Ein Ratgeber für ein richtiges Leben

Lew Tolstois Textsammlung „Für alle Tage“

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lew Tolstois Tod war vor 100 Jahren eines der ersten großen Medienereignisse. Erstaunlich zeitnah wurde in alle Welt hinaus über Tolstois Flucht von seinem Landsitz Jasnaja Poljana und über seine letzten Stunden auf dem kleinen Bahnhof von Astapowo berichtet. Im Film von Michael Hoffmann mit dem schönen und doppeldeutigen Titel „The Last Station“ haben diese Ereignisse unlängst noch einmal einen Widerhall gefunden. Tolstoi war gerade in seinen späteren Lebensjahren zu einer moralischen Autorität geworden, die man ernst nahm und der man auch dann zuhörte, wenn man dem Schriftsteller nicht in allem zustimmen mochte.

Allerorts wird in diesem Jahr des großen Schriftstellers gedacht, woran selbstverständlich auch der Buchmarkt Anteil haben möchte. Der C. H. Beck Verlag hat nun in einem opulenten Prachtband zum ersten Mal die Ausgabe letzter Hand von Lew Tolstois „Für alle Tage. Ein Lebensbuch“ auf Deutsch herausgegeben. Um dieses Buch zu lesen, müsste man sich ein Jahr lang Zeit lassen können. Der Foliant hält für jeden Kalendertag Einträge bereit, die um Wochen- und Monatslektüren ergänzt werden.

Der Band führt in Tolstois Gedankenwelt ein und ist zugleich eine Synthese seiner Überzeugungen der späten Jahre. Es ist die erklärte Absicht der Textsammlung, den Lesern Lebensratschläge und -anweisungen zu geben. Dabei ist Tolstoi selbst nur für eine Minderheit der Texte als Autor verantwortlich. Die weitaus meisten Aphorismen, Erzählungen, frommen Gedanken, Tagebuchausschnitte, religiösen und philosophischen Ausführungen und Sinnsprüche hat er bei anderen entlehnt: Weise Menschen wie Konfuzius, Laotse, Mark Aurel oder Blaise Pascal sind mit ihrem Werk vertreten, aber auch Denker wie Ralph Waldo Emerson, John Ruskin und Henri-Frédéric Amiel. Gerade aus religiösen Quellen schöpft Tolstoi besonders gerne, wobei neben die Bibel auch der Talmud oder persische und buddhistische Quellen treten. Selbst Mohammed oder Calvin kommen – wenn auch selten – zu Wort. In diesem ganzen Textkonvolut kann ein heutiger Leser durchaus auch interessante Entdeckungen machen. Die Stücke legen offen, welche Stoßrichtung Tolstois Denken hat, wem er Anregungen verdankt und welchen Einflüssen er ausgesetzt ist.

Tolstois Textsammlung für ein „richtiges“ Leben deckt ein weites inhaltliches Spektrum ab. Immer wieder geht es um Liebe und Nächstenliebe. Aber auch dem Glauben, dem Gebet, dem Vegetarismus oder der Rolle von Kunst und Literatur werden Tage im Jahreskreis gewidmet. Gerade im Hinblick auf die Bedeutung des Lesens zeigt sich Tolstois eigene Entwicklung: Er verwirft immer öfter die beliebige Lektüre und spricht sich zugunsten der wesentlichen Texte aus. Er plädiert aber auch dafür, nicht zu viel zu lesen, damit der Mensch die Stimme vernehmen kann, die in ihm selber ruft. Schon der erste Januar ist dem Thema des „wahren“ Wissens gewidmet. Sein umfassendes Projekt zeigt auch, wie Tolstoi das ethische Element mit der Zeit deutlich höher gewichtete als das ästhetische.

Tolstois Ratschläge und Ermahnungen sind in mancher Hinsicht bedenkenswert, und dies oft gerade in jenen Fällen, wo sie zunächst nicht so recht in die heutige Zeit passen mögen. So lehrt Tolstoi etwa Werte wie Nächstenliebe und Demut, die nicht kapitalisierbar sind, die aber für ihn geradewegs in den Kern des Christentums führen. Immer wieder manifestiert sich Tolstois Bestreben, die christliche Lehre vom institutionellen Ballast zu befreien und die ursprüngliche, einfache Botschaft Jesu wieder freizulegen. In diesem Sinn hält mancher Text auch dem heutigen Menschen den Spiegel vor. Nicht immer aber vermag Tolstois Lebenslehre auf fruchtbaren Boden zu fallen. So kommen einem etwa seine Ausführungen zu Sexualmoral und der Rolle der Frau heute reichlich antiquiert vor. Und manches – etwa seine radikale Absage an privaten Bodenbesitz – erscheint im Nachhinein als idealistisch und utopisch.

Bezeichnend für das ganze Buch ist Tolstois Arbeitsweise: Er hat die fremden Quellen oft aus dem Gedächtnis zitiert oder aber ganz bewusst in sie eingegriffen, damit seine Absichten deutlicher zum Ausdruck gelangen. Tolstoi ist hier viel weniger Autor als Herausgeber und Kompilierer. Während er so vorgeht, gibt er den einzelnen Stücken zugleich einen einheitlicheren, getragenen und besinnlichen Ton. In aller Regel aber umrahmt Tolstoi die Einträge zu einem Tag dann doch mit ein paar selbst formulierten Gedanken, die wohl das gewünschte Verständnis der übernommenen Texte sicherstellen sollen.

Einer Lektüre des Buches von Tag zu Tag widerspricht allerdings die Aufmachung der vorliegenden Ausgabe. Der dicke, schwere und großformatige Band eignet sich weder als Bettlektüre noch für die morgendlichen Minuten der Besinnung in der Straßenbahn. Man muss das Buch schon eher wie eine Tischbibel behandeln, so wie früher der Hausherr nach getaner Arbeit der versammelten Familie zur allgemeinen Erbauung aus dem Wort Gottes vorlas. Schwerer wiegt aber etwas anderes: In seinen späten Jahren wollte Tolstoi seine Texte in kleinen und preisgünstigen Ausgaben möglichst breit unter das Volk streuen. Doch der luxuriös gestaltete und teure Band dürfte heute kaum das Volk, sondern schon eher die gebildeten Russlandliebhaber erreichen. Dabei ist das Buch im Übrigen weit davon entfernt, ein Russlandbuch zu sein.

Die Entstehungsgeschichte des Bandes ist einigermaßen komplex, wird aber in einer editorischen Notiz von Christiane Körner ausführlich dargelegt. Schon 1906 lag eine deutsche Übersetzung von Eugen Heinrich Schmitt und Albert Škarvan vor, die allerdings auf einer ersten, zensierten russischen Variante beruhte. Tolstoi hat die Textsammlung später überarbeitet, und die nun vorliegende deutsche Übersetzung basiert auf der Ausgabe letzter Hand. Abgerundet wird der Band durch ein persönliches, wenn auch etwas schwärmerisches Geleitwort von Volker Schlöndorff sowie ein informatives Nachwort des Slavisten Ulrich Schmid, welches Tolstois „Für alle Tage“ in den breiteren Kontext seines späten Schaffens stellt.

Titelbild

Lew Tolstoj: Für alle Tage. Ein Lebensbuch.
Übersetzt von Christian Körner, Eugen Heinrich Schmitt, Albert Skarvan.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
760 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783406593673

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