Von Verdun aus

Alfred Döblins Roman „Wallenstein“ handelt auch vom Ersten Weltkrieg

Von Reiner NiehoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reiner Niehoff

Nach Erstem Weltkrieg und nach Westfront klingt der Titel von Alfred Döblins 1916-18 entstandenem, 1919 in Berlin abgeschlossenem Roman „Wallenstein“ zunächst nicht unbedingt. Was sollte auch ein Historienmammut über den böhmischen Generalissimus in Habsburger Diensten samt seinen flächenverzehrenden Heereswanderungen durch Mitteleuropa zu tun haben mit der Blutpumpe Stellungskrieg, die im Februar 1916 vor einer kleinen Stadt an der Maas von der Fünften deutschen Armee unter Kronprinz Wilhelm installiert und an die Zweite Französische Armee Pétains angeschlossen wird? Nichts, möchte man meinen. Gleichwohl ist auffällig, wie genau der Autor Döblin, der seit 1915 als Militärarzt in Saargemünd stationiert ist, während der Niederschrift an seinem barocken Schlachtengemälde doch die räumliche und akustische Nähe zum realen Kriegsgeschehen seiner Zeit notiert. So schreibt er am 29. März 1916 in einem Brief an Herwarth Walden eindrücklich: „Mit den Ohren haben wir die Schlachten um Verdun hier mitgekämpft“, und fährt fort: „orientiere Dich auf der Karte, wie weit wir von Verdun sind, und so stark war die Kanonade tags und nachts, dass bei uns die Scheiben zitterten, dass wir Trommelfeuer unterschieden, ganze Lagen, Explosionen; ein ewiges Dröhnen, Bullern, Pauken am west[lichen] Himmel.“

Derart nachhaltig muss sich Döblin diese Erinnerung eingebrannt haben, dass er noch knapp fünfzehn Jahre später und überhaupt stets, wenn er auf die Entstehung seines Romans über den Dreißigjährigen Krieg zu sprechen kommt, auch von dem Kriegslärm berichtet, der von Verdun her nach Saargemünd herüber gedröhnt habe und auch von den Luftangriffen, die ihn mehrfach mit seinem Manuskript kellerwärts getrieben hätten. Kein Wunder also, dass Döblin sich in den kleinen Anmerkungen über „Entstehung und Sinn meines Buches Wallenstein“ von 1930 zu der Vermutung hinreißen lässt: „Vielleicht ist etwas von der furchtbaren Luft, in der das Buch entstand, Krieg, Revolution, Krankheit und Tod in ihm.“

Es ist, möchte man gleich zustimmen, zumal wenn man sich im „Wallenstein“, ein Beispiel nur, die Beschreibung der Schlacht von Breitenfeld 1631 vors innere Auge und vors äußere Ohr hält. Da heißt es: „Und wie ein Trompeter nach langem Ziehen aus tiefster Brust einen endlos schmetternden Schrei von sich gibt, der sich wie eine Schwalbe in den Wolken verliert, so stießen die Schweden aus vierundfünfzig Geschützen eine Feuerwoge über die Deutschen, eine viertel Stunde, eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei Stunden, die Luft auffüllend mit Fünfpfündern Zehnpfündern, anwachsend und nicht nachgebend mit halben Kartaunen, stampfend, stampfend mit ganzen Kartaunen. Wie eine Mauer, im Fundament erschüttert, brach, lange an sich haltend, schwer das deutsche Heer über das Schlachtfeld hin.“

