Der Sturm ist da

Zur literarischen Moderne im „expressionistischen Jahrzehnt“

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Eine kulturrevolutionäre Bewegung

In der literaturgeschichtlichen Rückschau wird die Zeit zwischen 1910 und 1920 häufig als „expressionistisches Jahrzehnt“ bezeichnet. Und in der Tat war der Expressionismus in Deutschland eine kulturrevolutionäre Bewegung, die nach 1910 alle Künste zugleich und in wechselseitiger Abhängigkeit erfasste, auch die Literatur. Zahlreiche Repräsentanten des Expressionismus waren „Doppelbegabungen“ Ernst Barlach, Oskar Kokoschka, Wassilj Kandinsky oder Alfred Kubin brachten in der Zeit des Expressionismus nicht nur bedeutende Kunstwerke, sondern auch bemerkenswerte literarische Texte hervor. Die konservative Kunstkritik beobachtete dies damals mit Argwohn. Der expressionistische Schriftsteller Paul Kornfeld, Sohn eines wohlhabenden jüdischen Unternehmers, hielt dieser Art von Kunstkritik die für den Expressionismus bezeichnenden Sätze entgegen: „Fragt man: ‚Warum schreibt der Maler Kokoschka Dramen, statt nur Bilder zu malen?‘ – so erwidere ich mit der Gegenfrage: ‚Warum komponiert er nicht auch noch Symphonien, Opern, Lieder, warum ist er nicht auch Bildhauer?“

Der Expressionismus erneuerte das romantische Ideal des Gesamtkunstwerkes. Aus dem Zusammenspiel von Licht, Farbe, Wort, Musik und Gestik erhoffte man sich eine Intensivierung des künstlerischen Ausdrucks und der künstlerischen Wirkung. Dem entsprach das Ideal einer Künstlerpersönlichkeit, die sich mit universaler Kreativität in sämtlichen Formen der Kunst auszudrücken vermag. Der Expressionist und Dadaist Kurt Schwitters strebte nach eigenem Bekenntnis danach, „nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das […] Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfasst zur künstlerischen Einheit. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, dass die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnung geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dies geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen.“

Kurt Schwitters war Mitarbeiter der expressionistischen Zeitschrift „Der Sturm“. Der Mann, der sie 1910 gegründet hatte, hieß Georg Levin. Seine erste Frau, die Dichterin Else Lasker-Schüler, gab ihm den Namen, unter dem er noch heute bekannt ist: Herwarth Walden. Gerade auch für ihn und für seine Zeitschrift war die enge Verbundenheit der Künste im Expressionismus typisch. Walden selbst musizierte und komponierte, schrieb Gedichte, Dramen und Romane, Essays, Manifeste und Kritiken, und das alles in reicher Zahl. Seine Zeitschrift „Der Sturm“ machte er zum organisatorischen Zentrum und publizistischen Forum nicht nur der damals jüngsten Literatur, sondern auch der anderen Künste. 1912 eröffnete Walden die lange Reihe seiner Kunstausstellungen in Berlin mit den Arbeiten des „Blauen Reiters“. Neben der Zeitschrift, neben den „Sturm“-Ausstellungen und der „Sturm“-Galerie existierten bald ein Buchverlag „Der Sturm“, eine „Sturm-Kunstschule“, die Veranstaltungsreihe der „Sturm-Abende“ und der Theaterverlag „Sturmbühne“.

Die Kunst und die Literatur des deutschen Expressionismus entwickelten sich also parallel zueinander und in wechselseitiger Abhängigkeit. Und sie wurden zum Teil von denselben Persönlichkeiten getragen. Dies zeigt auch ein Blick auf die Geschichte des Begriffs. In Deutschland tauchte der Begriff „Expressionismus“ 1911 auf und verbreitete sich rasch. Man bezeichnete mit ihm zunächst die damals neueste Kunst aus Frankreich, die Fauves und Kubisten, die Bilder unter anderem von George Braque, André Dérain, Raoul Dufy, Albert Marquet, Pablo Picasso und Maurice de Vlaminck. Doch wenig später übertrug man den Begriff auch auf die jüngsten Entwicklungen in der deutschen Kunst: auf die Werke der 1905 in Dresden begründeten Künstlergemeinschaft „Brücke“ und der 1911 ins Leben gerufenen Gruppe „Der Blaue Reiter“. Schon im Juli 1911 weitete Kurt Hiller die Bedeutung des Begriffs auf die jüngste Literatur aus. Expressionisten nannte er die Mitglieder des im März 1909 in Berlin gegründeten „Neuen Clubs“ und des aus ihm 1911 hervorgegangenen „Neopathetischen Kabaretts“. Hier lasen Ernst Blass, Jakob van Hoddis und Georg Heym ihre Gedichte. Dieser literarische Klub und dieses Kabarett gelten als Keimzelle der expressionistischen Literatur in Deutschland.

Außenseiter der Gesellschaft und literarische Subkultur

Literatur und Kunst des Expressionismus bildeten eine Kultur der sozialen Außenseiter. Was heute in Deutschland als die wohl bedeutendste Kulturbewegung des 20. Jahrhunderts gilt, war damals ein lange Zeit totgeschwiegenes, belächeltes oder heftig attackiertes Phänomen.

Eine ‚Epoche‘ der deutschen Literaturgeschichte ist der Expressionismus nur in eingeschränktem Sinn gelten. Das ‚expressionistische Jahrzehnt‘ war gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichen: Es war auch die Zeit eines noch keineswegs abgeschlossenen Naturalismus, eines weiter wirksamen Ästhetizismus, eines epigonalen Klassizismus oder der antimodernen Heimatkunst. Zwischen 1910 und 1920 gehörten Gerhart Hauptmann, Heinrich und Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse oder Stefan George weiterhin zu den dominierenden Schriftstellerpersönlichkeiten – von Publikumslieblingen wie Ludwig Ganghofer, Peter Rosegger, Gustav Frenssen oder Hedwig Courths-Mahler ganz abgesehen. Eine umfassende Literaturgeschichte dieser Zeit hätte zu berücksichtigen, dass Carl Einsteins Roman „Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders“ oder Franz Jungs Erzählungen „Das Trottelbuch“ (die als expressionistisch gelten) im selben Jahr erschienen wie Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ (1912), Carl Sternheims expressionistisches Lustspiel „Die Hose“ im selben Jahr wie Hauptmanns „Die Ratten“ oder Hofmannsthals „Jedermann“ (1911). Sie hätte neben dem Expressionisten-Verlag Kurt Wolff ebenso den kulturkonservativen Eugen Diederichs Verlag mit einzubeziehen, neben dem expressionistischen Aktions- oder dem Sturm-Kreis auch den George-Kreis oder den Einzelgänger Karl Kraus und seine Zeitschrift „Die Fackel“.

