Der Zweifel als Lebenselixier

Kathrin Passig und Aleks Scholz ermutigen im gleichnamigen Sachbuch zum „Verirren“

Von Renate SchauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Renate Schauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Verirren hat zu Unrecht ein schlechtes Image. Man sollte es frohen Herzens zulassen, ja es sich sogar vornehmen. Und staunen, welcher Zugewinn sich daraus ergibt. Viele Entdeckungen wären nicht ohne ‚Verirrungen‘ gemacht worden. Also keine Angst vor angeblichem Zeit- oder mutmaßlichem Gesichtsverlust: Das raten jedenfalls Kathrin Passig und Aleks Scholz in ihrem instruktiven Buch „Verirren. Eine Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene“.

Das Autoren-Duo hatte zuletzt mit dem „Lexikon des Unwissens“ Erfolg und begibt sich nun auf das Terrain „Orientierung/Orientierungslosigkeit“. Der muntere Stil gibt dem „Lob auf das Verirren“ Schwung; Fallgeschichten, Anekdoten und Analysen verdeutlichen anschaulich, dass das Thema mehr Facetten und mehr Tiefe hat, als auf den ersten Blick erkennbar wird.

Dennoch verharrt das Auge ungläubig auf manchen Binsenweisheiten – zum Beispiel: „Sorglosigkeit hin, Lässigkeit her, der rechtzeitige Entschluss zum Umkehren gehört zu den wesentlichen Elementen solcher ungeplanten, schlecht ausgerüsteten Unternehmungen.“ Erst zwölf Seiten später wird es philosophisch, wenn das Loslassen eines Konzepts beziehungsweise das Versuch-und-Irrtum-Verfahren erörtert wird. Das Hirn kann sich manches abschauen (respektive zurückerobern) von den Navigationsgeräten, die in unseren Fahrzeugen Dinge tönen wie „bitte wenden Sie jetzt“, bei Nichtbefolgung aber eine neue Route herausfinden.

Überhaupt kann man das Buch als Gegengewicht zu den vielen Wegweisern und Ratgebern verstehen, mit denen wir uns normalerweise richtungs- und erfolgssicher machen wollen. Man kann es als Aufruf dazu interpretieren, die Navigation nicht ständig zu delegieren, sondern selbst immer wieder zu üben – auch um den Preis des In-die-Irre-Gehens. Denn wann ist heutzutage schon das „Aushalten von Ungewissheit“ gefragt? Die hohe Kunst, „aus dem Zweifel Befriedigung zu schöpfen“, wird als Tugend im Alltag oder in Lebensbilanzen selten thematisiert. Vielmehr strebt man ja schnellstmöglich weg vom eigenen Unwissen, was gewiss auch mehr Lob einbringt, als passiv vor sich hin zu dümpeln. Zu guter Letzt ist aber oft der Zeitgenosse am orientierungslosesten, der aufgrund der Verlässlichkeit von Konzepten und Wegweisern das Improvisieren verlernt hat.

Passig und Scholz geben zwar zu, dass Verirrtsein sich mit Zurechtfinden abwechseln muss für ein gelingendes Leben, doch erinnern sie mahnend an die zeitweilige Geduld mit dem eigenen Unwissen als wichtige Fähigkeit. So ist ihr abwechslungsreicher Exkurs über das Verirren immer dann am spannendsten, wenn sich daraus konkrete Impulse für die Lebensbewältigung ergeben. Ansonsten ist es wirklich reine Geschmackssache, ob man dem Thema 256 Seiten widmen muss. Über diese lange Strecke ist es nicht verwunderlich, dass Charme und Witz sich auf Dauer etwas abnutzen und verflachen.

Titelbild

Kathrin Passig / Aleks Scholz: Verirren. Eine Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2010.
268 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783871346408

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