Literaturkritik und Krise

Der Streit um Roger Martin du Gards „Épilogue“ zu Beginn des Zweiten Weltkriegs (1939-1940)

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

Die Frage nach den verschiedenen Formen, in denen sich literarische Reaktionen auf historische Krisenphänomene artikulieren, zielt meist auf bewusst konsensverweigernde, ästhetisch gestaltete Antworten auf solche krisenhaften Momente. Im Fall des Romans nach dem Ersten Weltkrieg würde die Frage dann lauten, inwiefern die Schockerfahrung des modernen Massenmordens mit ihrer Überforderung der individuellen Wahrnehmung sich auch in neuen Erzähltechniken der Nachkriegszeit ausgedrückt hat, etwa bei James Joyce, Edward E. Cummings oder Alfred Döblin.

Beim Streit um Roger Martin du Gards 1940 erschienenen Roman „Épilogue“, mit dem der Nobelpreisträger von 1937 seinen großen Zyklus „Les Thibault“ beendete, steht man vor dem umgekehrten Fall, dass nämlich das Werk eines Autors, der sich ausdrücklich als traditionsverbunden und fern aller Avantgarden begreift, aufgrund eines krisenhaft veränderten Rezeptionskontexts von der Literaturkritik plötzlich als subversiv und konsensbedrohend wahrgenommen wird. Der Streit liefert außerdem Anschauungsmaterial für das Selbstverständnis des Intellektuellen, der sich in Zeiten der Krise, hier speziell unter den Bedingungen der sogenannten „drôle de guerre“ (der Phase zwischen September 1939 und Mai 1940, in der Deutschland und Frankreich sich offiziell im Krieg befanden, in der aber noch nicht gekämpft wurde), zum Hüter der Zivilisation berufen fühlt.

Ich möchte im folgenden, nach einem knappen Résumé der Romanhandlung, die Debatte um den Text darstellen, der bereits vor der Publikation im Verlagshaus Gallimard für erhebliche Aufregung sorgte, die nach dem Erscheinen noch eine kurze Fortsetzung in der Presse fand, mit dem Ende der drôle de guerre und dem Beginn der Okkupation dann aber schnell abbrach. Bei aller vom Autor selbst immer wieder betonten Traditionalität bietet der Roman doch auf subtile Weise eine ständige Reflexion der eigenen erzählerischen Mittel und der Möglichkeit, die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs überhaupt angemessen in Erzählung zu fassen. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass nach 1918 alles Sprechen vom Krieg immer auch ein Sprechen von der Krise der Zivilisation war, wie Paul Valéry in einem berühmtem Essay kurz nach dem Ersten Weltkrieg gesagt hatte.

Der „Épilogue“ erzählt das langsame Sterben des Arztes Antoine Thibault, der in einer Lungenklinik in der Provence die Folgen einer Senfgasvergiftung zu kurieren versucht, die er sich im November 1917 in einem Gefecht am Chemin des Dames nördlich von Reims zugezogen hatte. Die präzise datierte Handlung setzt am 3. Mai 1918 ein und endet am 18. November 1918, eine Woche nach dem Abschluss des Waffenstillstands, mit Antoines Selbstmord, der seinen unerträglich gewordenen Leiden ein Ende setzt.

Der Roman gliedert sich in drei Teile, von denen der erste auf knapp 150 Seiten in relativ klassischer Form die ersten drei Maiwochen erzählt. Die Ereignisse des folgenden Monats werden auf zehn Seiten in Form mehrerer Briefe mitgeteilt, bevor dann die letzten viereinhalb Monate bis zu Antoines Tod auf etwa 100 Seiten in Form von Antoines Tagebuchaufzeichnungen geboten werden. Die Erzählung beginnt damit, dass Antoine in der Lungenklinik ein Telegramm empfängt, in dem ihm der Tod seiner alten Tante mitgeteilt wird. Das ist der Anlass für eine letzte Reise nach Paris, in deren Verlauf er noch einmal den Orten und Personen seines Lebens vor der Vergiftung begegnet.