Zu den negativen Folgen der literarhistorischen Kanonisierung des Expressionismus-Begriffs gehörte es, den Blick auf das zu verstellen, was von dem Begriff ausgeschlossen, aber zur gleichen Zeit geschrieben und gelesen wurde. Manches davon gleicht allerdings dem Expressionismus in vielen Aspekten. Sogar ein Autor wie Thomas Mann, den niemand als expressionistisch bezeichnen würde, auch deshalb nicht, weil er sich in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) ausdrücklich vom Expressionismus distanzierte, stand diesem in den 1910er-Jahren weniger fern, als es scheint. Das gilt auch für Karl Kraus oder für Stefan George und seinen Kreis.

Die Literatur des Expressionismus war also nur eine Teil- oder Subkultur der damaligen literarischen Gesamtkultur. Sie bildete allerdings in jenen Jahren ein Profil aus, dem es in seiner jugendlichen Innovationskraft in Ansätzen damals schon und längerfristig bis heute gelang, die öffentliche Aufmerksamkeit so stark auf an sich zu binden wie keine andere literarische Gruppierung dieses Jahrzehnts. Über ihren Status als Außenseiterkultur darf dies jedoch nicht hinwegtäuschen.

Die expressionistischen Schriftsteller und ihre literarischen Figuren standen außerhalb der bürgerlichen Ordnung, rebellierten betont jugendlich gegen die Welt der Väter und aller autoritären Repräsentanten des patriarchalischen Systems. Sie brachen auf aus erstarrten, leblosen Konventionen und begaben sich, mit oft messianischem Pathos, auf die Suche nach dem neuen Menschen, nach anderen Formen sozialer Gemeinschaft, nach neuen Arten des Erlebens, der Wahrnehmung und des künstlerischen Ausdrucks. Der Expressionismus war eine literarische Rand- oder Gegenkultur mit eigenen Zeitschriften, Verlagen, Klubs, Kabaretts und Cafés, die sich nur zögernd vom etablierten Kulturbetrieb vereinnahmen ließen. Diese Subkultur war getragen von begabten Außenseitern, die in ihrer Mehrheit erst um 1910 die literarische Szene betraten. Die expressionistischen Schriftsteller waren vielfach noch Studenten, frisch Promovierte oder Bohèmeexistenzen, die sich einem bürgerlichen Beruf verweigerten. Und wenn sie einen hatten wie der Versicherungsangestellte Franz Kafka oder die Ärzte Alfred Döblin und Gottfried Benn, dann führten sie ein Doppelleben, in dem die Schriftstellerrolle mit der Berufsrolle in ständigen Konflikt geriet.

In der Rolle des Schriftstellers, dessen Tätigkeit zum eigenständigen Lebensunterhalt oder gar zum Unterhalt einer Familie nicht ausreicht, sind die Expressionisten Außenseiter mit all den damit verbundenen Problemen. Sie beginnen bereits im Elternhaus. Davon handelt eines der berühmtesten expressionistischen Dramen: Walter Hasenclevers „Der Sohn“. Das Stück enthält eine für den Expressionismus typische Darstellung des Vater-Sohn-Konflikts. Und dieser war auch ein Konflikt zwischen dem Künstler und dem Bürger. Der Vater ist in dem Drama ein Repräsentant der gesellschaftlichen Ordnung. Und in diese Ordnung passt der Sohn aufgrund seiner literarischen Neigungen nicht hinein. Sie sind schuld daran, dass er sein Examen nicht bestanden hat, das nach den Plänen des Vaters Voraussetzung für den späteren Richter-Beruf sein soll. Der Vater bezeichnet den Sohn als „Tagedieb“, „Schande“ der Familie, als Nichtsnutz, der es nicht verdient, von seinem Geld ernährt zu werden. Er verachtet ihn, schlägt ihn und sperrt ihn wie einen Kranken und Verbrecher in sein Zimmer ein. Der Figur des Sohnes in Walter Hasenclevers Stück gleicht Franz Kafkas Protagonist in der berühmten Erzählung „Die Verwandlung“. Sie beginnt mit dem Satz: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Es ist viel darüber gerätselt worden, was in dieser Erzählung das Bild des Ungeziefers zu bedeuten hat. Kafka hat jedoch hier nichts anderes getan, als eine Formulierung seines Vaters wörtlich zu nehmen. Dieser hatte den Sohn aufgrund seiner literarischen Ambitionen sowie dessen Freund, den jiddischen Schauspieler Jizchak Löwy, mehrfach mit einem parasitären Ungeziefer verglichen. Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ malte im Bild des Ungeziefers die Figur des nichtsnutzigen, parasitären und Schande bereitenden Außenseiters aus, der sich aufgrund seiner literarischen Ambitionen den beruflichen und damit auch familiären Verpflichtungen entzogen hat, den man seiner andersartigen Eigentümlichkeiten wegen einsperrt, den man nicht mehr wie einen Menschen, sondern wie ein widerliches Tier behandelt.

Die expressionistischen Schriftsteller beschreiben sich immer wieder als Fremde und Heimatlose in einer ihnen fremden und feindlichen Gesellschaft. Ein dafür typisches Gedicht von Franz Werfel trägt den bezeichnenden Titel „Fremde sind wir auf der Erde alle“. Bilder des Fremdseins und der Entfremdung werden zu Leitmotiven der gesamten expressionistischen Literatur.

Fast die Hälfte der expressionistischen Autoren war jüdischer Herkunft. Es lag daher nahe, dass sie die Außenseiterrolle ihrer Schriftstellerexistenz mit der Rolle des heimatlosen jüdischen Fremdlings verglichen. Einige haben dies auch ausdrücklich getan. Jakob Wassermann, ein Vertreter der älteren jüdischen Dichtergeneration, der unter den antisemitischen Ressentiments seiner Kritiker besonders litt, schrieb in einem Brief an Martin Buber über die Situation des Judentums folgende Sätze: „Das Schicksal der [jüdischen] Nation, ihre Vereinzelung unter fremden Nationen, ihre ungeheueren wirtschaftlichen und geistigen Anstrengungen gegen die widrigsten Umstände, der fortwährende Zustand der Abwehr, der Selbstbehauptung […], die […] gewaltsame Unterdrückung und Zerschneidung der Tradition, all das hat die Juden als ganzes Volk zu einer Art von Literatenrolle vorbestimmt“. Weit ausführlicher und entschiedener noch identifizierte der expressionistische Schriftsteller Alfred Wolfenstein die Situation des Juden mit der Situation des modernen Dichters. 1922 erschien in einem expressionistischen Verlag sein umfangreicher Essay „Jüdisches Wesen und neue Dichtung“. Er war dem Andenken Gustav Landauers gewidmet, der 1919 in München von gegenrevolutionären deutschen Soldaten im Gefängnis ermordet worden war. In dem Essay stehen die Sätze: „Der Dichter ist der unter die Völker Verstreute; aus tieferem Grunde kommend und in höherem Sinne ortlos; der Verbannte. Er ist, heute zumal, der ungewiß Wohnende unter Fremden, – denen er sich doch glühend zugehörig fühlt. […] Ähnlich ergeht es dem Juden.“ Es sei kein Zufall, dass der Jude an der traditionellen deutschen Literatur weit weniger beteiligt war als an der neuen, der expressionistischen. „Die jüngere Generation schlug geistige Richtungen ein, mit denen sein Wesen zusammentraf, um spirituelle Dichtung zu werden.“

Wandlungen zum „Neuen Menschen“ und Erster Weltkrieg

Der literarische Expressionismus hatte zwei Seiten, die Wolfenstein dem Judentum verwandt sah. Er war zum einen geprägt von messianischen Hoffnungen auf einen neuen, paradiesischen Zustand, zum anderen von Erfahrungen des Leidens, mit denen sich der expressionistische Dichter gerne zum Märtyrer stilisierte. Gustav Landauer gab dafür das Beispiel: Er verkörperte den expressionistischen Geist der Utopie, und er gab für sie, so sah es Wolfenstein, sein Leben als Opfer hin.