Wie Döblin hier die Dominanz der Artillerie in den Vordergrund rückt, wie er dann die extreme zeitliche Dehnung des Bombardements durch das viermal wiederholte Wort „Stunde“ und durch die sich viermal verdoppelnden Zeiteinheiten sprachlich nachbaut – „eine viertel Stunde, eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei Stunden“ –, wie er die wachsende Wucht der Geschütze in einen explosiven Chiasmus drängt – „anwachsend und nicht nachgebend mit halben Kartaunen, stampfend, stampfend mit ganzen Kartaunen“ –, und endlich die bodenstürzende Erschütterung durch den Vergleich mit einer einbrechenden Mauer visualisiert, das liest sich tatsächlich viel eher wie ein Bericht von Frontlinie, Trommelfeuer und Materialschlacht als von Tilly und Gustav Adolf. Hinzu tritt noch die Metapher, die das ganze Ereignis übertitelt, die „Feuerwoge“ nämlich, die nun keineswegs im Simplicissimus zu finden ist, wohl aber als „Feuersturm“ oder „Feuerstrudel“ in den „Stahlgewittern“ Ernst Jüngers. Die „Ähnlichkeit“ zwischen 1914/18 und dem Dreißigjährigen Krieg, die Döblin in „Entstehung und Sinn“ als den Ausgangspunkt seines Romans „Wallenstein“ bestimmt hat, hier wird sie förmlich greifbar.

Eine Ähnlichkeit besteht zwischen den beiden Kriegen über alle historische Distanz hinweg tatsächlich. Denn der Dreißigjährige Krieg ist ja nicht schlicht ein Krieg unter anderen gewesen, sondern exakt jenes europäische Trauma, das die gesamte weitere Kriegsgeschichte bis zum Ersten Weltkrieg hin nachhaltig verfolgen und bestimmen sollte. Die flächendeckende Devastierung ganzer Landstriche, die strategisch betriebene Plünderung und Zerstörung von Städten und Dörfern, die brutalen Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, die neuartigen, sich zusehends auf Distanz zurückziehenden Waffentechnologien – Muskete, Radschloßgewehr, Mörser, Orgelgeschütz –, die Verschiebung der Kampfhandlungen aus den territorialen Peripherien in das Zentrum Europas beherrschten die Militärgeschichte so nachhaltig, dass sie es über 250 Jahre vor allem auf eines abgesehen hatte, auf die Limitierung eben jener unbegrenzten Gewalt, die der Dreißigjährige Krieg zur Blüte gebracht hatte.

Die Konzentration auf einen definierten Raum außerhalb der Städte, die Beschränkung auf die Konfrontation zweier Heere, der klar definierte Status der Kämpfer, die Zuspitzung der militärischen Auseinandersetzung auf die Entscheidungsschlacht – das alles wurde nur deshalb zur Grundlage europäischer Kriegskonventionen, weil eine Neuauflage anno 1618-1648 unter allen Umständen vermieden werden musste. Erst der Erste Weltkrieg sollte, besonders durch den Einsatz neuartiger oder erstmals kombinierter Waffensysteme – den Tanks wie dem Mark IV, den Flugzeugbombern und Jägern, dem Maschinengewehr, den 42 cm Mörsern, dem Gas – diese Limitierung wieder aushebeln. Eggenbergs Satz aus dem „Wallenstein“: „Man kann Gewalt nicht begrenzen“ stellt genau den Zusammenhang her, der zwischen 1618-1648 und 1914-1918 besteht. Hätte man für den Ersten Weltkrieg also eine Epoche finden wollen, in der er sich militärisch hätte spiegeln können, dann wäre das sicher der Dreißigjährige Krieg gewesen. Döblin wollte.

Warum aber hat Döblin, so muss man sich fragen, dann nicht gleich über den Ersten Weltkrieg geschrieben? Warum arbeitet er nicht an einem der kurrenten Kriegstagebücher oder an Sanitätermemoiren? Warum wählt er den Umweg über die Geschichte? Was erbringt ein Rückgriff auf historische Ereignisse, deren Ursprünge und Konstellationen anno 1920 ebenso wenig präsent sind wie jene 650 Akteure, die Döblin namentlich auftreten lässt? Warum diese äußerst akribische, bibliothekarische Vor- und Exzerptarbeit, deren Bibliografie allein 54 teils mehrbändige Werke umfasst, wie Erwin Kobel nachgewiesen hat? Warum diese expansive Detailarbeit, die nicht nur die historischen Zusammenhänge dokumentengetreu rekonstruiert, sondern auch die Anemone auf dem weißen Wams Ferdinands, den silbernen, wasserspeienden Delphin in den höfischen Gemächern, den Zuckerzweig bei der Doktorfeier und gar noch das Ohr Wallensteins. Was hat das Ohr Wallensteins mit Verdun zu tun? Warum diese besessene historische Detailarbeit, wenn das Unglück doch so nah und so real vor der Haustür liegt?