Er trifft sich Chez Maxim’s mit einem hohen französischen Diplomaten, dessen zynische Kommentare zum Kriegsverlauf in der späteren Diskussion für besondere Aufregung sorgen sollten. Beim Gespräch während des Abendessens bezeichnet der Diplomat die Amerikaner als nützliche Trottel, die dazu beitragen könnten, dass Frankreich den Krieg gewinnen werde, die aber aufgrund ihrer kindlichen Kulturlosigkeit gegenüber der Zivilisation des alten Europa in der Nachkriegszeit keine weitere Rolle spielen würden. Diese Passagen schockierten besonders den amerikanischen Übersetzer, Stuart Gilbert, dermaßen, dass er im Februar 1940 an den Verfasser schrieb: „Es gibt im Épilogue einige kurze Passagen, die ich für ein Buch, das in Amerika erscheinen soll, zu übersetzen mich nicht entschließen kann. Diese Passagen hätte ich noch vor sechs Monaten sehr gerne und sogar mit einem gewissen boshaften Vergnügen übersetzt, aber wir sind im Krieg. In Amerika wird Ihr Buch von einer Elite gelesen werden, auch von Deutschlandfreunden. Und die deutsche Propaganda in Amerika, die schon so aktiv gegen uns ist, wird diese Meinungen aufgreifen, die ein hoher Beamter des französischen Außenministeriums in einem französischen Werk äußert, um die Stimmung gegen uns zu wenden, selbst wenn dieses Werk ein Roman ist.“

Indem Gilbert den Status des Texts als Roman für unerheblich erklärte, hatte er nebenbei den zentralen Punkt der gesamten Debatte berührt, wie wir noch sehen werden. Doch zunächst weiter in der Romanhandlung: Antoine besucht nach dem Abend Chez Maxim’s den ehemaligen Familiensitz der Thibault, der in ein Militärhospital umgewandelt worden ist. Bei einer Begegnung mit seinem medizinischen Lehrer wird ihm aus dessen Reaktion klar, dass es für seine Lungenverletzung keine Heilungschancen mehr gibt. Im anschließenden kurzen Briefteil erhält Antoine – und mit ihm der Leser – noch einige Informationen, die ihm seine Gesprächspartner in Paris nicht mündlich anvertrauen konnten oder wollten und die die Trostlosigkeit des bereits Erfahrenen noch verstärken. Der abschließende Tagebuchteil hält in immer kurzatmiger werdenden Notaten Antoines Gedanken über das sich abzeichnende Kriegsende fest und kommentiert die Aussichten auf einen anhaltenden Frieden, die sich besonders mit dem Programm des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson verbinden. Mit Antoines Selbstmord und der fragwürdigen Hoffnung, die Aufzeichnungen möchten seinem kleinen Neffen nützlich sein, endet der Text.

Es war die Trostlosigkeit dieses „Schlussakkords in Moll“, wie Martin du Gard die Funktion des Romans innerhalb des Zyklus beschrieb, die die Frage aufwarf, wie die Lektüre des Romans auf das prospektive Publikum wirken würde und wie diese mutmaßliche Wirkung unter den Bedingungen des seit September 1939 erklärten Kriegs gegen Deutschland politisch und moralisch zu bewerten sei. Die Publikationsgeschichte, die die letzten Vorkriegsmonate und die ersten fünf Monate der drôle de guerre umfasste, und die ausführlichen Kommentare so bedeutender Leser wie André Gide, Georges Duhamel, Jean Schlumberger oder Jean Paulhan machen den „Épilogue“ zum Musterfall für eine rezeptionssästhetische Analyse. Dazu kommt ein kurioser Rollentausch, der dazu führte, dass in der Diskussion über den Roman der als engagierter Pazifist bekannte Martin du Gard sein Werk ausschließlich mit innerliterarischen Kriterien gemessen sehen wollte, während unter seinen ersten Lesern gerade diejenigen, die, wie Jean Paulhan oder Jean Schlumberger, prinzipiell für eine Trennung von ästhetischer und politischer Äußerung eintraten, diese Trennung im Fall des „Épilogue“ nicht gelten lassen wollten.