Figuren, die ihr Leben für eine neue Gemeinschaft und die Geburt eines neuen Menschen opfern, finden sich besonders in expressionistischen Dramen in großer Zahl. In Ernst Tollers Tragödie „Masse Mensch“ will sich die revolutionäre Protagonistin nicht mit Gewalt aus dem Gefängnis befreien lassen. Sie stirbt, damit das Prinzip der Gewaltlosigkeit weiterlebt. Georg Kaisers Drama „Die Bürger von Calais“ ist ganz von der Idee getragen, dass allein die vollkommen selbstlose Bereitschaft zum Opfer des eigenen Lebens Licht in die herrschende Finsternis zu bringen vermag. Der Tod des Helden, der in diesem Drama den anderen ein Beispiel gibt, ist zugleich die Geburt des „neuen Menschen“.

Für den Expressionismus ist überhaupt die Vorstellung typisch, dass etwas Altes zugrunde gehen muss, damit etwas Neues entstehen kann. Der Weg in eine bessere Zukunft führt durch individuelle oder kollektive Katastrophen. Bezeichnend dafür sind allein schon viele Titel expressionistischer Bücher oder Buchreihen. „Tod und Auferstehung“ heißt ein Gedichtband Walter Hasenclevers. Die berühmteste expressionistische Buchreihe nannte sich „Der jüngste Tag“. Und die berühmteste Gedichtanthologie des Expressionismus hieß „Menschheitsdämmerung“. Dämmerung hatte dabei eine doppelte Bedeutung: Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, das Ende eines alten Tages und der Beginn eines neuen. In solchen Titeln artikulieren sich apokalyptische Ängste und Hoffnungen auf einen Neubeginn zugleich. In Georg Heyms Großstadt- und Kriegsgedichten richten sich die Wünsche mit antizivilisatorischem Affekt auf mythische Urgewalten, deren apokalyptische Vitalität die toten Orte der Zivilisation in Glut und Asche zurücklässt. Mit zynischer Gelassenheit registriert Jakob van Hoddis in seinem Gedicht „Weltende“, mit dem eine ganze Dichtergeneration sich begeistert identifizierte und Kurt Pinthus die „Menschheitsdämmerung“ eröffnete, die apokalyptischen Zeichen und Ängste seiner Zeit:

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Die Zeichen, Errungenschaften und Schutzvorrichtungen der Zivilisation werden in diesem Gedicht von den Naturgewalten des Sturms wie Spielzeug hinweggefegt: der Hut, die Dachdecker, die Dämme und Eisenbahnen. So liest man es in der Zeitung, ungerührt oder gar mit spöttischer Freude. Zeitungsmeldungen über die Wiederkehr des Halley’schen Kometen hatten den Autor zu diesem Text inspiriert.

Jakob van Hoddis Gedicht erschien Anfang 1911. Ein halbes Jahr vorher, im Juli 1910, hatte sich Georg Heym die später viel zitierten Sätze ins Tagebuch geschrieben: „Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit hinterläßt. […] Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich daraufstellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln. Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, einen Kaiser, der sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte. Staatsmänner, die besser als Spucknapfhalter ihren Zweck erfüllten, denn als Männer, die das Vertrauen des Volkes tragen sollen.“ Georg Heyms Wünsche sollten alle bald in Erfüllung gehen. Im August 1914 brach der Weltkrieg aus, 1918 wurde der verhasste Kaiser verjagt und die Revolution ausgerufen.

Der kollektiven Kriegsbegeisterung, die Anfang August 1914 das ganze deutsche Volk zu ergreifen schien, konnten sich auch etliche Expressionisten nicht entziehen. Der als kulturrevolutionäres Ereignis, als Aufbruch und Neuanfang gefeierte Krieg schien manchen von ihnen Werte zu verwirklichen, die sie der Welt des mittlerweile über vierzigjährigen Friedens in dem Kaiserreich aggressiv entgegengestellt hatten: eine die Isolation der literarischen Intelligenz überwindende Gemeinschaft, eine die Dekadenz und bürgerliche Erstarrung aufhebende Vitalität und eine den sozial unverbindlichen Ästhetizismus verabschiedende politische Verantwortlichkeit. Bei den meisten Expressionisten schlug jedoch die nationale Euphorie vom Sommer 1914 schon nach wenigen Tagen oder Monaten um in eine desillusionierte Ernüchterung und ein pazifistisches Engagement internationalen Zuschnitts. Aufgeschreckt wurden sie durch den Anblick der Verwüstungen, die der Krieg hinterließ, und durch die Kriegsopfer aus den eigenen Reihen: Zu ihnen gehörten Alfred Lichtenstein, Franz Marc, Ernst Stadler, August Stramm oder Georg Trakl. Viele flüchteten ins Schweizer Exil oder schlossen sich oppositionellen Gruppierungen an, deren Proteste gegen den Krieg seit 1917 in politische Revolutionsaufrufe einmündeten.

Typisch für die Wandlung von der Kriegsbegeisterung zur Kriegsgegnerschaft und zum Pazifismus war der Werdegang Ernst Tollers. Gerade auch die jüdischen Intellektuellen sahen sich durch ihre begeisterte Teilnahme am Krieg mit einem Male in das Volk der Deutschen integriert. In seiner Autobiographie schildert Toller eindrucksvoll die damaligen Empfindungen der Jugend in Deutschland: „Ja, wir leben in einem Rausch des Gefühls. Die Worte Deutschland, Vaterland, Krieg haben magische Kraft, wenn wir sie aussprechen, verflüchtigen sie sich nicht, sie schweben in der Luft, kreisen um sich selbst, entzünden sich und uns.“ Die Parolen des Kaisers verfehlten auch auf ihn nicht ihre Wirkung: „Der Kaiser kennt keine Parteien mehr, hier steht es schwarz auf weiß, das Land keine Rassen mehr, alle sprechen eine Sprache, alle verteidigen eine Mutter, Deutschland.“ Bald jedoch bemerkten diese jungen Schriftsteller, dass die neue Realität der Materialschlachten und das Massensterben an der Front nicht mehr mit den überlieferten Kriegs- und Heldenklischees übereinstimmten. Mit typisch expressionistischem Pathos beschreibt Toller rückblickend sein Wandlungserlebnis:

