Gesungene Lyrik

Lars Eckstein plädiert in „Reading Song Lyrics“ für eine literatur- und kulturwissenschaftliche Untersuchung von Liedtexten

Von Jutta LadwigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jutta Ladwig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Oktober 2009 forderte das Magazin „Literaturen“ den Literaturnobelpreis für den Singer-Songwriter Bob Dylan. Redakteur Heinrich Detering rechtfertigte diesen Appell so: „Weil niemand so autoritativ wie [Bob Dylan] definiert hat, was Song Poetry sein könnte, deshalb hat keiner wie er die Literatur für die populäre Musik fruchtbar gemacht – und keiner hat wie er diese populäre Musik für die Literatur fruchtbar gemacht, in der Verschmelzung von Shakespeare und den Ministrel Shows, von Rimbaud und Rock’n’Roll, Brecht und Blues.“

Eine provokante These, allerdings zeigt sie exemplarisch, dass Song Poetry oder Liedtexte nicht dasselbe Interesse der Literaturwissenschaftler wecken, wie beispielsweise traditionelle Gedichte. Tatsächlich werden Liedtexte vergleichsweise stiefmütterlich behandelt, denn anders als die rein gedruckte Lyrik handelt es sich dabei um durch Musik vorgetragene, also „dargestellte“ Poesie. Dieses Kriterium jedoch wirkt veraltet, bedenkt man, dass Dichtung, Musik und deren Aufführung ein fester Bestandteil unserer medialen Gegenwart sind. Lars Eckstein, Professor für Anglistik an der Universität Potsdam, kritisiert diese Haltung der Literaturwissenschaftler und legt mit „Reading Song Lyrics“ die erste systematische Einführung ins Genre Liedtext vor.

Bereits in der Einleitung erklärt Eckstein, dass Liedtexte die „andere Tradition moderner Poesie“ darstellen. Wird sie von literarischen und kulturellen Studien ausgeschlossen, resultiere daraus eine tief greifende einseitige Betrachtungsweise verbaler Kunst und Musik, und damit auch der modernen Kultur. In seiner Studie unternimmt Eckstein den Versuch einer systematischen Annäherung an die Frage, in welchem Zusammenhang Liedtexte mit der semantischen Entfaltung der vorgetragenen Lieder stehen. Beachtet werden dabei unterschiedliche Aspekte wie musikalische Strukturen, mediale Umstände oder performative Zusammenhänge. In drei ausführlichen Fallstudien aus dem 16. und 18. Jahrhundert sowie aus dem Jahr 2000 illustriert er, inwieweit die Bedeutung der ausgewählten Liedbeispiele im Kontext einer ausgedehnten ideologischen Diskursbildung eine Rolle spielt.

„Reading Song Lyrics“ ist klar strukturiert: Im ersten Teil stellt Eckstein ein fachübergreifendes System zur Interpretation und Analyse von Liedtexten vor und nähert sich Schritt für Schritt den verschiedenen theoretischen Fragestellungen wie Aufführung und Performativität, allgemeine Konventionen und kultureller Gewinn oder Medialität und musikalische Multimedia.

Wie das in der Praxis aussieht, erläutert er anhand des Folksongs „Scarborough Fair“, welcher durch die Interpretation von Simon & Garfunkel wieder populär wurde, wodurch das gesamte Thema anschaulich und nachvollziehbar dargelegt wird. Gleiches trifft auch auf  den zweiten Teil der Publikation zu. Die drei Fallstudien „Love is in the Ayre“ (1597) von John Dowland, Sara Baartmans „The Hottentot Venus“ (1811) und „Real Great Britain“ (2000) von der Asian Dub Foundation skizzieren die Durchführbarkeit dieses Interpretationsmodells im Hinblick auf den kulturellen und historischen Hintergrund. Dabei kommt Eckstein zu dem Schluss, dass mit diesen Liedtexten auch die zeitgenössische Kultur transportiert wird, und somit ebenfalls einen wertvollen Beitrag für die Kulturwissenschaften beisteuert.

Eckstein beweist, dass Liedtexte bisher zu Unrecht von Literatur- und Kulturwissenschaften vernachlässigt worden sind. Dieses Genre stellt eine besondere Art von Kunst dar, die sich mühelos unter literaturwissenschaftlichen Aspekten untersuchen lässt und gleichzeitig Aufschluss gibt über den kulturellen Hintergrund der Zeit, in der diese Lieder entstanden und vorgetragen wurden.

Ecksteins vorgestelltes Interpretationsmodell lässt sich anhand des ausgesuchten Beispiels anschaulich nachvollziehen. Zwar werden diese Kapitel von einer Menge Theorie begleitet, doch Eckstein gelingt es, diese so mit Beispielen zu verknüpfen, dass der Stoff verständlich vermittelt wird. In ausführlichen Fallstudien erarbeitet Eckstein nicht nur eine Interpretation der ausgewählten Texte, sondern beschreibt den kulturhistorischen Entstehungshintergrund, was die Analyse des Liedtextes abrundet. Auch die Sprache ist der Publikation angemessen, die Sachverhalte werden unkompliziert beschrieben, fachspezifische Ausdrücke erläutert.

„Reading Song Lyrics“ erfüllt alle Voraussetzungen, ein Standardwerk zur wissenschaftlichen Analyse von Liedtexten zu werden. Eckstein zeigt auf, welcher Wert diesen Texten innewohnt. Sie weiterhin zu vernachlässigen bedeute, ein unvollständiges und einseitiges Bild verbaler Kunst und der Musik zu vermitteln – dabei ist Musik längst nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken: Jugendliche zum Beispiel identifizieren sich mit Musik und den vorgetragenen Liedtexten. Daraus entstehen Dresscodes, Verhaltens- und Ansichtsweisen oder Philosophien, und daraus wiederum verschiedene Jugendkulturen. Liedtexte sind ein fester Bestandteil unserer Gegenwartskultur. Und auch die Texte Bob Dylans zeigen nicht nur Dylans poetisches Können auf, sondern auch die historischen Einflüsse, die ihn geprägt haben: amerikanische Folk Songs, Krieg, Rassenunruhen, Protestsongs, und die Gegenwart.

„Bob Dylan braucht den Nobelpreis wirklich nicht. Aber dem Nobelpreis täte Dylan gut. Es wird Zeit.“ So schließt Detering seinen Artikel. Doch nicht nur dem Nobelpreis täte dies gut, sondern auch dem Genre Liedtext, der Song Poetry. Denn dann würde sie von der Literatur- und Kulturwissenschaft endlich ernst genommen werden. Vielleicht ist Lars Ecksteins „Reading Song Lyrics“ ein Schritt in diese Richtung.

Titelbild

Lars Eckstein: Reading Song Lyrics.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2010.
291 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9789042030350

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