Die ultimative Kränkung

Julian Barnes stellt sich in „Nichts, was man fürchten müsste“ seiner Angst vor dem Tod und dem Sterben

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch den mächtigen Manager trifft es: die Todesprognose. Es bleiben ihm noch ein paar Monate. Also stellt er – seinem Wesen gemäß – als erstes einen Plan auf, um den Lebensrest höchst effizient zu nutzen und schreibt darüber: „Jetzt bin ich motiviert, meinen Tod zu einem Erfolg zu machen.“

Fasziniert, amüsiert, verwirrt und gerührt berichtet Julian Barnes von diesem Fall. Es ist eine von vielen Todes-Geschichten in diesem Buch. Keine kann ihm seine starke Sterbensangst nehmen. Treu begleitet sie ihn seit Kindertagen, so gern er auf die nächtlichen Panikattacken und das tägliche An-den-Tod-Denken verzichtete. Immerhin verdankt er den Ängsten sein neues Buch: „Nichts, was man fürchten müsste“. In gewisser Weise versucht er mit ihm einzulösen, was er in jungen Jahren forsch so formulierte: „Klären wir mal die Sache mit dem Tod“. Am ehesten ist das Buch ein extrem langer Essay, keine Autobiografie, wie er betont, kein Roman, vielleicht auch der heimliche Versuch, einer alten Gattung zu einer persönlich gefärbten Wiederauferstehung zu verhelfen: der Sterbekunst.

Dass bei dem humorerprobten Romancier die gut dreihundert Seiten über unsere, vor allem seine, Endlichkeit nicht bierernst ausfallen würden, lag auf der Hand. Besonders unterhaltsam liest sich sein selbstgeschriebener Nachruf. Witzig sind außerdem die vielen Zitate und Anekdoten, die er bewunderten Autoren der Vergangenheit verdankt.

Anscheinend ganz offenherzig, immer ironiegeschwängert und oft verwundert über sich selbst und die Absurdität des ganzen Daseins, gewährt Barnes mit dem Buch einen tiefen Einblick in sein Leben und dessen so notwendige wie absurde Todesverwobenheit. Das Dahinsiechen und Sterben von Bekannten, Freunden und Familienangehörigen und vor allem der Eltern kommt in vielen Einzelheiten vor: Schlaganfall, Demenz, Lähmung, Verlust der Autonomie, Krebs, rascher Exitus, Unfälle, Selbstmorde. Dazu tischt Barnes detailreich Erinnerungen der Kindheit auf, die sich aber entschieden von denen seines Bruders unterscheiden. Lebensprägende Vorstellungen erweisen sich auf einmal als offensichtliche Irrtümer oder zumindest nur lückenhafte Versionen der Vergangenheit – eine spannende Erkenntnis für den Fiktionalisten.

Das macht Freude und bietet Raum für eigene Gedanken, Ertapptheit, ja Erkenntnisse. Leider bleibt Barnes bei Persönlichem und bisweilen Anekdotischem nicht stehen. Er will viel mehr, ohne recht zu klären, was es eigentlich wäre. So spielen Gott und die Religion als fundamentale Kategorien abendländischen Daseins und auch die Kunst eine große Rolle. Sympathisch sein Satz: „Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.“ Doch auch die Neurologie tritt noch auf den Plan, genauer gesagt die moderne Hirnforschung. Und die Genetik. Und die Evolutionsbiologie.

Ein bisschen viel für das Buch. Dessen Originalität im Persönlichem und Literarischen leidet darunter, dass sich Barnes als Dilettant auf vielen weiteren Gebieten bewegt, ohne seine Grenzen zu erkennen, ohne genügend fachlichen Rat einzuholen. So tischt er immer wieder mal Banalitäten, Halbverstandenes und schlicht Falsches auf. Nicht viel besser sind Überlegungen sehr durchschnittlichen Niveaus mit allerlei Fehlurteilen über die Geschichte, das Sterben, die Kunst, als hätte das Nachdenken über diese Themen nicht schon bessere und kürzere Bücher hervorgebracht (etwa Marianne Groenemeyer kluges Bändchen „Das Leben als letzte Gelegenheit“). Von einer eigenständigen Durchdringung wie sie Sigmund Freud, Elias Canetti, Thomas Mann oder Marcel Proust in ihren Werken gelingt, ist Barnes himmelweit entfernt.

Er widerspricht und wiederholt sich und das nur manchmal absichtsvoll. Er präsentiert öfters Gemeinplätze, produziert Kitsch und äußert kuriose Urteile, vor allem in puncto Gott und Religion: „Die Religion führt weder zu einer besseren noch zu einem schlechteren Verhalten der Menschen…“. Den vielen Millionen, die im Namen von Religionen geknechtet, misshandelt und getötet wurden und werden, spricht das Hohn, selbst wenn er sich auf den nur angeblich freien Willen beruft. Barnes’ Argumente ähneln viel zu oft dem Eiertanz. Von ihrer Ungenauigkeit zu schweigen.

Versöhnlich stimmt an dem Scheitern, dass es in der Natur der Sache liegt. Barnes stellt sich ja einer unausweichlichen Überforderung, dem Tod, der ultimativen Kränkung des Individuums und der Menschheit. Er tut es durchweg rührend, neugierig, ängstlich und mutig bis zur komischen Peinlichkeit. Jedenfalls, wo es um seine Ängste, Hoffnungen und Ideen geht, um seine Familie und seine Geschichte, um sein Schreiben, das ihm übrigens nicht als Therapeutikum diente. Überall dort trifft Barnes die richtigen, oft funkelnden Wörter: Kunst-Glühwürmchen in der einbrechenden Dunkelheit.

Titelbild

Julian Barnes: Nichts, was man fürchten müsste.
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
320 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783462041866

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