Ein flimmerndes Kaleidoskop

Thomas Lehr legt mit „September. Fata Morgana“ einen hochkomplexen, lyrischen Roman vor, dem es gelingt, in interkultureller Erzählweise dem Konflikt des 11. September gerecht zu werden

Von Jule D. KörberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jule D. Körber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Fata Morgana ist ein physikalisches Phänomen, keine optische Täuschung und erst recht keine Wahnvorstellung. Da die sogenannte optische Dichte von heißer Luft geringer ist als die von kalter Luft, wird, wenn diese Luftschichten bei Windstille aufeinandertreffen, das Licht vom optisch dünneren Medium weg gebrochen, es kann zu einer Totalreflexion von etwas kommen, was in der Realität an einem anderen Ort ist. Doch dieses Abbild der Wirklichkeit ist flirrend, es ist für das Auge nicht greifbar.

Thomas Lehr hat schon in seinen ersten Romanen die sprachliche Struktur nach den Inhalten entworfen und für seine Themen jeweils eine eigene, kohärente Ausdrucksweise gefunden. In seinem neusten Roman „September. Fata Morgana“, geht er noch einen Schritt weiter.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zwei Väter und ihre Töchter. Martin ist ein geschiedener deutsch-amerikanischer Germanistikprofessor, dessen Tochter Sabrina im World Trade Center stirbt. Der Iraker Tarik ist Arzt und hat in Paris studiert, seine jüngere Tochter Muna stirbt 2004 bei einem Bombenattentat in Bagdad während des Irakkriegs. Zwei Welten und zwei Schicksale, die durch die Ereignisse des 11. September untrennbar verbunden sind. Zwei Familien, die aufeinander prallen wie Luftschichten verschiedener Temperaturen bei Windstille, die jeweils die andere Welt flirrend reflektiert sehen – und sich wünschten, es wäre eine optische Täuschung, was dort passiert.

Erzählt wird ohne Interpunktion, in einer poetisch verdichten, fließend-flirrenden Sprache mit einem Sound, welcher der jeweiligen Kultur des Landes entspricht – auf der irakischen Seite orientalisch-märchenhaft, mit rauschhaften Bildern, mit eindringlichen Worten, die dabei keine politische Reflektionen und Kritik am Zustand des Iraks auslassen. Und auf der westlichen Seite wird fast nüchtern-reflektierend geschildert, mit nur selten zugelassenen Gefühlsausbrüchen und Anklagen. Hierbei spart Lehr es nicht aus, seine Figuren die Medienbilder des 11. September, die sich in das kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation eingebrannt haben, abrufen zu lassen: So sieht der irakische Arzt Tarik an jenem Tag einen Fernseher durch die Scheibe eines Restaurants:

„… von links nach rechts zuckende Schrift wild gestikulierende TV-Re-
porter
die Feuer- und Trümmerwolke die aus den Wolkenkratzern hervor-
quillt wie blühendes Mark aus dem Stängel einer Blume hinter dem Glas
eines Bildschirms auf der Theke eines Restaurants am Nisur-Platz ein
Wolkenkratzer ein zweiter brennender Turm ich sehe durch das Fenster
wie
in den geöffneten Schädel eines Irren…“

Und Martin nimmt das Ereignis mit eingeschobenen Breaking News war und bekommt einen Anruf, weil seine Ex-Frau im World Trade Center arbeitet

„… keine Wolke um daraus
zu fallen
ein auf dem Boden einer steinernen Höhle liegender bärtiger schlan-
ker Mann mit orientalischer Kopfbedeckung die Wange in die Hand des
rechten Arms gestützt unter einer Wolldecke locker plaudernd irgendwie
ausgestopft mit einer Art unheilbarer Eitelkeit…
das Telefon
jetzt weiß ich dass Seymours Anruf genau zu den Bildern gehört die
ich sah genau aus dem Rauch und Qualm kam von einer benommenen
im Nebel wandernden stolpernden Figuren die mit Asche mit weißem
Schaum mit Schnee und schwarzen Federn bedeckt schienen am Boden
Hinter zerbeulten Autos kauerten…
er stand unversehens in einer un-
geheuerlichen Säule wirbelnden Papiers vor der Siegesparade des Terrors
durch deren Schneetreiben hindurch die Fassaden der Türme glänzten
aus denen Menschen fielen wie Tränen
er sah
nichts…“

Lehrs Figuren sind gebildet und weitsichtig: die Männer reflektierte Akademiker, keine blinden Fanatiker; und auch ihre Töchter erfassen ihre Situation genau und wissen, wo sie stehen – die Kapitel schließen oftmals mit von ihnen verfasster Lyrik die sich liest wie die Quintessenz des vorher berichteten, erzählten und fantasierten.

