständigkeit hin zu einem breiten „Spektrum an Möglichkeiten“ geschafft hat und somit nach gut einem halben Jahrhundert Veränderung über eine Mischung aus „ein wenig Kultur […] und darum herum ein bisschen Rummelplatzatmosphäre“ das zu bieten vermag, was „früher nur großen Städten vorbehalten“ gewesen ist.

Plötzlich wachsen auch hier, „in der peinlichsten Landschaft der Welt“, die man lange Zeit mit nichts anderem als langweiligem Leben, mit dem Verharren „in Wartestellung“ und der „Erfahrung des Stillstands“ assoziiert hat, „nicht nur der Freizeitstress, sondern auch der Freiheitsdruck“. Schuld daran ist die Suburbanisierung in den 1980er- und 1990er-Jahren, die „Freizeit- und Erlebniscenter neben Factory-Outlets und Einkaufszentren“ auf die grüne Wiese bringt: „Die Welt der Dörfer und Kleinstädte [wird] hell und freundlich“. Und mittels „Dorfdiskos“ verwandelt sie sich „in den Nächten in eine weitläufige Partylandschaft mit regem Verkehrsaufkommen“.

Dass dann noch „lieber vom globalen Dorf als von Weltstädten“ gesprochen wird, mit Gerhard Schröder „die familienfreundliche […] westdeutsche Provinz im Berliner Regierungsviertel“ einzieht und die „Fußgängerzonen zu Einkaufsmeilen“, „die neuen Kinozentren […] zu Freizeittempeln“ mutieren, verdeutlicht, wie „weit [sie] über sich selbst“ hinaus zu wirken vermag.

Dieser Prozess, in dem sich quasi „die Bilder von Stadt und Land […] übereinander“ legen, führt Mensing zu der Frage: „Wohin soll man gehen, wenn überall Provinz ist?“

Das Einfachste und Logischste wäre natürlich, dazubleiben – auch wenn es noch so verlockend ist, die Provinz „mit einem einzigen großen Schritt“ hinter sich zu lassen, weil erstens „jede Menge Wege direkt aus ihr hinausführen: Autobahnen, Zugschienen und Datenleitungen“, und weil man sich zweitens unbändig danach sehnt, „in einer Welt [zu] leben, die etwas weniger perfekt ist“.

Doch egal, ob man ihr nun den Rücken kehrt, „um unsichtbar zu werden [oder] um in aller Öffentlichkeit Großstadt zu spielen“, die Provinz begleitet einen dabei. Daher kommt man am besten klar, wenn man versucht, „sie nicht ernst zu nehmen“. Das empfiehlt sich auch für den Umgang mit sich selbst. Schließlich ist eines nicht von der Hand zu weisen: „Die Provinz, das sind wir. Und wir sind noch nicht einmal richtig angekommen“. Was auch nicht verwundert: Denn dort, wo man „eigentlich zu Hause“ ist, gehört man nicht hin. Und den vormals so drängenden Wunsch, „in der Anonymität des Großstadtlebens unterzugehen“, hat nach und nach das Bedürfnis verdrängt, „die kleinen Verhältnisse zu schätzen“. Sie tauchen in Mensings Band, der laut Pressetext „eine komplett überarbeitete Neuausgabe des 2003 erstmals erschienenen Buches“ ist, in vielfältiger Weise auf. Ihre Repräsentanten sind unter anderem „Sozialarbeiter und Gelegenheitskiffer“, der „Mülltonnenschrank“, „Inges Teeladen“ oder „Tonis Bauernstube“, die eigentlich eine Pizzeria ist.

Mensing erzählt flüssig und gewitzt, zeitweise mit einem leicht spöttischen Unterton und in der gewissenhaften Darstellung diverser Sachverhalte mitunter auch etwas trocken. Einiges taucht in ähnlicher Form wieder auf: „Die Trennlinie zwischen Stadt und Land wird heute immer unschärfer“, verrät Seite 35, während man 88 Seiten später liest: „In Bezug auf die Erlebnisqualität wurde der Unterschied zwischen Stadt und Provinz immer geringer.“ Und der Fluchtgedanke zieht sich überhaupt als roter Faden durch die zwischen Abhandlung und Erlebnisbericht changierenden Texte, die allesamt zwischen drei und acht Seiten lang, recht informativ und mitunter auch amüsant zu lesen sind.

Dass sich das ganze Aufwachsen jedoch um nichts anderes dreht als darum, „der Provinz ein für alle Mal [zu] entkommen“, wird auf Dauer aber auch ein wenig langweilig, weil es schlussendlich ja gar nicht zu schaffen ist, egal wo man sich befindet: in der „Vorzeigeprovinz“ oder in Berlin-Kreuzberg, wo man auch nur lebt „wie in einem Dorf“.

Trotz kräftigen „Ortswechsels“ fährt man nämlich in Wahrheit nur im Kreis, was Mensing stets fein zu ironisieren weiß. Anders als jene „Profis“ aus der Provinz, die es locker schaffen, „an einem Abend deutlich über zwanzig Flaschen Bier“ in sich hineinzukippen, ist man ist am Morgen danach nicht verkatert, wenn man das ganze Buch auf einmal durchgelesen hat. Alleine das ist ein Gewinn.

Titelbild

Kolja Mensing: Wie komme ich hier raus?
Verbrecher Verlag, Berlin 2009.
192 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426321

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