Die Fragen erfordern, dass ich mich dem Roman über den Umweg ausgetretener Pfade nähere. Denn Döblin hat ja für seinen Kriegsroman nicht nur die Historie, sondern auch die Literatur an seiner Seite. Es ist zunächst Gustave Flauberts 1862 publizierter Schlachtenroman „Salammbô“ über den Söldneraufstand vor Karthago 241 vor Chr., an dem sein Autor vier Jahre intensiv arbeitete und dessen „tobsüchtige Sammlung von Archäologie“ Döblin in „Der Epiker, sein Stoff und die Kritik“ (1921) – unmittelbar nach Publikation des „Wallenstein“ also – überaus wertschätzte. Das liegt auf der Hand, lädt doch auch Flaubert als wahrer Exzerpist von Gottes Gnaden in ungekanntem Maße seinen Roman durch quellengestützte Detailfunde geradezu manisch auf. Sein Ziel: das gängige Muster des historischen Romans Marke Chateaubriand auszuhebeln, die Trennung zwischen Dekor und Handlung aufzuheben und die Rückprojektion scheinbarer psychologischer Universalismen in die Geschichte zu blockieren; Döblin wird in seinen „Bemerkungen zum Roman“ 1917 ganz ähnlich argumentieren. Bei aller panoramatischen Anlage ist es dabei gerade das überpräzise Detail, die Großaufnahme des Miniminen, die den Unterschied macht: die rituell gekreuzigten Löwen, die blau bemalten Ohren der Elefanten, die mit Anis bepuderten Brote, die genaue Lage der Stadtteile Karthagos vom Meer aus gesehen – hinter jedem Satz Flauberts steht mindestens eine imaginäre Fußnote. Man darf nicht vergessen, dass Flaubert ein Zeitgenosse des Kunsthistorikers Giovanni Morelli ist, der ein Original Tizians von seiner Kopie nicht durch den Stil, sondern durch die Bilddetails von Finger oder Ohr zu bestimmen wusste (und dadurch, nebenbei gesagt, Freud für seine Theorie der Fehlleistung gute Dienste leistete). Es ist also das Detail, das die romanhafte Projektion unterbindet und zugleich die „Geschichte“ zu einem über-realen Phantasticum werden lässt.

Dafür bezahlt Flaubert aber einen nicht geringen Preis: Die Geschichte, die sich fantastisch selber gleichen darf, verschließt sich historisch wie in Bernstein. Einsichtig, dass Döblin auf Flauberts Detailismus rekurrieren musste, einsichtig aber auch, dass ihm der historische Eskapismus des „Salammbô“ -Autors nicht genügen konnte.

Deshalb greift Döblin auf ein zweites Modell zurück, das nun mit dem umgekehrten Anspruch auftritt, mit dem Anspruch der Abschaffung der Geschichte in der Kunst nämlich und mit der Proklamation einer von allen Fesseln der Syntax befreiten Ästhetik, die sich radikal mit den neuesten technischen und vor allem militärischen Entwicklungen und ihren Funktionsmechanismen assoziieren wollte, auf den Futurismus also. Dabei verzichtet Döblin im „Wallenstein“ allerdings auf das futuristische Arom von Tank, Flugzeug und Geschoss-Krachbumm, übernimmt aber und vor allem das ästhetische Verfahren einer Dynamisierung des sprachlichen Materials, nicht ohne jedoch dessen symbolistische Zwangsjacke: Vergleich und Metapher, zugleich kritisch abzuschälen.