„Ich stehe im Graben, mit dem Pickel schürfe ich die Erde. Die stählerne Spitze bleibt hängen, ich zerre und ziehe sie mit einem Ruck heraus. An ihr hängt ein schleimiger Knoten, und wie ich mich beuge, sehe ich, es ist menschliches Gedärm. Ein toter Mensch ist hier begraben.
Ein – toter – Mensch.
[…]
Und plötzlich, als teile sich die Finsternis vom Licht, das Wort vom Sinn, erfasse ich die einfache Wahrheit Mensch, die ich vergessen hatte, die vergraben und verschüttet lag, die Gemeinsamkeit, das Eine und Einende.
Ein toter Mensch.
Nicht: Ein toter Franzose.
Nicht: Ein toter Deutscher.
Ein toter Mensch.
Alle diese Toten sind Menschen, alle diese Toten haben geatmet wie ich, alle diese Toten hatten einen Vater, eine Mutter, Frauen, die sie liebten, ein Stück Land, in dem sie wurzelten, Gesichter, die von ihren Freuden und ihren Leiden sagten, Augen, die das Licht sahen und den Himmel. In dieser Stunde weiß ich, daß ich blind war, weil ich mich geblendet hatte, in dieser Stunde weiß ich endlich, daß alle diese Toten, Franzosen und Deutsche, Brüder waren, und daß ich ihr Bruder bin.“

Die expressionistische Literatur hat solche Erweckungs- und Wandlungserlebnisse in immer neuen Variationen erzählt und dramatisch in Szene gesetzt. Der Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen oder falschen, verblendeten Einstellungen vollzieht sich hier nicht in Form einer kontinuierlichen Entwicklung, sondern vielmehr als Revolution, als plötzlicher Ausbruchs- und Befreiungsakt, als psychologisch oft nicht motivierter irrationaler Sprung vom uneigentlichen Dasein in eine eigentliche Existenz, wie Martin Heidegger es wenig später ausdrückte. Wie sehr die expressionistische Idee des neuen Menschen hierin von christlich-religiösen Denkformen geprägt ist, zeigt unter anderem der predigthafte Ton, das messianische Pathos, mit dem der einzelne zum Umdenken aufgerufen wird. In den so genannten „Wandlungsdramen“ nach dem Muster von Strindbergs „Nach Damaskus“ hat die innere Revolution der Helden den Charakter religiöser Erweckungs- und Bekehrungserlebnisse. „Vor der Erneuerung wird eine große Bekehrung kommen müssen“, schrieb Ludwig Rubiner in seiner expressionistischen Programmschrift „Die Erneuerung“. Ernst Tollers Drama „Die Wandlung“ ruft dementsprechend zu einer inneren Revolution auf, einer Revolutionierung des Herzens. Sie hat aller revolutionären Praxis vorauszugehen, soll diese nicht zu blindem, gewalttätigem Aktionismus verkommen.

Mit dem Ende des Krieges und des hoffnungslos überalterten Kaiserreichs, das die deutsche Novemberrevolution 1918 mit einem Schlag beseitigt hatte, schien der expressionistische „Geist der Utopie“ vorübergehend Realität zu werden. Die expressionistischen Schriftsteller und Künstler waren an dieser Revolution führend beteiligt. Nachdem der Journalist und Schriftsteller Kurt Eisner in der Nacht vom 7. auf den 8. November 1918 mit der Bayerischen Republik den ersten revolutionären Staat in Deutschland ausgerufen hatte, nahmen im weiteren Verlauf der Revolution vor allem Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller einflussreiche Positionen ein. Als zwei Wochen nach der Ermordung Eisner am 7. April 1919 die Bayerische Räterepublik ausgerufen wurde, übernahm Toller den Vorsitz des Revolutionären Zentralrats und wurde damit zum formell mächtigsten Mann Bayerns. In dieser anarchistischen „Dichterrepublik“ ging die Politisierung der Kunst mit einer Ästhetisierung der Politik einher. Die unzähligen politisch agitierenden Plakate und Flugblätter und auch manche Tageszeitungen wurden von Malern und Graphikern expressionistischer Stilrichtung gestaltet. Und selbst die politischen Aufrufe und Verordnungen waren von expressionistischer Rhetorik geprägt.

Ästhetische Revolution

Mit dem Scheitern der Revolution brach der utopische Elan des Expressionismus in sich zusammen. Es wäre allerdings eine Fehleinschätzung, den Expressionismus auf sein politisches Engagement und seine quasireligiöse Heilslehre vom „Neuen Menschen“ zu reduzieren. Der revolutionäre Aktivismus ging einher mit einer ästhetischen Revolution, deren Wirkung bis heute andauert. Der Protest dieser literarischen Jugendbewegung gegen die Autorität der Erwachsenen, der Väter, fand im ästhetischen Bereich Entsprechungen in der Auflehnung gegen die Autorität literarischer Traditionen. Der antiautoritäre Protest dieser Generation richtete sich um 1910 aber auch gegen die jüngeren, eben erst etablierten Autoritäten des literarischen Lebens. Betroffen waren davon vornehmlich der Naturalismus und der Impressionismus. Aus der Abgrenzung ihnen gegenüber suchte diese Generation ihr eigenes avantgardistisches Profil.

Den Impressionismus verurteilte Kurt Hiller 1913 als „eine unaktive, reaktive, nichts-als-ästhetische Gefühlsart“. Ihr setzt er eine neue gegenüber, die er mit Begriffen wie „Gesinnung“, „Wille“, „Intensität“, „Revolution“ umschrieb. Und er fügte hinzu: „Man neigt dazu, den Stil, den diese neue Gefühlsart erzeugt, wegen seiner konzentrierten Hervortreibung des voluntarisch Wesentlichen Expressionismus zu nennen.“ Der Wille zur konzentrierten Hervortreibung des Wesentlichen brachte einen sprachlichen Stil hervor, der zum Erkennungszeichen des literarischen Expressionismus wurde. Ihm waren die Regeln der Syntax zu umständlich, er siebte gleichsam die Sätze so lange, bis nur noch die wichtigsten Wörter übrig blieben. Lothar Schreyer, ein Vertreter der expressionistischen „Wortkunsttheorie“, gab dafür folgendes Beispiel: „Die Bäume und die Blumen blühen.“ Lässt man in diesem Satz die Artikel fort, wird er schon kürzer: „Bäume und Blumen blühen.“ Noch konzentrierter wirkt der Satz im Singular: „Baum und Blume blüht.“ Befreit man sich und die Wörter von den Regeln der Grammatik, lässt sich eine weitere Verknappung des Ausdrucks erreichen: „Baum blüht Blume.“ Die stärkste Konzentration erfährt der Satz in der Reduktion auf ein einziges Wort: „Blüte“.

