Geschichte von unten

Arnd Bauerkämper und Elise Julien versuchen in „Krieg und Gesellschaft 1914-1918“ die kulturellen und mentalen Voraussetzungen des Duchhaltens im Ersten Weltkrieg zu beleuchten

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie war es überhaupt möglich, dass europäische Gesellschaften die Vernichtung ganzer Generationen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges so lange ertrugen und weiter funktionierten? Was veranlasste die Masse der Soldaten – die in ihrer Mehrzahl einberufene Zivilisten waren – in den Schützengräben der Westfront oder den eisigen Ebenen des Ostens vier Jahre auszuharren und den ungeheuren Blutzoll einer neuartigen industrialisierten Form des Krieges zu ertragen? War es die trotzige Hoffnung auf den Sieg, war es Gleichmut, Zwang oder schlicht Ergebenheit in das einmal verhängte Schicksal?

Nachdem in der deutschen Historiografie – ebenso wie in der sowjetisch-russischen – der Erste Weltkrieg seit 1945 fast vollständig zugunsten des nachfolgenden Weltkrieges aus dem Blick geraten war, hatten sich hingegen französische und auch britische Historiker kontinuierlich weiter mit dem Thema befasst. Bis heute ist der Erste Weltkrieg aus ihrer Sicht „La Grand Guerre“ oder „The Great War“, der in beiden Ländern mehr Opfer als der nachfolgende Konflikt gefordert hatte. Längst hat sich die Forschung dabei von den großen Strategien und Feldzügen – wie sie noch in den Generalstabswerken der 1920er-Jahre und auch in den Veröffentlichungen des deutschen Reichsarchivs eine zentrale Rolle spielten – verabschiedet, um sich verstärkt sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen zu widmen.

Dabei entstand das – inzwischen auch international akzeptierte – Konzept einer Kulturgeschichte des Krieges, in der nicht nur Armeen und Rüstungsindustrien, sondern die Kriegsgesellschaften insgesamt in den Focus der Betrachtung gerieten. Lag es doch auf der Hand, somit auch die vielfältigen Beziehungen zwischen Front und Heimat, die der moderne Krieg mittels stark verbesserter Verkehrsbedingungen, der Presse und Kriegsberichterstattung sowie einer unübersehbaren Flut von Kriegsbriefen herstellte, in dem überbrückenden Ansatz einer „Geschichte von unten“ zu berücksichtigen.

Die in dem vorliegenden Band veröffentlichten elf Aufsätze stammen in ihrer überwiegenden Mehrheit von deutschen oder französischen Verfassern und versuchen, möglichst alle betroffenen Konfliktparteien und Kriegsregionen mit ihren Besonderheiten in ihre Darstellungen einzubeziehen. Es zeigt sich jedoch rasch, dass das Forschungsniveau in den einzelnen ehemaligen Kriegsnationen sehr unterschiedlich ausfällt und jeweils auch stark nationale Befindlichkeiten widerspiegelt.

Am weitesten noch scheint die Historiografie des Ersten Weltkrieges in Frankreich vorangeschritten zu sein, wo sich in der letzten Dekade eine intensive Debatte um den Begriff der „Kriegskultur“ entwickelt hat. Die Verfechter dieses neuartigen Konzepts gehen davon aus, dass ein breit gestreuter Patriotismus zusammen mit einem kollektiven und stetig kultivierten Hass auf den Feind eine Art internen Zwang hervorgebracht hat, der die beispiellose Durchhalteleistung Frankreichs besser erklärt als bisherige Ansätze, die mit obrigkeitlicher Pression oder Gruppendruck argumentieren. Gegner dieses Konzepts weisen indes darauf hin, dass einer Kultur keine Erklärungsfunktion zugeordnet werden kann, da sie selbst erklärungsbedürftig ist und zudem stets das Resultat einer langfristigen Entwicklung ist.

Es ist gewiss einer der Mängel des Bandes, dass er insgesamt nur fragmentarisch über die Durchhaltemechanismen in den einzelnen Kriegsgesellschaften informiert. Weder im Hinblick auf Frankreich noch auf Großbritannien erfährt man, welche Formen das „Durchhalten“ im Detail tatsächlich angenommen hat. Stattdessen wird der Leser, der zumeist anderes erwartet haben dürfte, mit Forschungsdebatten oder mit Rezeptionsgeschichten konfrontiert, in denen sich die Geschichtswissenschaften einmal mehr mit sich selbst anstatt mit dem, was war, befassen. Für jeden, der nicht an diesen methodisch orientierten Fachdiskussionen beteiligt sein will, sondern sich einfach nur informieren möchte, ist diese Vorgehensweise unbefriedigend und eigentlich nicht akzeptabel.

Dass gleichwohl der eine oder andere Beitrag doch noch auf die Verhältnisse in dem jeweils untersuchten Land eingeht, kann den fatalen Eindruck einer fehlenden konzeptionellen Linie der Herausgeber nicht ausräumen. Tatsächlich erfüllen nur zwei der insgesamt elf Aufsätze die beim Leser mit dem Buchtitel geweckten Erwartungen und informieren tatsächlich anhand des Beispiels Belgien und der Vereinigten Staaten über die Kriegsverhältnisse und Bedingungen des Durchhaltens.

Die Beiträge über Russland, das Osmanische Reich und Afrika vermitteln immerhin Gesamtüberblicke, die aber nur bedingt mit dem gestellten Leitmotiv des Durchhaltens zu tun haben. Auch der Aufsatz über die deutschen Kriegsanleihen, der sich zudem noch in ästhetisch-künstlerischen Interpretationen der Plakate verliert, deckt gewiss nicht die gestellte Thematik im Hinblick auf das Kaiserreich ab. In drei Beispielen (Balkan, Osmanisches Reich und Vereinigte Staaten) wird immerhin der Vermutung nachgegangen, dass zu den Voraussetzungen des Durchhaltens auch das aggressive Vorgehen gegen Minderheiten – etwa die amerikanischen Bindestrich-Deutschen oder die Armenier – gehört haben könnte. Letztlich aber waren die historischen Voraussetzungen in den betrachteten Ländern zu unterschiedlich, um zu vertretbaren allgemeinen Aussagen zu gelangen. Hier erweist sich aber gerade die Einbeziehung so disparater und entlegener Regionen wie der Balkan oder Afrika als kontraproduktiv.

Multiperspektivität führt nicht immer zu größerer Klarheit. Ein sinnvoller Vergleich hätte sich daher zunächst auf die mitteleuropäischen Kriegsparteien, die eine homogene kulturelle Prägung aufwiesen, beschränken müssen. Umso erstaunlicher erscheint es, dass ausgerechnet Österreich-Ungarn völlig aus der Betrachtung ausgeklammert wurde. Es bleibt somit festzuhalten, dass das spannende Leitmotiv des Durchhaltens von den Herausgebern und einzelnen Autoren thematisch nicht wirklich eingelöst wurde.

Titelbild

Arnd Bauerkämper / Elise Julien (Hg.): Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914-1918.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010.
285 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783525363898

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