Im „Wallenstein“ verbindet Döblin nun beide Modelle. Er dynamisiert Flauberts Konzept durch die Errungenschaften eines gegen den Strich gebürsteten Futurismus und bringt ihn auf den neuesten ästhetischen Stand, um umgekehrt dem Futurismus jene archäologische Tobsucht zuzusetzen, die die beschworene Wirklichkeitsnähe von innen heraus fantastisch erweitert. Er überführt Flauberts Detailpräzision in die Aufzählung, die seinem Roman zugleich Differenzierungen wie Quantitäten zuschaufelt, wie er die aufs Substantiv fixierte Dynamisierung des Futurismus auf die Syntax und besonders auf die Verben überträgt; mit ihrer Hilfe werden die Körper, die Dinge, die Massen, die Diskurse und die Reden von beständigen Bewegungs- und Produktionsgeräuschen begleitet; sie sind nicht stabil und nicht zur sauberen Aussage gereinigt, sondern befinden sich in aktiven Zwischenzuständen, in brüchigen Übergängen. So wird selten schlicht geredet, stattdessen aber umso öfter gegrunzt, gelacht, gegluckst, gestammelt, geknirscht, geweint, geschäumt, geschrien oder gebrüllt, gekeift und geröchelt. Geschichte gerät dadurch gewissermaßen in den Zustand des Porösen oder Präverbalen. Sie erzeugt zwar semiotische Einheiten, aber keinen Sinn; sie bringt zwar politische, theologische, ökonomische Diskurse hervor, die ununterbrochen Dominanzansprüche anmelden, sich dabei aber gegenseitig ebenso kombinieren und steigern, wie sie sich blockieren und durchkreuzen. So entsteht kein Historiengemälde, sondern ein Textprozess asynchroner Materialbewegungen, die sich auf immer neue Handlungs-Träger verteilen, ohne doch als von ihnen gesteuert zu erscheinen.

Die Folge für Döblins Roman ist bedeutend. Denn durch diese seltsame Materialschlacht, die er mit und in seinem Material aufführt, kann Döblin nun den Krieg selber als eine Überlagerung konkurrierender, gewissermaßen ungesättigter Prozesse begreifen, die sich nicht nur zu keinem geschlossenen Bild, sondern auch nicht zu einem geschlossenen Krieg zusammenschließen. „Krieg“, so schreibt Döblin in „Entstehung und Sinn meines Buches Wallenstein“, „ist sehr, sehr vieles in einem; vor allem grenzenlose Dämonie und Entfesslung, Chaos; die Welt, bevor das Gotteswort hineinfiel; – daneben ist Krieg Widerstreben gegen den gräßlichen Dämon, Behauptung der menschlichen Überlegenheit (ach, es ist jetzt eine Unterlegenheit!), – daneben ein tollgewordener Wirtschaftsprozeß, – daneben politisches Hetzen und Intrigenspiel.“ Den Krieg, so Döblins Einsicht, gibt es nur im Plural. Und nicht nur an der Front.

Anders gesagt: Durch die Doppeltradition Flaubert / Futurismus und durch den Umweg über den historischen Roman umgeht Döblin gerade die Abspaltung des Krieges als isoliertem, gar rein militärischem Phänomen. Er umgeht die Vakuumisierung des Kriegsgeschehens aus der Perspektive heeresleiterlicher Rechtfertigungsstrategien oder frontoffizierlicher Erlebnisberichte, die sich vor allem zwischen 1918 und 1923 seis ihre Legitimität, seis ihre Sondererfahrungen als historische oder existentielle Kriegswahrheiten zuschrieben. Beides wird bei Döblin um Sinn und Verstand gebracht: die strategischen Absichtserklärungen werden im „Wallenstein“ durch permanent umgeschichtete Partei-Allianzen als rein dogmatische (Döblin) Auflagen sichtbar; auf ein irgend „inneres Erlebnis“ gar lässt er sich schon vorab nicht ein.

