Mehr oder weniger im Lot

Richard Russos wohlkonstruierter Ehe- und Familienroman „Diese alte Sehnsucht“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Pulitzer-Preisträger gehört der 1949 in Johnstown geborene Richard Russo zu den bekannten US-amerikanischen Autoren. Unter dem Titel „That Old Cape Magic“ ist im vergangenen Jahr sein neuer Roman bei Alfred A. Knopf in New York erschienen. Als „Diese alte Sehnsucht“ liegt jetzt bei DuMont dessen deutsche Übersetzung von Dirk van Gunsteren vor, der unter anderem auch Bücher von Philip Roth und John Irving übersetzt hat.

„Diese alte Sehnsucht“ gilt Cape Cod. Dort verbringt das Einzelkind Jack Griffin jahrelang mit seinen Eltern, beide Dozenten an einer „riesigen staatlichen Uni in Indiana“, den Sommerurlaub. Um die Ehe der Eltern steht es nicht zum Besten, wie sich Griffin erinnert: „Seine Eltern waren weniger miteinander als vielmehr mit einem Gefühl der Erbitterung verheiratet gewesen, weil sie jedes Jahr elf Monate im Exil des ‚Scheiß-Mittelwestens‘ verbringen müssen – ein Wort, das nicht ausgesprochen, sondern ausgespien wurde.“ Das Gefühl vom Leben betrogen zu sein, kompensieren beide mit „Affären und taten, als wären sie zutiefst verletzt, wenn diese ans Licht kamen.“

Bis zu seiner eigenen Hochzeit mit Joy vor mittlerweile 30 Jahren, wie sich der 55-jährige Griffin auf der Fahrt zum Cape erinnert, wo Kelsey, die beste Freundin seiner Tochter Laura, heiratet, war er der Meinung, dass sich die Eltern nur seinetwegen zunächst nicht getrennt hätten. Seine Mutter belehrte ihn an seinem Hochzeitstag eines Besseren, oder vielmehr eines Schlechteren: „Du lieber Himmel, nein das warst nicht du. Was uns zusammengehalten hat, war der Zauber von Cape Cod. ‚That Old Cape Magic‘ – weißt du noch, wie wir das jedes Jahr auf der Sagamore gesungen haben?‘“

Das Cape samt dem ersehnten Haus ist für Griffins Eltern immer die Chiffre einer besseren Zukunft, „einer Zukunft, die nur sie zu sehen vermochten.“ Und nun, auf der Fahrt zur Hochzeit der besten Freundin seiner Tochter muss sich Griffin – mit der Asche seines vor neun Monaten verstorbenen Vaters im Kofferraum – eingestehen, dass die alten Familienmuster auch bei ihm und seiner Frau Joy und auch der Tochter Laura wirken. Dabei wollte er nie so werden wie seine Eltern. Nach einer eher mittelmäßigen Karriere als Hollywood-Drehbuchautor nimmt er eine Professur an einem College im Nordosten an, um insgeheim immer noch seinem Traum von einer erfolgreichen Hollywood-Karriere nachzuhängen. Und wie die Eltern löst sich Griffin – wie auch Joy – nicht von einem unverwirklichten Traum: „In Truro hatten sie Pläne für ihr künftiges Leben gemacht, basierend auf Vorstellungen, die sie törichterweise für ihre eigenen hielten. Joy hatte gesagt, was sie wollte, während Griffin (und das verriet einiges) gesagt hatte, was er nicht wollte: eine Ehe, die auch nur entfernte Ähnlichkeit mit der seiner Eltern hatte – als wäre diese negative Definition ein eleganter Ersatz für eine positive.“

Und wie seine Eltern trennen sich nach der Hochzeit von Kelsey Joy und Griffin, um dann ein Jahr später bei der Hochzeit von Laura, die zeitlebens fürchtete, ihre Eltern könnten sich trennen, mit neuen Partnern wieder aufeinander zu treffen. Zwischenzeitlich ist auch Griffins Mutter gestorben, mit der sich der Sohn, je länger sie tot ist, umso intensiver unterhält. Und auch ihre Asche befindet sich in seinem Kofferraum, darauf wartend, endlich am Cape verstreut zu werden.

Je länger die exakt – und an manchen Stellen allzu exakt – konstruierte Geschichte dauert, desto weniger überrascht es, wenn auch Joy und Griffin am Ende, fast so wie die Eltern, die trotz neuer Partner offenbar weiter eine Beziehung unterhalten, wieder zusammen kommen. „Er fühlte sich im Lot. Okay, vielleicht mit einer halben Blase Abweichung. Mehr oder weniger im Lot.“

Ein Bild, das Griffin einst als Helfer bei einer Baukolonne von zwei schweigsamen Kollegen übernommen und auch für das Schreiben einer Kindheitsnovelle, die er während der Trennung von Joy zu Papier bringt, gebraucht. Bei einem Fundament, so erklären die beiden Kollegen Griffin, sei „eine halbe Blase keine große Sache“. Wenn das Haus allerdings 30 Stockwerke tragen soll, sehe das anders aus: „Eine halbe Blase mal dreißig Stockwerke – das wäre dann allerdings schon ziemlich aus dem Lot. Und so, wurde ihm jetzt bewusst, hatte er sich vor zwei Tagen gefühlt, als er seine Sachen gepackt hatte und allein nach Boston gefahren war: wie im dreißigsten Stockwerk eines Hauses mit einer halben Blase Abweichung. Eben noch im Lot, aber jetzt plötzlich nur noch mehr oder weniger im Lot.“

Als eingängige Strandlektüre – der Umschlag mit fünf leeren Campingstühlen an einem menschenleeren Strand verlangt diesen Leselokus geradezu – mag „Diese alte Sehnsucht“ ein willkommenes und unterhaltsames Sommervergnügen sein. Insgesamt kommt Russos Roman jedoch allzu glatt und mit der schriftstellerischen Wasserwaage erstellt daher, zumal der Protagonist dann überflüssigerweise am Ende überlegt, „ob ‚im Lot‘ vielleicht ein anderes Wort für ‚glücklich‘ war.“

Titelbild

Richard Russo: Diese alte Sehnsucht. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren.
DuMont Buchverlag, Köln 2010.
352 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783832195397

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch