Spuren hinter sich

In seinem Roman „Kokoschkins Reise“ erzählt Hans Joachim Schädlich die Geschichte einer Emigration

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Erzähler Fjodor Kokoschkin, 95 Jahre alt, fährt auf der Queen Mary 2 im September 2005 von Southampton nach Hause – zurück in sein Exilland USA. 1910 in St. Petersburg geboren, ist Kokoschkin, wie er selbst sagt, ein „gelernter Emigrant“. Sein Vater war Minister in der bürgerlichen Regierung Kerenski und wurde 1917 von den Bolschewiken ermordet. Mit seiner Mutter trat der kleine Fjodor daraufhin eine Reise durch viele Exilstationen an: Odessa, Berlin, Prag, zuletzt Boston. Die beiden hatten Glück, weil die Mutter Freunde besaß: die Dichter Bunin und Chodassewitsch sowie dessen Frau Nina Berberova. Ihre Fürsprache bewirkte, dass der Junge außerhalb von Berlin ein Internat besuchen durfte, um so schließlich, vom Wohlwollen der Schule wie vom eigenen Willen begünstigt, ein Stipendium für die USA zu erhalten.

Das liegt aber alles weit zurück. Im Hintergrund von Kokoschkins Biografie spielten sich die großen Umwälzungen des 20 Jahrhunderts ab: Revolution, Weltkrieg, Naziherrschaft, das Ende des Prager Frühlings. Um die Stätten der Kindheit und Jugend nochmals zu sehen, hat er sich als emeritierter Biologe auf die lange Reise gemacht. Sein jüngerer Prager Freund Hlavacek hat ihn dabei begleitet. Auf dem Rückweg nun lässt er es sich gutgehen, der Luxusliner bietet alle Annehmlichkeiten der Welt: erlesene Speisen, unterhaltsame Ablenkungen und nette Gesprächspartnerinnen wie die Architektin Olga Noborra, der er mit bescheidener Eleganz hofiert. Wenn alle aber zu Bett gegangen sind, lässt Kokoschkin vor dem inneren Auge die Stationen seiner letzten Reise Revue passieren.

Sein Gleichmut und seine Geschmack färben auch auf den Erzähler ab. Hans Joachim Schädlich zaubert nicht mit Sprache, vielmehr beschreibt er mit stilistischem Feingefühl diesen Strom der Erinnerungen, der die großen Linien am Rande mit emotionalen Details anreichert. Schädlichs Roman ist so auf diskrete Klarheit bedacht, sein Text rekapituliert unangestrengt, konzentriert. Kokoschkin legt es nicht auf eine Abrechnung an, auch wenn er seine Abneigung gegenüber menschenverachtenden Herrschaftssystemen nie verhehlt. Im Städtchen Studená erzählt ihm Hlavacek von Maxim Gorki, wie dieser hier einmal auf Kur gewesen sei, auf Kosten der Revolution. Gorki wagte damals kritische Töne, die nicht ungefährlich waren, doch sein Gefolge beschützte ihn, weil es selbst der Tscheka angehörte. Was ist von Gorki geblieben?

Und was von Iwan Bunin, der Kokoschkin bis in die Träume hinein begleitet – und der heute eine späte Wiederentdeckung erlebt. Hlavacek und Kokoschkin achten lieber auf die Zeugnisse der alten Geschichte, den mächtigen Veitsdom in Prag etwa, weil sie für die Dauer stehen, die letztlich über den schnellen Wechsel triumphiert. Wir sind keine Diebe, beschwichtigen sie einmal eine Frau, die sie nicht in jenes Haus einlassen will, in dem Kokoschkin einmal gewohnt hatte: „Wir sind Nostalgiker“ – allerdings von der unaufgeregten Sorte. Genau so bietet sich Schädlichs Roman dar. Der ruhig vorgetragene Lebensroman eines Erzählers, der den politischen Wirren sein Glück abgetrotzt hat: mit Stil und Gleichmut – und auch ein paar wehmütig nostalgischen Anwandlungen. Über alles obsiegt die Gelassenheit eines rüstigen 95-Jährigen, seine vitale Zuversicht.

Titelbild

Hans J. Schädlich: Kokoschkins Reise. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010.
192 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783498064013

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