Ihre Ausdruckskraft bekommen die Wörter weniger durch ihre Bedeutung als durch ihren Klang, hatte der Maler Kandinsky 1912 erklärt. Der abstrakten Malerei des Expressionismus entsprachen jene Dichtungen, die ihre Wirkungen durch Laute ohne konkrete Bedeutung suchten. Der unartikulierte Naturlaut des Schreis erfreut sich mit seiner Ausdrucksintensität bei den Expressionisten größter Beliebtheit. Im expressionistischen Drama wird die verbale Sprache vielfach ganz ersetzt durch die stumme, doch authentische Sprache des Körpers, der Mimik und der Gestik. So verwundert es nicht, dass die Expressionisten den Stummfilm früh als geeignetes Medium künstlerischen Ausdrucks für sich entdeckten.

1917 gelang es dem expressionistischen Dichter Kasimir Edschmid in einer viel beachteten Rede, wesentliche Aspekte der expressionistischen Literatur treffend zu benennen. Ihre Distanz zum Naturalismus und seinem „Fotografieren der Wirklichkeit“ wird hier besonders hervorgehoben:„Niemand zweifelt, daß das Echte nicht sein kann, was als äußere Realität erscheint. Die Realität muß von uns geschaffen werden. Der Sinn des Gegenstands muß erwühlt sein. Begnügt darf sich nicht werden mit der geglaubten, gewähnten notierten Tatsache, es muß das Bild der Welt rein und unverfälscht gespiegelt werden. Das aber ist nur in uns selbst. So wird der ganze Raum des expressionistischen Künstlers Vision. Er sieht nicht, er schaut. Er schildert nicht, er erlebt. Er gibt nicht wieder, er gestaltet. Er nimmt nicht, er sucht. Nun gibt es nicht mehr die Kette der Tatsachen: Fabriken, Häuser, Krankheiten, Huren, Geschrei und Hunger. Nun gibt es die Vision davon. Die Tatsachen haben Bedeutung nur soweit, als durch sie hindurchgreifend die Hand des Künstlers nach dem greift, was hinter ihnen steht.“

Die Abstraktion von der Realität, die damit verbundene Suche nach dem Wesen hinter den äußeren Erscheinungen, die Typisierung der dargestellten Personen und Gegenstände sowie die Ablehnung des naturwissenschaftlichen Kausalitätsdenkens sind ständig wiederkehrende Kennzeichen expressionistischer Programmatik und künstlerischer Praxis. Konjunktur bekommt das Signalwort „Geist“. Mit ihm insistierte der Expressionismus auf seiner ästhetischen wie politischen Autonomie gegenüber der „Realität der Tatsachen“, von deren Macht sich das menschliche Subjekt bedroht sieht.

Die Modernität des Expressionismus und die moderne Zivilisation

Übermächtig und bedrohlich erscheint der expressionistischen Generation vor allem die Realität der modernen Zivilisation. Vom „Glauben an die Utopie“ ist in den letzten Worten der Einleitung die Rede, die Kurt Pinthus im Herbst 1919 zu der berühmtesten Lyrik-Anthologie des Expressionismus mit dem Titel „Menschheitsdämmerung“ schrieb. Doch Pinthus bemerkte zuvor, dass sich dieser Glaube mit einer abgrundtiefen Skepsis gegenüber dem zivilisatorischen Fortschritt verbinde: „Aber man fühlte immer deutlicher die Unmöglichkeit einer Menschheit, die sich ganz und gar abhängig gemacht hatte von ihrer eigenen Schöpfung, von ihrer Wissenschaft, von Technik, Statistik, Handel und Industrie […]. Aus der strotzenden Blüte der Zivilisation stank ihnen der Hauch des Verfalls entgegen.“ Doch trotz ihrer Abwertung des modernen Zivilisationsprozesses verstehen sich Pinthus und seine expressionistischen Zeitgenossen selbst als „modern“. Es ist dabei kein Zufall, dass die expressionistische Moderne ihr Zentrum in jener Großstadt hatte, in der sich die zivilisatorischen Modernisierungsprozesse seit der Reichsgründung so stark wie in keiner anderen Stadt des deutschsprachigen Raums verdichteten und beschleunigten. Dass in Deutschland sowohl die zivilisatorische als auch die literarische Moderne in Berlin gleichsam ihre „Hauptstadt“ hatten, deutet darauf hin, dass sie in einer spannungsvollen Abhängigkeit zueinander standen.

An der Berliner Universität lehrte damals der Sozialphilosoph Georg Simmel, dessen Vorlesungen die Mitglieder des „Neuen Clubs“ regelmäßig besuchten. Simmel hatte schon 1903, in seiner Schrift „Die Großstädte und das Geistesleben“, die „Entwicklung der modernen Kultur“ auf eine Weise charakterisiert, die von der jüngeren Expressionismusforschung als grundlegend für das Verständnis der Großstadtdichtung seit 1910 erkannt wurde. Die Modernität der rapide gewachsenen Großstädte konfrontiere das Subjekt mit veränderten Wahrnehmungsbedingungen.

„Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. Der Mensch ist ein Unterschiedswesen, d.h., sein Bewußtsein wird durch den Unterschied des augenblicklichen Eindrucks gegen den vorhergehenden angeregt; beharrende Eindrücke, Geringfügigkeit ihrer Differenzen, gewohnte Regelmäßigkeit ihres Ablaufs und ihrer Gegensätze verbrauchen sozusagen weniger Bewußtsein, als die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfaßt, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen. Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft – mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens –, stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens, in dem Bewußtseinsquantum, das sie uns wegen unserer Organisation als Unterschiedswesen abfordert, einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes.“

Was die Dynamik der Modernisierungsprozesse für das Erleben des Großstädters bedeutet, hat 1925 Kurt Pinthus ähnlich beschrieben: „Welch ein Trommelfeuer von bisher ungeahnten Ungeheuerlichkeiten prasselt seit einem Jahrzehnt auf unsere Nerven nieder! […] Man male sich zum Vergleich nur aus, wie ein Zeitgenosse Goethes oder ein Mensch des Biedermeier seinen Tag in Stille verbrachte, und durch welche Mengen von Lärm, Erregungen, Anregungen heute jeder Durchschnittsmensch täglich sich durchzukämpfen hat, mit der Hin- und Rückfahrt zur Arbeitsstätte, mit dem gefährlichen Tumult der von den Verkehrsmitteln wimmelnden Straßen, mit Telephon, Lichtreklame, tausendfachen Geräuschen und Aufmerksamkeitsablenkungen. Wer heute zwischen dreißig und vierzig Jahre alt ist, hat noch gesehen, wie die ersten elektrischen Bahnen zu fahren begannen, hat die ersten Autos erblickt, hat die jahrtausendelang für unmöglich gehaltene Eroberung der Luft in rascher Folge mitgemacht, hat die sich rapid übersteigenden Schnelligkeitsrekorde all dieser Entfernungsüberwinder, Eisenbahnen, Riesendampfer, Luftschiffe, Aeroplane miterlebt.“

Kunst und Literatur der Moderne sind von der schockartigen Konfrontation mit dem sozialen Wandel nachhaltig geprägt. Die ästhetische Modernität von der Art, wie sie durch viele Autoren aus dem Umkreis des Expressionismus repräsentiert wird, besteht nicht zuletzt darin, dass sie sich, im Unterschied zur völkisch-nationalen Literatur, zur Heimatkunstbewegung, zur katholischen oder neuklassischen Literaturbewegung um 1900, den zivilisatorischen Modernisierungsprozessen thematisch und formal zu stellen versucht, sie nachdrücklich in sich aufnimmt – und gleichzeitig gegen sie opponiert oder zumindest eine ambivalente Einstellung ihnen gegenüber zeigt.