In seinem dynamisierten Material erscheint „der Krieg“ vielmehr als eine explosive Überlagerung von militärischen, technischen, ökonomischen, diskursiven, kommunikativen Konkurrenzen, die sich zwar gegenseitig entwerten, die umfassende soziale Dispersion aber desto intensiver vorantreiben. Deshalb zerfällt der „Wallenstein“ auf der Figurenebene in eine Vielzahl kleiner, rivalisierender Gangs auf der einen Seite, und in die Masse frei vagierender Einzelner andererseits, die in keine homogene Ordnung einzufassen sind und in den Sog rebellierender Banden und Rotten geraten. Keiner, der diese Fluidisierung querläufiger und ungerichteter Bewegungen, diesen Massensog zum Formlosen, Ordnungslosen, Haltlosen zur Grundlage seiner Romane zu machen gewusst hätte wie Döblin. Die Dynamisierung des Materials und der umfassende Zerfall einer homogenen Ordnung, die sich zu Beginn des Romans noch festlich feiert, konvergieren in einem Krieg, der die ganze Gesellschaft erfasst hat und von ihr nicht zu trennen ist. Unschwer zu erkennen, dass Döblin hier weniger das 17. Jahrhundert als seine eigene Gegenwart zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik ästhetisch im Blick hat.

In diese Verschränkung von avantgardistischer Technik und sozialer Dispersion setzt Döblin nun seine zwei Protagonisten, Ferdinand und Wallenstein, wie zwei Fermente in einen Versuch ein; sie bezeichnen zwei ineinander verschränkte, gleichwohl polare Lösungen oder Lösungsversuche im Rahmen einer grundlegenden sozialen Krise, die von innen nicht mehr aufzufangen ist.

Gut zehn Jahre später wird Georges Bataille derlei historische Situationen zu analysieren versuchen. In Krisenzeiten homogener Ordnungen – Ordnungen also, die sich durch Vernunft, soziale Koordination, Sprache und Arbeit stabil halten – treten, so Bataille, regelmäßig monarchische Revivals auf, die die ökonomisch und politisch ausgerenkte soziale Homogenität nicht durch demokratische Spielformen der Verständigung wieder herzustellen versprechen, sondern durch deren Gegenteil: durch heterogene, charismatische Leader nämlich. Diese Leader beziehen ihre Attraktivität aus jenen ambivalent-affektiven Bereichen, die den Menschen zwar zum Menschen machen: Der Tod, die Gewalt, die Erotik, die Verausgabung, die aber in die homogene Ordnung nicht einzupassen sind, entziehen sie doch dem Menschen sein vernünftiges und diszipliniertes Verhältnis zu sich und zur Welt der Dinge.

Der Leader nun erwirbt zwar sein magnetisches Prestige aus seiner heterogenen Herkunft, stellt aber das ambivalent Heterogene in den Dienst der sozialen Ordnung; er verhärtet es imperativ, indem er lediglich die jetzt vereinheitlichende Gewalt zur Geltung bringt, die niederen Entmächtigungen aber, die den sozialen, ökonomischen, erotischen Selbstverlust bedeuten, ausscheidet. Zwei historische Typen stehen nach Bataille dafür exemplarisch ein: Der Militär, der als outlaw aus dem Schmutz der Schlachten auftaucht und aus zersprengten Einzelnen ein diszipliniertes, geometrisiertes und uniformiertes Heer zusammenführt, und der Monarch, der von der Spitze aus die Gesellschaft hierarchisch und glanzvoll pyramidisiert. Anders gesagt: Wallenstein, der Generalissimus, und Ferdinand, der schon im Titel seine Andersheit ostentativ vorweist. Tatsächlich bedingen sich bei Döblin beide in ihrer Polarität gegenseitig: Wallenstein, weil er von Ferdinand den Glanz erhält, den nur der Monarch ihm geben kann; und Ferdinand, der von Wallenstein die Macht erhält, die dem Dreck der Schlachtfelder entspringt. Zusammen ergeben sie das ideale Krisenpaar und sind sich deshalb auch in ehelicher Hassliebe zugetan: wie Frau und Mann, sagt Ferdinand einmal.

