Jenseits der Bescheuertheitsgrenze

Über das Buch zum „Science Fiction Jahr 2010“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwar kann die im Heyne Verlag erscheinende Reihe „Das Science Fiction Jahr“ nun schon auf eine lange Vergangenheit zurückblicken, doch schauen ihre AutorInnen naturgemäß lieber in die Zukunft. Genauer gesagt in die Bücher, Filme und sonstigen Werke, die KünstlerInnen des Genres während des vergangenen Jahres geschaffen haben. Dabei wendet sich der Band nicht an ein wissenschaftliches Fachpublikum, sondern will die Fans ansprechen. Dass dies gelingt, wird Jahr um Jahr durch die neueste Ausgabe belegt. Unter den Forschenden kulturwissenschaftlicher Disziplinen dürfte hingegen nicht nur die oft lässige bis nachlässige Sprache vieler Beiträge auf Befremden stoßen. Auch so manche Behauptung – von Thesen mag man meist kaum sprechen – dürfte wenig Zustimmung erfahren.

Der zentrale Text des Bands für das Jahr 2010 bildet mit seinen rund 150 Seiten fast schon selbst ein kleines Buch und widmet sich „Zeitmaschinen, Zeitreisen und Zeitparadoxien in Science und Fiction“. Der Verfasser Rüdiger Vaas nähert sich seinem Gegenstand über ausgedehnte Ausflüge in die ,harten Wissenschaften‘, aus denen er gerne diverse, nicht ohne weiteres verständliche Formeln mitbringt, die sich nicht immer auf glückliche Weise mit seinen auf Lockerheit getrimmten Sprachfloskeln verbinden.

Den größten Teil des Bandes bestreiten wie stets kürzere und längere Texte unterschiedlicher Qualität, die auf Kapitel zu Literatur, Kunst, Hörspiel, Comic, Computer und Film verteilt wurden. Adam Roberts etwa preist den „einzigartigen Science-Fiction-Erzähler“ J. G. Ballard und Wolfgang Neuhaus macht in Walter Jon Williams den „Autor zur ,Krise‘“ aus.

Usch Kiausch versucht dem „Phänomen“ Frank Schätzing „gerecht“ zu werden und spricht den Romanen des von den Herausgebern Sascha Mamczak und Wolfgang Jeschke zum „professionellen Zukunftsvisionär“ hochgelobten Autors eine „gründliche politische und wissenschaftliche Recherche“ zu. Zudem findet sie den restringierten Sprachcode von Schätzings Werken „erfrischend flapsig“, wobei sie über die zumindest im „Schwarm“ allerorten eingestreuten und zumeist Figuren in den Mund gelegten misogynen Sexismen stillschweigend hinwegliest. Dafür moniert sie die bei der Lektüre sowohl dieses Buches wie auch des Nachfolgers „Limit“ erzeugte „Langeweile“.

Simon Spiegel hat dem auf Papier festgehaltenen Wort hingegen die bewegten Bilder auf der Leinwand vorgezogen und sich mit „Avatar“ den diesjährigen cineastischen Kassenschlager des Genres angeschaut, der zwar „visuell ansprechend, technisch zweifellos herausragend, in Sachen Story aber ziemlich enttäuschend“ sei. All das trifft zu. Und die Story enttäuscht noch mehr, wenn man Ursula K. LeGuins SF-Roman „The Word for World is Forest“ (in Deutschland unter dem Titel „Das Wort für Welt ist Wald“ erschienen) kennt. Denn alles, was am Plot des Films originell erscheinen könnte, findet sich bereits in diesem Roman aus dem Jahre 1972. Die Intention von Spiegels Beitrag, der zu den kenntnisreichsten Texten des Bandes zählt, ist es, James Camerons Film „ein bisschen theoretisch abzuklopfen und mit einigen gängigen Konzeptionen der SF-Forschung zu konfrontieren“, wie er allzu bescheiden formuliert. Das eigentliche Interesse des Autors einer erhellenden Studie zur „Poetik des Science-Fiction-Films“ richtet sich dabei auf die Ästhetik des „Verhältnisses von Naturalisierung und Errettung“ in dem zur Rede stehenden Film.

Zwar hat Spiegel einen wirklich lesenswerten und erhellenden Text vorgelegt. Doch lässt sich das wahrhaftig nicht von jeder Seite dieses dickleibigen Bandes sagen. Und gelegentlich finden sich auch wahre Ärgernisse. So muss man in einigen Beiträgen und Bildunterschriften ebenso wie bereits bei der Lektüre früherer Bände auch diesmal wieder diverse Sprüche mit sexistischem Zungenschlag über sich ergehen lassen, die man vielleicht auf dem Pausenhof im Munde pubertierender Jungs erwarten würde, aber nicht zwischen den Buchdeckeln eines sich einigermaßen seriös gebenden Buches. Etwa wenn ein Anonymus zu zwei Porträts der weiblichen Star-Trek-Figuren Janeway und Seven of Nine den sich augenzwinkernd an eine männliche Leserschaft richtenden Machospruch „Was die eine im Kopf hat, hat die andre in den, nun ja, Platinen“ getextet hat. Nach der gleichen Mach(o)rat verfährt eine Filmrezension: „Scarlett Johansson sieht auch in SS-Uniform – öh – interessant aus.“ In anderen Filmbesprechungen werden gestandene Schauspielerinnen herablassend als „Mädels“ angesprochen. Und in der Rezension des Filmes „Transformer 2 – Die Rache“ stellt jemand unter dem Pseudonym „sew“ die rhetorische Frage: „Hat eigentlich schon mal jemand bemerkt, wie unfassbar dämlich Megan Fox aussieht. Der debil halboffene Mund? Die sitzende Frisur? Der in seiner penetranten Knackigkeit groteske Hintern? Komplett idiotisch. Der laborgezüchtete feuchte Albtraum dessen, was sich FHM-Leser und andere Deppen vermutlich unter einer sogenannten attraktiven Frau vorstellen. Das ist nicht mal mehr sexistisch, dazu ist es einfach zu bescheuert.“ Als gäbe es für Sexismus eine Bescheuertheitsgrenze. Aber vielleicht hält der Verfasser (oder sollte es gar eine Verfasserin sein?) Sexismus am Ende gar für intelligent?

Titelbild

Wolfgang Jeschke / Sascha Mamczak (Hg.): Das Science Fiction Jahr 2010.
Heyne Verlag, München 2010.
1152 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783453526815

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