Die Weisheit kommt vom Geschmack

„Die Tischgesellschaft“ von Iris Därmann und Harald Lemke denkt die Kulturwissenschaft vom Kochtopf aus

Von Nikolai WojtkoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolai Wojtko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kultur hebt mit der Sünde an, oder treffender: sie hebt mit der symbolträchtigen Erzählung der Sünde an. Denn was wäre das westliche Abendland ohne den Sündenfall im Paradies? Schließlich essen Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis, übertreten das göttliche Verbot und erlangen mit dem Geschmack der verbotenen Frucht die Erkenntnis ihrer eignen Nacktheit. Natürlich ist diese Erzählung der Bibel kein Faktenfund, dennoch ist sie prägende Narration für uns Bewohner des christlich geprägten Abendlandes. Dabei ist es kein Zufall, dass die Erkenntnis mit dem bewussten Essen, welches erst durch das Verbot ermöglicht wurde anhebt. Denn der Mensch, der sich selber als homo sapiens bezeichnet, erlangt – folgt man der Argumentation von Michel Serres – die Weisheit durch die Eigenschaft der zweiten Bedeutung des lateinischen Wortes sapor, den Geschmack. Erst durch den Geschmack kann er sich seine Umwelt einverleiben, die Differenz zwischen sich und seiner Umwelt schmecken und zugleich seinen Hunger stillen.

Es ist daher kein Zufall, dass die Kulturwissenschaften die Speise und das ritualisierte gemeinsame Essen in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtungen rücken. Dabei verfolgen die beiden Kulturwissenschaftler Iris Därmann und Harald Lemke als Herausgeber dieses imposanten Bandes ein ambitioniertes Ziel, auch wenn der Untertitel lediglich von Annäherungen an das Phänomen des Essens spricht. Doch schon wenn man sich die versammelten Autoren und das breite Spektrum der durch die Aufsätze abgedeckten Thematik betrachtet, erkennt man, dass hier einem verwaisten Feld der Kulturwissenschaften ein zentraler Platz eingeräumt werden soll.

Dass sich dabei die Themen der Aufsätze im Subtext so lesen wie eine Philosophiegeschichte vom Kochtopf her, ist dabei lediglich ein kleiner, wenn auch nicht ungewollter Fingerzeig, denn schließlich verweist das Vorwort von Harald Lemke unter Hervorhebung der interdisziplinären Figur des Themas, schon auf diesen Zusammenhang. Iris Därmann verbindet mit Marcel Maus als Referenz die sich stets neu konstituierende Sozialität mit der Nahrung als Inbegriff der Gabe und der Gastfreundschaft schlechthin. Nicht zufällig wird das Bankett seit dem frühen Mittelalter den Charakter einer rechtsrituellen Handlung einnehmen, die bis in die medial vermittelte Politikwelt der Gegenwart ihre bündnis- und gemeinschaftsstiftende Funktion innehat. Insofern ist hier auch der Grundstein für Simmels Überlegungen zu sehen, dass nicht die Sprache, sondern das Essen im Sinne der Gemeinschaft als das Gemeinsamste überhaupt bezeichnen wird, – allerdings mit der gleichzeitigen Einschränkung, dass das Essen zugleich das Egoistischste überhaupt sei, da die Einverleibung einer Sozialität entgegen stehe, wobei Simmel hier weniger symbolisch als rein materiell argumentiert. Doch die Gabe, Nahrung mit anderen zu teilen führt Därmann treffend aus, bedeutet immer etwas anzubieten, was man selber schon empfangen hat.

Bernhard Waldenfels forscht nach den Gründen, weshalb das cogito weder isst noch trinkt, indem er in der Philosophiegeschichte seit der Antike den Weg der Immunität verfolgt, mit welcher die Philosophie die Nahrung belegt hat. Denn vor jeder Moral steht das Essen als Form des Lebensnotwenigen – und damit in einem Winkel, der von der Philosophie des Abendlandes nicht gerne beleuchtet wird. So bleiben auch die Tischsitten bei Waldenfels ein Ort der Fremdheit, da sie nicht kommensurabel zu erklären sind, allerdings sind sie weit mehr als einfache Sitten, die schlicht austauschbar wären.

In seiner Analyse des Louis-Malle-Films „Eine Komödie im Mai“ führt Gerhard Neumann den Zusammenhang von Natur und Kultur, Lebenserhaltung und narrativer Struktur plastisch anhand in Szene gesetzter Rituale des Essens zusammen. Denn nicht nur das Essen ist ein Ritual, es ist die grundlegende Zirkulation einer Kultur, die der Rituale als grundlegende Pfeiler ihrer selbst bedarf. Ohne auf die treffende Analyse des Films an dieser Stelle einzugehen, zeigt dieser fulminante Aufsatz, welche Möglichkeiten die gastrosophische Interpretation den Kulturwissenschaften ermöglicht.

War es dem Fin de siècle vorbehalten die Form der biologischen Reproduktion, die Sexualität dem Gebiet der Kulturwissenschaften zuzuschlagen, so werden in diesem Band gute Gründe genannt auch die zentrale tägliche Reproduktionsleistung – das Essen als Sinn- und Sozialitätsstifter in den Fokus der kulturwissenschaftlichen Analyse zu rücken.

Mit diesem Buch haben die Autoren und Herausgeber ihren Beitrag zu einem gastrosophical turn innerhalb der Kulturwissenschaften geleistet.

Titelbild

Iris Därmann / Harald Lemke (Hg.): Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen.
Transcript Verlag, Bielefeld 2008.
240 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783899426946

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