Strukturiert ist der Roman, der (nicht nur) durch seine Sprache mehr an einen Epos oder ein Langgedicht erinnert als an einen klassischen Roman, durch die kapitelweise wechselnden Perspektiven, es wird alternierend aus der Sicht der vier Hauptfiguren erzählt. Die Lebensgeschichten werden parallel wahrgenommen und sind untrennbar wie ein gordischer Knoten ineinander verschränkt. Die Figuren stecken in der Weltgeschichte, ohne ihr entrinnen zu können.

In einem Interview mit „Schau ins Blau“, der Zeitschrift des interdisziplinären Zentrums für Literatur und Kultur der Gegenwart der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, spricht Thomas Lehr davon, dass er sich an Homers „Ilias“ orientiert hat und erklärt, dass es zwei elementare Dinge gibt, die die Ilias ausmachen: „Das eine ist das dialogische Prinzip: Wenn man einen Krieg erzählen will und wenn man ihn fassen möchte, dann muss man beide Seiten darstellen, sowohl die Trojaner als auch die angreifenden Achaier. Und zweitens, dass es möglich ist, das Kriegsgeschehen durch eine sehr streng geformte rhythmische Sprache für den Leser erträglich zu machen.“

Keine Kultur ohne Gegenkultur – und da bezieht er sich auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, wenn er sagt: „Die Selbsterkenntnis ist nur im Dialog möglich. […] Wenn das Buch etwas lehren will, dann ist es das Hegelsche Konzept, dass die Gewinnung der eigenen Subjektivität nur durch die Anerkennung des Anderen möglich ist. […] In ,September‘ ist der Dialog die Voraussetzung der Definition der eigenen Kultur.“

Lehr setzt historische Bezüge und blendet die Geschichte des Iraks der letzten Jahrzehnte ein, er zitiert unter anderem den Gilgamesch-Epos, Walt Whitman, Hafi, Abu Nuwas und Emily Dickinson. Unweigerlich wird man an Babylon erinnert, dem Ursprung der Kulturen.

Martin, der deutsch-amerikanische Professor, forscht während der Romanhandlung über Johann Wolfgang Goethes Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“, die nach dem Tod seiner Tochter eine völlig neue Bedeutung für ihn gewinnt. Mit all diesen Versatzstücken verweist Lehr auf die gemeinsamen Wurzeln dieser so unterschiedlichen Kulturkreise.

Dieser lyrische Singsang, der mit musikalisch einsetzenden Wiederholungen arbeitet, und das raumgreifende Assoziieren über die jeweilige Situation, das nahezu halluzinogen das Bewusstsein der Protagonisten zeigt, schaltet schnell und fließend um von Gedanken und Überlegungen zu Räumen und Szenen, von Prosa zu Lyrik bis hin zu essayistischen Passagen und minutiösen Reportagen. Es gibt ein ständig Changieren zwischen retrospektivem Erzählen, bei dem aus der Gegenwart heraus die Vergangenheit betrachtet und neu bewertet wird, und prospektiven Gedanken, die vorausschauend die Folgen der Ereignisse abzusehen versuchen.

Auf Erinnerungen wird von den Figuren zurückgegriffen wie auf einen Mythenschatz, in die immer wieder die Gegenwart einfällt und so vieles neu kontextualisiert. Die eigentliche Kriegshandlung mit dem Hauptkriegsjahr 2003 lässt Lehr absichtlich aus – und vermeidet damit eine direkte Ästhetisierung des Krieges. Den Abschluss des Romans bildet ein Epilog, der mit September 2004 datiert ist und mit dem durch einen der seltenen Punkte geschlossenen Satz „Es gibt keinen Sieger außer Gott.“ endet. Dort bilden die Stimmen der Toten und Lebenden einen eng verwobenen Sprachteppich.

All das ist an ästhetischer Komplexität kaum zu überbieten und entwickelt dennoch einen enormen Sog. So hat Thomas Lehr in „September. Fata Morgana“ eine Romanarchitektur gefunden, die diesem nicht fassbaren Konflikt gerecht wird.

Titelbild

Thomas Lehr: September. Fata Morgana. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
477 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235571

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