Wallenstein als einen solchen heterogenen Charakter zu bestimmen, mag zunächst nicht unbedingt einleuchten. Ist er nicht das rationale Finanzgenie, als das ihn Döblin und die Rezeption ziemlich bald durchschaut haben, der Kriegsgewinnler, der gerade nicht verausgabt, sondern akkumuliert? Ist er nicht der Ökonom und der Organisator des Krieges? So mag es scheinen, so ist es aber nicht. Denn von Beginn an gilt Wallenstein allen, die irgend mit ihm zu tun bekommen, als der heterogene, der fremdartige, der niedere Geselle schlechthin, mit dem man so wenig in Berührung kommen möchte wie mit dem Leibhaftigen. Sozial ist er der Emporkömmling, psychisch ein Albtraum, erotisch ein Vergewaltiger, religiös ein Satan und physisch das undomestizierte Tier. Es wird sich kaum eine andere Romanfigur in der Literaturgeschichte finden lassen, die derart viele erniedrigende Zuschreibungen, Namen, Attribute verbuchen darf wie der Friedländer bei Döblin. An Geld liegt ihm, dem angeblichen Spekulanten, tatsächlich nichts; für sein Projekt setzt er, ohne mit der Wimper zu zucken, sein gesamtes Vermögen ein; ein Vabanquespieler und Freund der fallenden Würfel. Er kleidet sich nicht in Grau, sondern inszeniert sich als Sonnenkönig und umgibt sich mit Bildern von Cäsar, Alexander und Hannibal. Er ist ebenso abscheulich wie attraktiv: abscheulich attraktiv.

Und er setzt diese seine heterogene Herkunft aus dem Morast und der Verausgabung nun zur Homogenisierung der Gesellschaft ein; sein erklärtes Ziel ist es, Frieden zu schaffen, das Land nach innen zu einen und nach außen gegen den Türken zu stabilisieren. Dafür setzt Döblins Wallenstein wiederum auf die Verausgabung, aus der er eine politische Waffe macht. Denn zustande kommen soll sein Friedensprojekt, erstaunlich genug, nicht durch den militärischen Sieg, sondern durch eine so ungeheure Erschöpfung aller materiellen Ressourcen, dass kein Rest für den Krieg selber bleibt. Er verwendet das Heer, diese perfekt funktionierende, aber völlig unproduktive Maschinerie, zu nichts anderem, als zusehends kampflos alle Überschüsse so nachhaltig zu „erschöpfen“, dass nichts mehr übrig bleibt, was im Kampf verheizt werden könnte. „Der hatte etwas Unmenschliches vor: Ermattung“, heißt es im Roman.

Wallenstein erledigt die destruktive Gewalt unregierter Konkurrenzkämpfe, indem er verzehrt, was die Gewalt benötigt, um sich überhaupt entfachen zu können. Wo nichts mehr zu zerstören ist, da ist nichts mehr zu zerstören. Ruhe herrscht im Land. Wie die tibetanische Religion alle Überschüsse nicht in aggressive Expansion transformiert, wie das Christentum oder der Islam, sondern in einem riesigen religiösen Beamtenkopf implodieren lässt, so Wallenstein mit seiner Militärmaschinerie. Döblins Generalissimus ist der Dalai Lama des Dreißigjährigen Krieges: Alles erschöpfen, nichts tun, und alles wird gut.

Für eine Heroisierung reicht das gleichwohl nun nicht. Denn Döblin erkennt klarsichtig, dass Wallenstein seine seltsame Friedensmission, sein „Experiment“, will er es durchsetzen, doch überaus imperativ aufladen muss. Denn wenn er auch die Destruktionswucht des Krieges durch ein Heer ablaufen lassen möchte, das wie eine Herde Schafe Mitteleuropa bis auf Granit und Basalt abgrast, so muss er doch zugleich die militärische Disziplin absolut setzen, die das geduldige Grasen des Kämpfers erfordert. Sie, die Disziplin, muss auch ohne Kampf perfekt funktionieren; ordnungslose und undisziplinierte Elemente werden denn auch regelmäßig liquidiert. So setzt Wallenstein der entgrenzten Gewalt des Krieges zwar die entgrenzte Disziplin entgegen, muss dafür aber zwangsläufig das ganze Land einer totalen Kontrollpsychopathie unterwerfen, die erst Stalin und Hitler zur vollen Blüte bringen werden. Döblin: „Die Sprache des neuen Herrschers Armut Entrechtung Versklavung. In Tierställe verwandelten sie das Heilige Reich.“ Wallenstein wird zum „Größenwahnsinnigen“, zum „Tyrannen“. So zeichnet sich in Döblins Roman eine historische Situation ab, die nicht nur auf Verdun reagiert, sondern diagnostisch bereits über das Ende der Weimarer Republik hinausweist.

