Gibt es eine Evolution der Kultur?

Volker Gerhardt und Julian Nida-Rümelin haben ein Buch zur „Evolution in Natur und Kultur“ herausgegeben

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Niemand anderes als der im Alter noch einmal zu großer Popularität gelangte Sprachphilosoph Ernst Tugendhat hat dekretiert, dass man heute „nicht von einem Phänomen ausgehen“ dürfe, „das sich nicht mit einer verständlichen evolutionstheoretischen Hypothese verbinden läßt.“ Wie früher für Ernst Haeckel stellt für diesen Autor die Evolutionstheorie einen fundamentalen und buchstäblich allumfassenden Vorteil dar, und er steht damit nicht allein. Grund genug, eine ähnliche ideologische Voreingenommenheit auch in einem Buch zu befürchten, das sich mit „Evolution in Natur und Kultur“ beschäftigt? Die meisten Beiträge des Bands sind von einseitigen Bezugnahmen auf Darwin weit entfernt, und manche Autoren distanzieren sich sogar expressis verbis von jedem Monismus. Etwa Sigrid Weigel, die es ablehnt, „die Evolution zur universellen Erklärung, wenn nicht zur Zauberformel für alle denkbaren Phänomene menschlichen Verhaltens“ zu gebrauchen.

Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste ist der Kritik des Naturalismus gewidmet, der nur zu oft mit der Evolutionstheorie assoziiert wird, im zweiten wird mehr naturwissenschaftlich als philosophisch argumentiert und es finden sich Beiträge, die neueste Ergebnisse der Forschung skizzieren – und im dritten Teil schließlich geht es um die „kulturelle Evolution“. Erst hier werden dezidiert Darwin’sche Positionen vertreten.

Die meisten Beiträge stellen wohl eher Resümee als Ausblick dar. Es sind größtenteils prominente Autoren, die ihre bekannten Positionen noch einmal zusammenfassen oder anhand eines ausgewählten Aspekts verdeutlichen, meist in sprachlich und formal sehr souveräner Form. Zunächst, im von Julian Nida-Rümelin eingeleiteten naturalismuskritischen Teil, sind es unter anderem Christian Illies und Peter Janich. Illies stellt die Möglichkeit und die Grenzen der Übertragung evolutionstheoretischer Erklärungsmuster auf den Bereich der Kultur dar, und er betont die Fragwürdigkeit, die darin liegt, dass „mit einem Prinzip Entwicklungen in all den heterogenen Wirklichkeitsbereichen erklärt werden sollen“. Gemeint ist damit der Monismus von Welterklärern vom Schlage eines Daniel Dennett oder Richard Dawkins. Janich seinerseits polemisiert gegen „die Vertierlicher des Menschen und die Vermenschlicher des Tieres“ und demonstriert, dass Werkzeuggebrauch beim Tier etwas ganz anderes bedeutet als beim Menschen.

Nachdem also eingangs dem Naturalismus die Grenzen aufgezeigt wurden, unternimmt es mit Volker Gerhardt der zweite der beiden Herausgeber, der Natur ihr Recht zurückzugeben. Sein den dritten Teil eröffnender Beitrag rekonstruiert den Bedeutungswandel des Evolutionsbegriffes seit Leibniz. Gerhardt, vor allem als Vertreter der politischen Philosophie bekannt geworden, betont nicht allein unsere Kreatürlichkeit, sondern er verteidigt und begründet die Übertragung der Evolutionsgesetze auf den Bereich der Kultur. Nichts, so schreibt er, liegt „näher als die Annahme, dass die Bewegungsgesetze einer Entwicklungsgeschichte der lebendigen Natur, also die Prinzipien der Evolution, sich auch in der Natur- und Kulturgeschichte des Menschen wiederfinden. Das schließt nicht aus, dass die Evolution in menschlichen Kulturen auf andere Weise wirkt.“

Diese Bemerkung wird unmittelbar zuvor mit einem Spiel vorbereitet, das nur verwirren kann, weil es den Begriff „Geschichte“ in höchst fragwürdiger Weise sowohl auf die Natur als auch auf den Menschen münzt. Es ist aber eine reine Homonymie, denn der Begriff der Geschichte besitzt einen ganz anderen Sinngehalt, je nachdem, ob man ihn auf die Natur bezieht oder auf die Welt des Menschen. Oder spielen auch in der Evolution der Kultur Variation und Selektion eine tragende Rolle? Gerhardt setzt das voraus, was er in seinem Beitrag doch eigentlich erst zeigen will – dass es eine Evolution der Kultur gibt und dass sie von denselben Prinzipien gesteuert wird.

Leider versäumt es der Autor, seine Behauptung auf die Probe zu stellen, und er versucht gar nicht erst, dem Leser zu demonstrieren, dass sich tatsächlich irgendetwas in der Geschichte der menschlichen Kultur ereignet hat, das sich einzig und allein dank der Evolutionstheorie verstehen lässt. Denn nur unter dieser Voraussetzung besäße die Evolutionstheorie ja einen gewissen Erklärungswert für die Kultur. Nur weil der Evolutionsbegriff ursprünglich aus der Kultur stammt (eben dies ist Gerhardts ganzes Argument), muss er sich nicht unversehens zurückübertragen lassen – schließlich ist doch ein nicht ganz unbeträchtlicher Bedeutungswandel zu konstatieren.