„Wir müssen endlich anfangen unsere Heimat zu malen, die Großstadt, die wir unendlich lieben.“ Dieses Postulat Ludwig Meidners von 1914, gleich am Anfang seiner „Anleitung zum Malen von Großstadtbildern“, bindet die ästhetische Modernität des Expressionismus nachdrücklich an die zivilisatorische Modernität der Großstädte, doch verschweigt es, was Meidners apokalyptische Großstadtszenarien, die denen in Georg Heyms Lyrik gleichen, die Meidner im „Neopathetischen Cabaret“ kennen gelernt hatte, überdeutlich machen: Die unendliche Liebe zur Großstadt ist eine Hassliebe, ist durchsetzt von Erfahrungen der Orientierungslosigkeit, Ohnmacht und Angst. Die Straßen der Großstadt sind, so Meidner, „ein Bombardement von zischenden Fensterreihen, sausenden Lichtkegeln zwischen Fuhrwerken aller Art und tausend hüpfenden Kugeln, Menschenfetzen, Reklameschildern und dröhnenden, gestaltlosen Farbmassen.“

Das ist faszinierend und bedrohlich zugleich, wie die Großstadt in den Gedichten Georg Heyms. Eines von ihnen heißt „Der Gott der Stadt“:

Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.

[…]

Das Wetter schwält in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt

Heyms mit den Mitteln der Sprache gemalte Großstadtbilder verstehen sich nicht als bloße Abbildungen der Großstadtrealität um 1910. Von der naturalistischen Großstadtlyrik vor der Jahrhundertwende unterscheidet sich die expressionistische grundlegend. Hatten die Naturalisten die Stadt vorwiegend als ein soziales Milieu geschildert, das bemitleidenswertes Elend hervorbringt, so verschiebt sich im Expressionismus die Äußerung sozialen Mitgefühls zur Expression eigenen oder auch kollektiven Erlebens. „So wird der ganze Raum des expressionistischen Künstlers Vision“, sagte Kasimir Edschmid: Die Visionen Georg Heyms beleben die übermächtige Großstadt mit Göttern und Dämonen, deren urwüchsige und vitale Vernichtungsgewalt angsterregende, doch auch berauschende Qualitäten hat.

Der Städte Schultern knacken. Und es birst
Ein Dach, daraus ein rotes Feuer schwemmt.
Breitbeinig sitzen sie auf einem First
Und schrein wie Katzen auf zum Firmament.

„Sie“, das sind „Die Dämonen der Städte“, deren blutige Gewalt in dem gleichnamigen Gedicht Heyms am Ende riesenhafte Dimensionen annimmt:

Doch die Dämonen wachsen riesengroß.
Ihr Schläfenhorn zerreißt den Himmel rot.
Erdbeben donnert durch der Städte Schoß
Um ihren Huf, den Feuer überloht.

Georg Heym, schrieb Pinthus einleitend zur „Menschheitdämmerung“, die auch dieses Gedicht enthält, „hämmerte Visionen des Todes, des Grauens, der Verwesung in zermalmenden Strophen.“ Doch das Grauen ist nur die eine Seite dieser Gedichte. Zugleich werden hier aggressive Affekte, die das moderne, zivilisierte Subjekt unter Kontrolle zu halten hat, in der literarischen Phantasie lustvoll ausgelebt.

Aufschlussreich für das durchwegs zwiespältige Verhältnis der Expressionisten zur Großstadt ist die „Zueignung“, die Alfred Döblin 1913 seinem chinesischen Roman „Die drei Sprüngen des Wang-lun“ voranstellte. Wie Meidner ist Döblin vom italienischen Futurismus beeinflusst, doch vom Futurismus unterscheidet ihn und den deutschen Expressionismus die Skepsis gegenüber der technischen und großstädtischen Moderne. Döblins „Zueignung“ verweist zudem auf eine Problematik, die für die literarische Moderne von zentraler Bedeutung war: In der Zeit des Expressionismus häufen sich die Darstellungen von Situationen, in denen sich ein Subjekt verwirrt, ohnmächtig und orientierungslos von einer heterogenen Vielzahl simultaner Wahrnehmungsreize überwältigt sieht, die es nur noch registrieren und nicht mehr in einen geordneten Sinnzusammenhang bringen kann.

„Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern.“ So steht es in dem ersten deutschen Roman, der die neuen Wahrnehmungsformen in der veränderten Großstadtwelt in sein Zentrum rückte: in Rainer Maria Rilkes 1910 erschienenen „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. In Döblins „Zueignung“ sieht sich der fiktive Erzähler des chinesischen Romans an seinem Schreibtisch bei offenem Fenster dem Lärm der Großstadt ausgesetzt. Der Text reflektiert die veränderten Bedingungen, unter denen sich das Autor-Subjekt in der literarischen Moderne zu schreiben anschickt:

„Daß ich nicht vergesse –
Ein sanfter Pfiff von der Straße herauf. Metallisches Anlaufen, Schnurren, Knistern. Ein Schlag gegen meinen knöchernen Federhalter.
Daß ich nicht vergesse –
Was denn?
Ich will das Fenster schließen.
Die Straßen haben sonderbare Stimmen in den letzten Jahren bekommen. Ein Rost ist unter die Steine gespannt; an jeder Stange baumeln meterdicke Glasscherben, grollende Eisenplatten, echokäuende Mannesmannröhren. Ein Bummern, Durcheinanderpoltern aus Holz, Mammutschlünden, gepreßter Luft, Geröll. Ein elektrisches Flöten schienenentlang. Motorkeuchende Wagen segeln auf die Seite gelegt über den Asphalt; meine Türen schüttern. Die milchweißen Bogenlampen prasseln massive Strahlen gegen die Scheiben, laden Fuder Licht in meinem Zimmer ab.
Ich tadle das verwirrende Vibrieren nicht. Nur finde ich mich nicht zurecht.“