Die Rezeption vor der Veröffentlichung: Juni 1939–Februar 1940

Anfang Juni 1939 hatte Roger Martin du Gard von Martinique aus, wohin er sich zum Abschluss seiner Arbeit zurückgezogen hatte, Gaston Gallimard erleichtert mitgeteilt, dass das Manuskript nun auf dem Weg zum Verlag sei. Mit dem achten Band habe der seit 1922 erscheinende Thibault-Zyklus nun einen angemessenen Abschluss gefunden: „Ich bin seltsam berührt von der Vorstellung, dass es das nun war: die Thibault sind fertig. Ich kann jetzt abkratzen, ich hinterlasse ein Werk – eines, das taugt was es taugt, ich mache mir da keine Illusionen, das aber ein abgeschlossenes Werk ist. Eines, dessen Gleichgewicht so ist, wie ich es wollte. Und das sich als ein Ganzes präsentiert.“

Auch bei anderen Gelegenheiten betonte Martin du Gard, wenn er auf den „Épilogue“ zu sprechen kam, dessen Funktion als Schlussstein seines Romangebäudes. André Gide, nachdem er die Korrekturfahnen im Juli 1939 gelesen hatte, äußerte sich wenig begeistert: „Was das Buch selbst angeht… was soll ich Ihnen sagen? Es entspricht den Erwartungen, gerade so und ohne sie jemals zu übertreffen, zumindest fast nie“. Martin du Gard wies deshalb noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass die Bedeutung dieses letzten Romans sich nur durch seine Stellung im Gesamtwerk erschließe: „Ich glaube, dass ich richtig liege, wenn ich denke, dass das Buch nur einen Wert durch seinen Platz im Gesamtwerk hat, dass es aber in dieser Hinsicht sehr zufriedenstellend ist. Man wird das merken, wenn man die Thibault von Anfang bis Ende liest. […] Ich akzeptiere alle Bedenken, die man gegen den Rest äußern mag, aber ich glaube, dass die Komposition der Thibault ihnen helfen wird, sich gegen die Zeit zu behaupten.“

Dass es sich dabei nicht bloß um eine improvisierte Verteidigung gegen Gides Kritik handelte, zeigen die Pläne zu den „Thibault“, in denen Martin du Gard schon 1934 das Verhältnis des „Épilogue“ zum „Sommer 1914“ und zum Rest des Werks als das eines „abschließenden ‚Aussichtsturms‘, den ich gerade auf dem ‚Dach‘ [nämlich dem Sommer 1914, OM] meines Gebäudes anbringe“, bezeichnet hatte. Über eine mögliche pazifistische Wirkung seines Romans äußerte er sich nirgends. Er hatte bei der Niederschrift des „Épilogue“ schon nicht mehr die Illusion, der er sich noch 1937 in seiner Stockholmer Rede zur Nobelpreisverleihung hingeben wollte, als er sagte, es sei ihm „angenehm zu denken, dass [s]ein Werk […] nicht nur der Sache der Literatur, sondern auch der Sache des Friedens dienen“ könne.

Als er im Juni 1939 Jules Romains seine Begeisterung über die zwei Verdun-Romane aus dessen Romanzyklus „Les Hommes de bonne volonté“ mitteilte, die er gerade gelesen hatte, sagte er über seinen eigenen, soeben abgeschlossenen Roman nur knapp: „Ich spreche darin ein wenig vom Krieg, das war notwendig“ Selbst diese Bemerkung nimmt er aber noch zurück, indem er anschließt, er hätte vielleicht nicht gewagt, über den Krieg zu schreiben, wenn er Romains’ Bücher schon früher gelesen hätte, da in „Prélude à Verdun“ und „Verdun“ (beide 1938) schon alles gesagt sei, was es zu dem Gegenstand zu sagen gebe. Angesichts der schonungslosen Offenheit, mit der Martin du Gard mit seinen Briefpartnern umzugehen pflegte, sollte man diese Einschätzung nicht als eine Höflichkeitsfloskel abtun. Im Vergleich mit den beiden Verdun-Bänden von Romains, die über weite Strecken das Geschehen an vorderster Front darstellen, spricht der „Épilogue“, in dem die Front nur in Gesprächen und Erinnerungsfetzen des sterbenden Antoine auftaucht, tatsächlich nur „ein wenig vom Krieg“, ohne dass der Krieg deshalb in Martin du Gards Text weniger präsent wäre.