Was die auf die Entwicklung der Kultur zu übertragenden Prinzipien der Evolution nun im einzelnen sind, wüsste man in jedem Fall gern. In erster Linie wird es die Allmählichkeit der Entwicklung sein. Gerhardt konzentriert sich in seiner Darstellung auf einen Aspekt, der expressis verbis politisch ist. Alles läuft auf eine Pointe hinaus, die er selbst reformistisch nennt und in „Opposition zur ‚Revolution‘“ sieht. Man kann deutlich erkennen, dass es für diesen Autor die behutsame Langsamkeit und sanfte Allmählichkeit des Evolutionsprozesses ist, die den Hauptreiz der Theorie Darwins bildet: „So wenig die Natur Sprünge macht, so selbstverständlich hat sich die Kultur um Kontinuität, um gewaltlose Übergänge und um eine ‚Reform nach Prinzipien‘ zu bemühen. Darin liegt das Ziel einer republikanischen Politik, der alle zivilisatorischen Anstrengungen zu folgen haben.“ Eine merkwürdige Analogie. Hat die Theorie der Naturgeschichte Sprünge auszuschließen, weil Sprünge aller Art schlecht sind für unser Zusammenleben?

Winfried Menninghaus und Gerhard Vollmer sind zwei der Autoren, die in diesem dritten Teil des Buches auf darwinistische Positionen vertreten, wie sie oben von Tugendhat angedeutet wurden. Hier wird der Maßstab der Evolutionstheorie an alles und jedes angelegt: So lernen wir von Menninghaus unter dem Stichwort „Funktionen der Kunst“, dass es dabei allein um den „tendenziell exklusiven Zugang zu nicht-teilbaren Ressourcen (weibliche Eier)“ gehe. Auf einem ähnlichen Niveau argumentiert auch Vollmer, der ein ethisches Konzept mit dem Argument ablehnt, dass es „unseren stammesgeschichtlich erworbenen Verhaltensmustern“ widerspricht, und der angesichts der Forderung, Ethik möge universell sein, von einer „recht unbiologischen Forderung“ spricht. „Nach der Soziobiologie […] sorge ich nicht für mich“, schreibt er und klingt wie Dawkins oder wie der auf weibliche Eier fokussierte Menninghaus, „sondern für die Verbreitung meiner Gene“.

In unseren Tagen wird als Hauptgegner solcher Positionen der Kreationismus oder Bibelfundamentalismus ausgerufen, also eine Position, die weder wissenschaftlich noch philosophisch ernstzunehmen ist und von der sich Joachim Bauer – in Deutschland der bekannteste Vertreter der Epigenetik – trotzdem zu distanzieren für nötig hält; das ist schon ein Hinweis auf eine sehr ideologisch geführte, Kritiker gern ausgrenzende oder sogar diffamierende Diskussion.

Anders als heute war der historische Hauptgegner des Darwinismus für mehr als hundert Jahre der Lamarckismus, von Biologielehrern vergangener Jahrzehnte allein mit dem Ausdruck tiefster Verachtung angesprochen. Der Lamarckismus vertrat als ein Element seiner Theorie die Vererbung erworbener Eigenschaften, und eben dieses Theorem stieß auf breite Ablehnung. Alle Anti-Lamarckisten müssen aber wohl umlernen, denn wie wir aus den von Sigrid Weigel referierten Zusammenhängen lernen, lässt sich heute ein funktioneller Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Vererbung nachweisen: Ihnen liegen ganz offensichtlich dieselben biochemischen Vorgänge zugrunde. Die beiden in aller Regel in den Vordergrund geschobenen Aspekte der Evolutionstheorie Darwins, Mutation und Selektion, werden durch diese vielleicht wirklich revolutionäre Entdeckung in ihrer Bedeutung erheblich relativiert, und deshalb lautet eine Kapitelüberschrift in Weigels Beitrag: „Veränderung jenseits von Zufall und Selektion“. Der Schlüssel für das Verständnis aller Veränderungen liegt für diese Autorin in der Epigenetik, mit der sich der anschließende Beitrag von Joachim Bauer beschäftigt – der Seitenzahl nach der kürzeste, dem Inhalt nach aber ziemlich schwergewichtig.

In seinem Aufsatz macht Bauer plausibel, dass und wie es zu der Vererbung erworbener Eigenschaften kommen kann. Zudem gelingt es ihm zu zeigen, mit welchen Mechanismen die Epigenetik auf Katastrophen und andere Situationen reagiert, in denen die Notwendigkeit einer schnellen Anpassung gegeben ist. Ein Mittel dafür ist die Verdoppelung ausgewählter Abschnitte des genetischen Materials, ohne die nicht immer komplexere Arten hätten entstehen können. Derartige Genverdoppelungen entstanden und entstehen als Antworten „von Biosystemen auf schwere externe, ökologische Stressoren“, worunter man sich Meteoriteneinschläge und ähnliche planetenweite Megakatastrophen vorstellen muss. „Denn dupliziert werden vorzugsweise solche genetischen Sequenzen, die in starkem Gebrauch sind.“

Die Mehrzahl der Beiträge ist also von der manchmal fanatischen Ideologisierung der Evolutionstheorie weit entfernt. Der Leser wird mit Fortschreibungen und Korrekturen bekannt gemacht, und er bekommt Material in die Hand, mit dem Einwänden gegen die Evolutionstheorie begegnet werden kann. Als Beispiel sei allein auf die Tatsache hingewiesen, dass die Zeugnisse der Erdgeschichte eben nicht die erwünschten übergangslosen und sanften Veränderungen der Fauna und Flora überliefern, sondern Sprünge und Brüche dokumentieren, die sich zuvor nicht erklären ließen und offenbar ja auch heute noch nicht richtig akzeptiert werden. Dank der Epigenetik lässt sich dieses Geschehen erstmals verstehen. Dass es aber eine Evolution in der Kultur gibt, das erschließt sich dem Leser weniger.

Titelbild

Volker Gerhardt / Julian Nida-Rümelin (Hg.): Evolution in Natur und Kultur.
De Gruyter, Berlin 2010.
300 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783110213508

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