Der Text ist nicht zuletzt ein herausragendes Zeugnis für die veränderten Formen der Wahrnehmung in der großstädtischen Zivilisation und für die formalen Konsequenzen, die der Expressionismus daraus gezogen hat. Die expressionistische Poetik ist maßgeblich eine „Poetik der Parataxe“: der unkoordinierten Aneinanderreihung von Sätzen, Wörtern und Wahrnehmungspartikeln. Die parataktische Reihung machte in sämtlichen Gattungen des Expressionismus Schule: Die „Simultangedichte“ eines Georg Trakl, Georg Heym, Ernst Blass, Alfred Lichtenstein oder Jakob van Hoddis reihten mit oft grotesken Effekten jeweils einen Vers lange, semantisch und syntaktisch unkoordinierte Hauptsätze aneinander; die „offene Form“ des expressionistischen „Stationendramas“ reihte unzusammenhängende und z.T. austauschbare Handlungsepisoden aneinander; und ähnlich wie das Drama verzichtete auch der Roman auf formale Geschlossenheit. 1913 forderte Alfred Döblin vom modernen Roman: In höchster Gedrängtheit und Präzision habe „die Fülle der Gesichte“ vorbeizuziehen. „Von Perioden, die das Nebeneinander des Komplexen wie das Hintereinander rasch zusammenzufassen erlauben, ist umfänglich Gebrauch zu machen.“ Die Romanteile sollen unabhängig voneinander und von einem übergeordneten Sinnzentrum ein dezentriertes Eigenleben entfalten. 1917 veranschaulichte Döblin dieses parataktische Prinzip mit folgendem Bild: „Wenn ein Roman nicht wie ein Regenwurm in zehn Stücke geschnitten werden kann und jeder Teil bewegt sich selbst, dann taugt er nicht.“

Zusammen mit den Großstädten prägen die Massenmedien um 1910 nachhaltig die neuen Formen der Wahrnehmung: neben den Zeitungen vor allem auch das Kino. Die raschen und sprunghaften Bewegungsabläufe, die für den frühen Stummfilm kennzeichnend sind, entsprachen ganz den veränderten Wahrnehmungsstrukturen des Großstädters. Ein aufmerksamer Zeitgenosse der Expressionisten erkannte schon 1910: „Die Psychologie des kinematographischen Triumphes ist Großstadt-Psychologie. Nicht nur, weil die große Stadt den natürlichen Brennpunkt für alle Ausstrahlungen des gesellschaftlichen Lebens bildet, im besonderen auch noch, weil die Großstadtseele, diese ewig gehetzte, von flüchtigem Eindruck zu flüchtigem Eindruck taumelnde, neugierige und unergründliche Seele so recht die Kinematographenseele ist.“ Ganz ähnlich bemerkte zwei Jahre später der Wiener Schriftsteller und Kulturhistoriker Egon Friedell über das Kino: „Zunächst: es ist kurz, rapid, gleichsam chiffriert, und es hält sich bei nichts auf. Es hat etwas Knappes, Präzises, Militärisches. Das paßt sehr gut zu unserem Zeitalter, das ein Zeitalter der Extracte ist. Für nichts haben wir ja heutzutage weniger Sinn als für jenes idyllische Ausruhen und epische Verweilen bei den Gegenständen, das früher gerade für poetisch galt.“

Alfred Döblin kennzeichnete den von ihm propagierten Roman der Moderne bezeichnenderweise mit dem Begriff „Kinostil“. Wie stark auch die parataktische Lyrik des Expressionismus dieser Kinoästhetik entsprach, macht kein Gedicht so deutlich wie jenes, das Jakob van Hoddis mit dem Titel „Kinematograph“ überschrieben hat. Der Kinoästhetik gewinnt er hier zugleich komische und ernste Aspekte ab:

Der Saal wird dunkel. Und wir sehn die Schnellen
Der Ganga, Palmen, Tempel auch des Brahma,
Ein lautlos tobendes Familiendrama
Mit Lebemännern dann und Maskenbällen.

Man zückt Revolver. Eifersucht wird rege,
Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf.
Dann zeigt man uns mit Kiepe und mit Kropf
Die Älplerin auf mächtig steilem Wege.

[…]

Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht -
Flirrt das hinein, entsetzlich! nach der Reihe!
Die Bogenlampe zischt zum Schluß nach Licht -
Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie.

Ordnungs- und Sinnverlust des modernen Subjekts

Die Großstadt und die Massenmedien zerstören die herkömmliche Ordnung der Wahrnehmung. In der Literatur dieser Zeit entspricht der fragmentierten Wahrnehmung einer hochkomplex gewordenen Welt die Fragmentarisierung der in ihr agierenden Figuren. Und auch die Bilder, die die Autoren von sich selbst entwerfen, sind davon geprägt. In einem ungemein aufschlussreichen Vortrag über Kandinsky konstatierte Hugo Ball 1917: „Die Künstler in dieser Zeit sind nach innen gerichtet. Ihr Leben ist ein Kampf mit dem Irrsinn. Sie sind zerrissen, zerstückt, zerhackt, falls es ihnen nicht glückt, für einen Moment in ihrem Werk das Gleichgewicht, die Balance, die Notwendigkeit und Harmonie zu finden.“ Von Gleichgewicht und Harmonie als den Idealen der klassischen Ästhetik ist in den Werken der expressionistischen Moderne freilich wenig zu finden. Döblins „Zueignung“ mit ihrer Beschreibung eines Schriftstellers, der angesichts der simultan auf ihn eindringenden Stadtgeräusche die Konzentration und Orientierung verliert, ist durchaus repräsentativ für das Selbstverständnis literarisch moderner Autorschaft, die sich nicht mehr als Herrschaft über das Werk und die in ihm dargestellte Welt zu begreifen vermag.

„Die Hegemonie des Autors ist zu brechen; nicht weit genug kann der Fanatismus der Selbstverleugnung getrieben werden.“ Dieser Satz in Döblins Romantheorie überführt die ästhetisch moderne Distanz zum Autonomieanspruch des zivilisierten Subjekts in den Bereich der Poetik. In seinem chinesischen Roman macht es denn auch der ständige Wechsel der Erzählperspektiven und Redeformen unmöglich, eine konsistente Erzählerpersönlichkeit auszumachen. Dem Verzicht auf eine das Geschehen souverän überschauende und kommentierende Erzählinstanz entsprechen in vielen parataktischen Reihungsgedichten das Zurücktreten und die Dissoziation des lyrischen Ich. Auch dafür ist Jakob van Hoddis‘ „Weltende“ ein repräsentatives Beispiel: „Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.“ Es sind die Katastrophenmeldungen der Zeitungen, die das in ein anonymes Massensubjekt („liest man“) aufgelöste lyrische Ich registriert. Das Gedicht imitiert die veränderten Realitätswahrnehmungen durch die Zeitung, in der sich die Welt nicht mehr direkt der eigenen Anschauung eines individuellen Subjekts, sondern nur noch massenmedial vermittelt und als ungeordnetes und zuweilen grotesk-komisches Nebeneinander heterogenster Ereignisse präsentiert. Die Meldung über die Flutkatastrophe oder das Eisenbahnunglück steht hier neben der „Katastrophennachricht“, dass bei dem schlechten Wetter der Schnupfen grassiert.