Selbst hier jedoch, im Briefgespräch mit einem anderen pazifistischen Autor, mit dem er in einem langjährigen, freundschaftlichen Austausch über die wechselseitigen literarischen Großprojekte stand, erwähnt er nirgends irgendwelche besonderen politischen Ambitionen seines eigenen Romans. Neben der seit Stockholm eingetretenen Desillusionierung spielte hier sicher auch Martin du Gards prinzipielle Definition der Aufgabe und der Möglichkeiten von Literatur eine Rolle, wie er sie in einer Selbstinterpretation gegenüber dem Literaturkritiker René Lalou formuliert hatte. Lalou war gerade dabei, einen Vortrag über Martin du Gard vorzubereiten. Als Leitfrage hatte er sich das Verhältnis der ‚durchgängigen Objektivität‘ („constante objectivité“) in Martin du Gards Werken zu dem Engagement gestellt, das man darin dennoch zu erkennen meine: „Dient dieses so interesselose Werk nicht am Ende doch gewissen Anliegen?“ Martin du Gard bestärkte ihn in dieser Ausrichtung seines Vortrags und versuchte selber eine Definition dieses Verhältnisses in seinem Werk: „Ich schwöre, dass es nie meine Absicht ist, irgendetwas zu beweisen, wenn ich ein Buch schreibe, sondern nur vor dem Leser einige Personen lebendig werden zu lassen, die von den Problemen umgetrieben werden, die mich beschäftigen“. Dennoch verzichte er natürlich nicht darauf, einer eigenen politischen Meinung in seinen Romanen Ausdruck zu verleihen. Aus den unmittelbar den „Épilogue“ berührenden Äußerungen lässt sich nicht erkennen, dass er hier von diesem Prinzip der Objektivität abgewichen wäre.

Bereits Anfang Juni 1939 hatte Martin du Gard aus Martinique an Gide und Schlumberger geschrieben und sie gebeten, seinen Text für die endgültige Druckfassung noch einmal kritisch durchzusehen und ihnen gleichzeitig die Vollmacht erteilt, nach eigenem Ermessen Änderungen vorzunehmen, da Rückfragen bei ihm wegen des langen Postwegs die Drucklegung unnötig verzögert hätten. Anfang August schrieb er noch einmal zuversichtlich an Schlumberger, der Roman befinde sich nun sicher im Druck. Außerdem gab er ihm Leseanweisungen für die Passagen, bei denen er politische Einwände seines Freunds vorhersah: „Dich werden besonders die Seiten aus Antoines Tagebuch ärgern, in denen es um den Krieg und um den Friedensplan von Wilson geht. Natürlich sollten diese Seiten voller Hoffnung nicht in der Atmosphäre des Sommers 1939 gelesen werden… Ich denke aber, dass sie wahr sind für den Sommer 1918, in dem Antoine sie geschrieben haben soll“.

Schlumberger gab sich Martin du Gard gegenüber dennoch begeistert. Sein Urteil, Antoines Pazifismus sei „unendlich viel überzeugender“ als der seines Bruders Jacques im Vorgängerroman „Été 1914“, ein Urteil, das Martin du Gard bloß als positive Äußerung über seinen Roman auffassen konnte, bedeutete für Schlumberger in Wirklichkeit aber, dass von dem Text eine unmittelbare Bedrohung für die französische Verteidigungsbereitschaft ausgehe und dass man sein Erscheinen um jeden Preis verhindern müsse.

Während Martin du Gard die wegen des inzwischen begonnenen Krieges außerordentlich erschwerte Heimreise von den Antillen in der festen Überzeugung antrat, in Paris bereite man die Publikation seines Romans vor, entwickelte sich im Hause Gallimard eine intensive Diskussion um die möglichen Auswirkungen der Darstellung von Antoines Agonie auf das Publikum, vor allem auf die präsumptiven Leser unter den Soldaten. Besonders Schlumberger und Jean Paulhan waren der Meinung, der Roman könne dem Verlag und Frankreich großen Schaden zufügen und wollten verhindern, dass er überhaupt der Zensur vorgelegt werde. Sie versuchten Gaston Gallimard einzureden, dass das Leben seines Sohns Claude, der sich bereits an der Front befand, durch die Publikation unmittelbar bedroht sei. Als Martin du Gard davon erfuhr, brach er den Kontakt mit den beiden ab und wandte sich direkt an seinen Schulfreund Gallimard: „Ich will nur mit Dir über den Epilog sprechen. Ich werde Paulhan nicht antworten […]. Ich werde Jean [Schlumberger] nicht antworten. Die Sache muss zwischen Dir und mir geklärt werden. Diese eifrigen Krieger und heldenhaften Greise spielen seit vier Monaten fern der Front die starken Männer, und ich möchte jegliche Diskussion mit diesen Leuten, die sich am Patriotismus überfressen haben, vermeiden.“