Auch seinen Ferdinand lässt Döblin, das liegt auf der Hand, nicht aus den Reichen demokratischer Konsensgesellschaften aufsteigen, sondern aus denen der exuberanten Repräsentation und der genealogischen Machtfülle. Ferdinand ist die Drohne im Habsburgischen Bienenstaat; er ist der Souverän, und als solcher soll er denn auch die zersplitternden Einzelinteressen in die Ordnung bringen. Wird Wallenstein zum Magneten der Massen, so Ferdinand zum Magneten der auf politische Dominanz drängenden Diskurse, in deren Dienst er sich stellen soll. Die Jesuiten und der Papst wollen ihnen als katholischen Diener, Wallenstein will ihn als absoluten Monarchen, der Hof und die Spanier wollen ihn als potenten Habsburger, England und Max wollen ihn als Exekutor der Pfalz, Gustav Adolf will ihn als Gegner. Wallenstein setzt ihn ökonomisch unter Druck, der Papst theologisch, der Hof kommunikativ und Max, der alte Flagellant, erotisch; alles übrigens austauschbar. Weil er zu all dem nicht taugt, gilt er als der Schlemmer, der Nichtstuer, der alberne, heitere Mensch.

Genau da setzt Döblins Umwertung ein. Er versteht Ferdinand nicht als schwächlichen Herrscher, sondern als einen, der seine heterogene Souveränität von jeder Vermischung mit imperativen oder homogenen Zwängen abzulösen, zu entmischen versucht. Aus der Akte Ferdinand liest Döblin den Wunsch des angeblichen Banketteurs heraus, nicht der Souverän zu sein, der eint, sondern souverän zu sein, also eine souveräne Existenz zu führen, und das heißt für Ferdinand: sich allen Zwecken und Zwängen entziehen zu können.

Diese Suche nach Souveränität meldet sich zunächst in den melancholischen und träumerischen Absenzen an, die eskapistisch erscheinen mögen, für Döblin aber die Suche im Stadium der halbbewussten Sehnsucht markieren. Erst mit dem Anwachsen seiner imperativen Souveränität aber, die Wallenstein ihm beschert, gewinnt auch die souveräne Existenz Konturen, auf die er aus ist; sie besteht nicht in der Komprimierung von Macht, sondern in deren Preisgabe. Diese Preisgabe, so versteht es Döblin konsequent, ist zunächst eine externalisierte Preisgab. In Regensburg entlässt Ferdinand seinen General nicht, weil es politisch richtig, sondern weil es souverän gehandelt ist. Das wäre noch ein rein dezisionistischer Akt, aber Ferdinand geht weiter und verschenkt die Macht, die er als Souverän selber besitzt; überhaupt wird er ein großer, geradezu planloser Verschenker. Bis er diesen Prozess gewissermaßen internalisiert, und sich selbst verschenkt: Er verschenkt letztendlich auch die Macht, die er über sich selbst besitzt. Wie nur die gegerbten alten Herren de Sades tritt er Schritt für Schritt über von der imperativen Verfügungsgewalt in den Zustand einer intentionslosen Apathie. Das aber nicht als Entschluss oder Willensakt, das folgte einem Ziel und wäre der Zweckoperationalität geschuldet, sondern als Nachgeben an ein faszinierendes Gleiten, das Bataille der souveränen Existenz grundsätzlich zuschreibt. „Wie auf Wellen, gleitend, sinkend, gehoben“, heißt es im „Wallenstein“ einmal, und kurz vor Ende: „Er glitt an einer Stange entlang“.