Die Anhänger des zivilisatorischen Fortschritts orientierten sich damals, nach dem Vorbild der klassischen Ästhetik, an Werten wie Ordnung, Zusammenhang, System, Einheit, Übersichtlichkeit und Wahrheit. Positionen der expressionistischen Moderne hingegen entspricht es, wenn Carl Einstein 1909 einen Aufsatz mit den Worten beginnt: „Wir haben keine Wahrheit mehr“. Oder wenn es in seinem Roman „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“ heißt: „Lassen Sie sich nicht von einigen mangelhaften Philosophen täuschen, die fortwährend von der Einheit schwatzen und den Beziehungen aller Teile aufeinander, ihrem Verknüpftsein zu einem Ganzen.“ Damit sind Denkformen der klassischen Ästhetik und Hermeneutik kritisch angesprochen, denen das Ideal geschlossener Strukturen entspricht; für die ästhetische Moderne hingegen sind die offenen Strukturen konstitutiv, das Fragmentarische, das dezentrierte Eigenleben der Textteile gegenüber einem übergeordneten Sinnzentrum.

Ernst Blass kennzeichnete 1912 seine Sammlung eigener Gedichte mit dem lapidaren Satz: „Einheit liegt nicht vor.“ Und Franz Werfel beschrieb 1914 die Erfahrungsgrundlagen der expressionistischen Literatur so: „Wir sind alle hineingestellt in eine fürchterliche Unübersehbarkeit, der Reichtum der Einsichten und Organismen trug Verzweiflung und Wahnsinn in uns hinein, wir stehen machtlos der Einzelheit gegenüber, die keine Ordnung zur Einheit macht, es scheint, daß Und zwischen den Dingen ist rebellisch geworden, alles liegt unverbindbar auf dem Haufen, und eine neue entsetzliche Einsamkeit macht das Leben stumm.“ Eines der aufschlussreichsten Dokumente für solche Krisenerfahrungen in einer veränderten Welt, ist der schon zitierte Vortrag Hugo Balls. Drei Faktoren nennt er hier, die „die Kunst unserer Tage bis ins Tiefste erschütterten“: „Die von der kritischen Philosophie vollzogene Entgötterung der Welt, die Auflösung des Atoms in der Wissenschaft und die Massenschichtung der Bevölkerung im heutigen Europa.“ Damit sind philosophie-, wissenschafts- und sozialgeschichtliche Umwälzungsprozesse angesprochen, die für das expressionistische Krisenbewusstsein konstitutiv sind. „Gott ist tot“, so heißt es in dem Vortrag.

Und weiter: „Eine Welt brach zusammen. […] Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen mehr, kein Fundament mehr, die nicht zersprengt worden wären. Kirchen sind Luftschlösser geworden. Überzeugungen Vorurteile. Es gibt keine Perspektiven mehr in der moralischen Welt. Oben ist unten, unten ist oben. Umwertung aller Werte fand statt. Das Christentum bekam einen Stoß. Die Prinzipien der Logik, des Zentrums, Einheit und Vernunft wurden als Postulate einer herrschsüchtigen Theologie durchschaut. Der Sinn der Welt schwand. […] Chaos brach hervor. Tumult brach hervor. Die Welt zeigte sich als ein blindes Über- und Gegeneinander entfesselter Kräfte. Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Zufall, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken. Der Mensch verlor seine Sonderstellung, die ihm die Vernunft gewahrt hatte.“

Das sind Zeitdiagnosen, die ganz mit denen übereinstimmen, die gegen Ende des Jahrhunderts von postmoderner Philosophie erstellt wurden. Einige ihrer Vertreter haben mittlerweile ihre Nähe zur ästhetischen Moderne erkannt, jedoch versucht, sich von dieser in einem signifikanten Aspekt abzugrenzen. Die Auflösung metaphysischer Sinngebungen, tradierter Ordnungen und allgemein verbindlicher Normen- und Wertsysteme wird, so lautet eine verbreitete These, von der Moderne noch als krisenhafte Verlusterfahrung beschrieben und produziert in ihr neue (oder auch alte) Einheits- und Ganzheitswünsche. Einer der maßgeblichen Repräsentanten postmoderner Philosophie, Jean-François Lyotard, rief auf zum „Krieg dem Ganzen“ und unterlegte diesem Appell ein politisches Motiv: die Abwehr jedes totalitären Terrors. „Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen […] teuer bezahlt. Hinter dem allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen.“

Lyotard selbst beschrieb die Differenz zwischen Moderne und Postmoderne angesichts gemeinsamer Erfahrungen des Auseinanderbrechens tradierter Einheiten, Ganzheiten und Ordnungen als „Differenz zwischen Trauer und Wagnis“ und lokalisiert dabei „die deutschen Expressionisten“ auf „der Seite der melancholia“. Für diese Einschätzung lassen sich in der expressionistischen Literatur viele Bestätigungen finden. Hugo Balls Vortrag hingegen durchschaut bereits den potentiellen Zusammenhang von Einheitsoptionen und Machtansprüchen, wenn er sagt: „Die Prinzipien der Logik, des Zentrums, Einheit und Vernunft wurden als Postulate einer herrschsüchtigen Theologie durchschaut.“

Hugo Ball hielt seinen Vortrag über Kandinsky 1917 in der Galerie Dada. Der Dadaismus distanzierte sich von den Sentimentalitäten, Idealismen und Harmoniebedürfnissen des Expressionismus wie später die Postmoderne von der Moderne. „Der Expressionismus war harmonisch“, erklärte Richard Huelsenbeck 1920. Dada dagegen sei „das Geschrei der Bremsen und das Gebrüll der Makler an der Chicagoer Produktenbörse.“

Der Dadaismus verdankte mit seinem anarchischen, antiidealistischen Impuls dem Expressionismus jedoch weit mehr, als er es um der Selbstprofilierung willen zugeben wollte. Die vitalistische und anarchistische Bejahung einer ordnungs- und gesetztesbefreiten Chaotik ist von Beginn an eines der vielfältigen und durchaus widersprüchlichen Kennzeichen dieser kulturrevolutionären Bewegung, und zwar ein durchaus dominantes. Ein Manifest Erich Mühsams in der Münchner Expressionisten-Zeitschrift „Revolution“ endet mit dem bezeichnenden Aufruf „Laßt uns chaotisch sein!“ Die ästhetische Modernität des Expressionismus zeigt sich gerade in den Texten und bei den Autoren, die den autoritären Anspruch geschlossener Formen und Sinnsysteme unterlaufen.

Der Beitrag basiert weitgehend auf dem Aufsatz von Thomas Anz: Der Sturm ist da. Die Modernität des literarischen Expressionismus. In: R. Grimminger, J. Murasov, J. Stückrath (Hg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995. S. 257-283. – Eine etwas ausführlichere Einführung des Verfassers in den Expressionismus, in der die oben präsentierten Zitate belegt sind, ist Online-Abonnenten von literaturkritik.de hier zugänglich. Eingehendere Ausführungen zur expressionistischen Moderne enthält die im September 2010 erscheinende 2., aktualisierte und erweiterte Auflage des Buches „Literatur des Expressionismus“ (2010).