Mittlerweile hatte der Roman, zum großen Ärger von Schlumberger und Paulhan, am 15. Dezember die Zensur anstandslos passiert. Die beiden versuchten sich damit zu trösten, dass immer noch ein polizeiliches Verbot infolge einer Klage möglich sei. Paulhan hatte am 16. Dezember in einem Brief an Schlumberger, den Martin du Gard gelesen hatte, geschrieben: „Das Verbot erscheint mir unvermeidlich. Der Schaden, den dieses Buch anrichten kann, erscheint mir nicht weniger unvermeidlich“.

In diesem Bewusstsein schrieb auch Martin du Gard noch einmal an Gallimard und ging seinen Text nach juristisch möglicherweise anstößigen Stellen durch. Er kam dabei zu dem Schluss, dass der „Épilogue“ nichts über den Krieg sage, was nicht in den letzten zwanzig Jahren längst Teil des offiziellen Diskurses geworden und noch bis in die jüngste Vergangenheit von allen Seiten wiederholt worden sei: „Antoine sagt ohne allzu großen Nachdruck, dass er grauenhafte Erinnerungen an den Krieg hat. Aber Daladier selbst, und auch Hitler, hat diese Banalität monatelang wiederholt, und Chamberlain auch“.

Auch die von den Reden Präsident Wilsons inspirierte Idee einer abgerüsteten europäischen Föderation, die Antoine vertritt, finde sich in den jüngsten Ansprachen von Chamberlain und Halifax. Den Haupteinwand, dass die Agonie des gasvergifteten Antoine besonders demoralisierend wirke, hatte er schon vorher als fixe Idee der „alten Männer im Hinterland“ („vieilles gens de l’arrière“) bezeichnet. Denjenigen, die als Soldaten tatsächlich ihr Leben riskierten, sage er damit nichts Neues.

In der Tat waren nicht nur radikale Pazifisten ab den 1920er-Jahren davon ausgegangen, dass der kommende Krieg ein ‚Gaskrieg’ werden würde. Diese weit verbreitete Überzeugung hatte ein ganz eigenes Genre von aufklärerischer Literatur hervorgebracht, zu deren prominentesten Titeln Romane wie Johannes R. Bechers „(CH CL=CH)3As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg“ (1926), Victor Mérics „La Der des Der“ („Der letzte aller Kriege“, 1929) oder Gedichte wie Erich Kästners „Das letzte Kapitel“ (1930) zählen. Dazu kamen Aufklärungsbroschüren, Filme und internationale Konferenzen, so dass das Thema in verschiedenen medialen Formen so omnipräsent war, dass man von einem regelrechten „Mythos der Chemiewaffen“ (Olivier Lepick) in der Zwischenkriegszeit gesprochen hat.

Diesen Hintergrund muss man sich vor Augen führen um zu verstehen, dass schon Martin du Gards Entscheidung, Antoine an einer Gasvergiftung sterben zu lassen, bei den zeitgenössischen Lesern einen apokalyptischen Diskurs evozieren musste, der trotz der ansonsten vergleichsweise unaufgeregten sprachlichen Gestaltung des „Épilogue“ immer mitzuhören war. Umgekehrt stimmt aber deshalb dennoch Martin du Gards Argument, dass die wirklichen und die potentiellen Leser in einer beinahe idyllisch gerahmten Reminiszenz an den bereits überstandenen, sehr begrenzten Gaskrieg kaum eine besonders demoralisierende Lektüre sehen konnten, weil sie eben an einen viel alarmistischeren Diskurs über die Gefahren eines zukünftigen Gaskriegs gewöhnt waren.