Entgleitet Ferdinand also zusehends den Zwängen der Koordination, der Politik, zudem der hetero- und homosexuellen Erotik, so auch denen der Kommunikation, wenn auch nicht immer ohne eine gewisse Komik, die bisweilen dann doch das Maß souveränen sprachlichen Sich-Entziehens übersteigt. Sätze zumindest wie: „Der Kaiser, träumerisch herumwandernd, an den Puscheln seines Schlafrocks spielend: ‚Es nimmt alles so guten Verlauf. Wenn ich nur wüßte, wovon Ihr redet.‘“, oder: „Was war das? Bald den besiegen, bald den besiegen. Jetzt wieder den Friedland. Jeder will die Macht haben.“ Solche Formulierungen lassen unschön an jenen kaiserlichen Unhold des Ersten Weltkriegs, an Franz Josef, denken, der angesichts einer Kochkunstausstellung vor einem Aquarium – so zitiert ihn Karl Kraus in seinen „Letzten Tagen der Menschheit“ – zu sagen wusste: „Ah, Goldfische. Die schwimmen ja wie natürlich.“ Mag sein, dass Döblin fortschreitende Souveränität bisweilen mit fortschreitender Senilität verwechselt hat.

Dennoch: Um Ferdinands Weg in die souveräne Existenz ganz deutlich werden zu lassen, schreibt Döblin seinen Souverän schließlich aus der Machtzentrale selbst heraus. Er lässt ihn wie einen neuen King Lear zunächst sozial absteigen zu den Fechtbrüdern und Zahnbrechern, er lässt ihn physisch ausmagern und einkerkern, ihn psychisch halluzinieren und ihn sprachlich schließlich ganz in präverbale Reaktionen sich zurückziehen. Eingebettet in die liquide gewordenen Massen, projektiert Döblin mit Ferdinand kein neues imperativ-soziales Ordnungskonzept, sondern eine affirmierte psychische Deregulation, einen lustvollen Selbstverlust, der endlich die Angst vor der tausendfüßigen Entmächtigung selber verliert, dafür aber ein eigentümliches Zwischenreich gewinnt: einen seltsamen Dschungel im schwarzen Herzen Europas. Da haust ein struppiges Wesen, das, wie später die surrealistischen Fantasien von Stiermensch und Kentaur, die Grenzen zwischen Humanum und Animal verschwimmen und den Tod, der nicht der Tod der Schlachtfelder ist, als orgiastische Vereinigung erscheinen lässt.

Weist also Wallenstein voraus auf die politischen Infernalen der 1930er-Jahre, so Ferdinand auf die ästhetisch abtrünnigen Surrealen, die das stählerne Gehäuse des disziplinär erhärteten Subjekts auf den geheimnisvollen Inseln innerer Deregulierung um seine Macht bringen wollen. Michel Leiris vermerkt 1929 in seiner Rezension „L’ile magique“ über W. B. Seabrook und sein erstaunliches Buch „Geheimnisvolles Haiti“: „Er sieht vor allem das intensive Begehren, das jeder Mensch haben sollte, seine Grenzen zu durchbrechen, auch auf die Gefahr hin, mit den Tieren, den Pflanzen, den Mineralien zu verschmelzen, im großen Schatten des Außen zu versinken, das wirklicher und lebendiger ist als er.“ Spült es also Wallenstein nach Berlin und Nürnberg, so landet Ferdinand schlussendlich auf Haiti. Aufgebrochen aber sind beide von Verdun aus.

Anmerkung der Redaktion: Der Vortrag wurde am 19. Juni 2009 im Rahmen des Internationalen Alfred-Döblin-Kolloquiums in Saarbrücken gehalten. Die ausgearbeitete und erweiterte Druckfassung findet sich in dem Kongressband:

Ralf Georg Bogner (Hg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Saarbrücken 2009. Im Banne von Verdun. Literatur und Publizistik im deutschen Südwesten zum Ersten Weltkrieg von Alfred Döblin und seinen Zeitgenossen. Bern 2010: Peter Lang.

Ralf Bogner sei für die Zustimmung zur Publikation herzlich gedankt.