Nach der Publikation

Als der Roman dann im Februar 1940 ungehindert erscheinen konnte, erregte er tatsächlich, von einigen negativen Kritiken abgesehen, kein besonderes Aufsehen, was Martin du Gards Prognose vom Dezember 1939 bestätigte, dass am Tag des Erscheinens „diejenigen, die heute die Veröffentlichung verhindern wollen, sehr lächerlich dastehen werden“. Eine signifikante Diskussion entwickelte sich danach noch mit Georges Duhamel, der Ende März 1940 die Lektüre des Romans beendet hatte und seinem Freund sofort seine Eindrücke mitteilte: „Mein lieber Freund, ich habe gestern abend die Lektüre des Épilogue beendet. Wenn ich mich für mein Urteil nur bei den Betrachtungen aufhalten wollte, die die Kunst des Romanautors betreffen, würde ich sagen, dass dieses Werk das beste aus der Serie ist. Du hast aus dieser langen Arbeit allen möglichen Gewinn gezogen. Das Buch ist gut strukturiert, gut gemacht, gut geschrieben.“

Martin du Gard konnte sich vermutlich sofort denken, welche Einwände, die nicht „die Kunst des Romanautors“ („l’art du romancier“) berührten, sich hinter Duhamels Konditionalsatz verbargen. Duhamel, immerhin selber Mediziner, nahm zunächst Anstoß an der Fülle der medizinischen Details, mit der der Arzt Antoine Thibault die allmähliche Auflösung seiner Atmungsorgane notiert. Doch Duhamels Haupteinwand ist nicht erzähltechnischer oder medizinischer, sondern politischer Art: „Ein anderer Aspekt, der schwerwiegendste: War es angezeigt, das Buch in diesem Moment zu veröffentlichen? Ich habe einen Teil der Pressereaktionen gelesen. Sie sind gemischt, was ich gut begreife. Wenn wir am Ende gerettet werden, wird man sagen: ‚Frankreich war so stark, dass es sich alles erlauben konnte, selbst diese Veröffentlichung’. Wenn wir untergehen – und wir werden alle gleichzeitig und schrecklich untergehen –, dann wirst Du selbst Dein Gewissen prüfen. Ich glaube nicht, wie manche es tun, dass Du absichtlich diese Stunde gewählt hast, um ein solches Buch zu veröffentlichen. Ich glaube, dass das Buch fertig war und dass Du es loswerden wolltest. Hättest Du zwei Jahre warten können? Hättest Du es gewollt? Ich weiß es nicht. Aber die Frage kann Dich quälen, heute und später noch.“

Duhamel, der bis Anfang der 1930er-Jahre selbst engagierter Pazifist war, hatte sich spätestens mit seiner Aufnahme in die Académie Française 1936 konformistischeren und zunehmend antipazifistischen Positionen angenähert. Seit Kriegsbeginn hatte er eine rege publizistische Aktivität entwickelt, um mit Zeitungsartikeln und Radiobeiträgen den Patriotismus der Franzosen während der drôle de guerre zu erhalten. Sein Appell an Martin du Gards politisches Gewissen ist in diesem Zusammenhang zu lesen. Dennoch überrascht, bei aller begreiflichen Besorgnis über den Fortgang des Kriegs, die Selbstverständlichkeit, mit der Duhamel, wie schon Schlumberger und Paulhan, einem pazifistischen Roman ein so großes Gewicht bei der Entscheidung über Sieg oder Niederlage gegen den deutschen Aggressor zugesteht. In seiner Antwort auf Duhamels Brief bemühte sich Martin du Gard denn auch, die Diskussion auf literarische Aspekte zu beschränken und bedauerte, „dass Du Dich für Dein ‚Urteil nicht nur bei den Betrachtungen aufhalten wolltest, die die Kunst des Romanautors betreffen‘, denn es scheint mir, dass es keine andere Art gibt, einen Roman zu beurteilen“. Wie schon in den Diskussionen mit Gide und Schlumberger, betonte er die Funktion des „Épilogue“ in der Architektur der „Thibault“, die für ihn mögliche Einwände gegen Einzelheiten des Abschlussromans im besonderen aufwog.

Auch Duhamel war aber zu diesem Zeitpunkt nicht bereit, einen pazifistischen Roman bloß als Roman wahrzunehmen und warnte Martin du Gard davor, dass sich eine willkürliche Auswahl vermeintlich frankreichkritischer Passagen des „Épilogue“ leicht als deutsche Propaganda missbrauchen ließe. Er schreckte nicht einmal vor dem törichten Argument zurück, sein Briefpartner befinde sich offensichtlich nicht in Übereinstimmung mit der französischen Mehrheitsmeinung: „Du scheinst mir im Moment ein wenig von der französischen Gemeinschaft zurückgezogen zu sein. Du bist nicht ‚auf dem Laufenden‘, wie der Mann auf der Straße sagen würde“.

Er fügte noch hinzu, dass ein Buch nicht nur eine „allgemein menschliche Tat“ („acte humain général“) sei, sondern, wenn es auf französisch geschrieben und von einem Franzosen publiziert sei, überdies eine „französische Tat“ („acte français“) bedeute. Martin du Gard hatte bereits kurz nach seiner Rückkehr nach Frankreich im Dezember 1939 bemerkt: „Es fällt mir schwer, die geistigen Verformungen zu begreifen, die vier Kriegsmonate dem Urteilsvermögen gewisser Leute bereits zugefügt haben“. Dennoch ließ er Duhamel nicht spüren, dass er derartige Äußerungen auch als Ausdruck jener „geistigen Verformungen“ („déformations mentales“) empfand, sondern antwortete sachlich auf Duhamels Vorwürfe.

Erstens ließen sich aus nahezu jedem Buch isolierte Passagen zu nahezu jedem Zweck missbrauchen, und er selbst traue sich zu, aus den Texten zweier „sehr offizieller Autoren“ („auteurs très officiels“), nämlich Duhamel und Giraudoux, ein „antimilitaristisches Flugblatt“ („tract antimilitariste“) zu fabrizieren. Zweitens widersprach er der Vorstellung, es könne so etwas wie einen literarischen „acte français“ geben: „Das scheint mir die Rolle des Schriftstellers außerordentlich einzuengen und den Nationalismus dort zuzulassen, wo er nichts zu suchen hat“. Drittens trat er nochmals der Unterstellung entgegen, sein Roman untergrabe die Moral der französischen Soldaten an der Front. Dies sei eine Erfindung des arrière, des ‚Hinterlands‘. Er verwies dagegen auf die vielen zustimmenden Briefe, die er von mobilisierten Soldaten erhalten habe, die sein Buch schätzten. Doch angesichts der Meldungen von den diversen Fronten, der Erfolge der deutschen Armeen und der damit wachsenden Bedrohung für Frankreich hatte er ohnehin schon bald nach dem Erscheinen der ersten Rezensionen festgestellt, dass ihn die Reaktionen, ob lobend oder ablehnend, in dieser Angelegenheit, die für ihn abgeschlossen war, nicht mehr berührten, wie er im März 1940 an eine Freundin schrieb: „Man bezeichnet mich als ‚Defaitist‘. ‚Außerordentlich unpassende Veröffentlichung‘. Man wundert sich, dass die Zensur das hat passieren lassen. Schön. Warten wir ab. Ich weiß nicht warum, aber ich habe große Mühe, mich wirklich für den Erfolg des Buchs zu interessieren. Was mich angeht, habe ich meine Meinung schon lange gebildet, das Kapitel ist für mich abgeschlossen.“

Das galt auch für die patriotischen Leser im Hause Gallimard, die sich nun bald ernsteren Problemen gegenüber sahen. Die Debatte zeigt aber, wie die durch die politische Krise ausgelösten „déformations mentales“, von denen Martin du Gard sprach, aus einem am realistischen Erzählen geschulten und um Objektivität bemühten Text, der vor September 1939 einen Leser wie Gide eher gelangweilt hatte, eine „außerordentlich unpassende Veröffentlichung“ („publication singulièrement inopportune“) werden lassen konnten. Ein Grund für diese gegensätzliche Wahrnehmung des Romans könnte aber auch sein, dass Paulhan und Duhamel in ihrer patriotischen Aufgeregtheit vielleicht doch die genaueren Leser waren. Die Debatte wäre dann nicht nur ein Beleg für die politisch besonders aufgeladene Wahrnehmung der Aufgabe des Intellektuellen in Kriegs- und Krisenzeiten, sondern auch der Ausdruck einer durchaus zutreffenden Ahnung von den subtilen erzählerischen Qualitäten des „Épilogue“ gerade auf der Seite derjenigen, die ihn am liebsten verbieten lassen möchten.