The Great American Novel
„Rost“ von Philipp Meyer
Von Martin Gaiser
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBis einschließlich 1995 wurde in Deutschland der sogenannte Kohlepfennig erhoben, ein von den Verbrauchern zu bezahlender Aufpreis auf die Strompreise zur Subventionierung des heimischen Kohlebergbaus. Seit seiner Abschaffung wird der Steinkohleabbau staatlich subventioniert. In Zeiten von Wind- und Solarenergie ist diese Unterstützung einer „alten“ Energieform immer wieder in Frage gestellt und diskutiert worden. In „Rost“ greift der junge amerikanische Schriftsteller Philipp Meyer bezogen auf die Stahlindustrie und die Verhältnisse in seinem Land dieses Thema auf. Das kleine Städtchen Buell inmitten einer einst reichen Stahlregion in Pennsylvania ist Hauptschauplatz dieses Erstlings, den man gar nicht genug rühmen kann. Doch im Gegensatz zum deutschen Ruhrgebiet, wo zumindest teilweise der Wandel vom Industrierevier zur Lebens- und Kulturregion für viele Menschen geglückt ist und die vielfältigen Probleme wie Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Flucht, Drogen- und Alkoholmissbrauch nicht überdurchschnittlich auftreten, ist es in Buell und Umgebung trostlos. Eine weitere Folge des wirtschaftlichen und damit auch sozialen Niedergangs ist die zunehmende Radikalisierung, die Meyer in einen Satz packt: „Als die Stahlindustrie unterging, waren sie aufgetaucht, und Pennsylvania war mittlerweile voll von ihnen“. Sie, das ist in diesem Fall die rassistische „Sturmfront“. Allerdings ist „Rost“ ein Roman und keine Abhandlung über die Folgen ökonomischer Depression, folglich gibt es eine Handlung. In deren Zentrum stehen zwei junge Männer: Isaac English und Billy Poe. Isaac lebt, nachdem seine Mutter sich umgebracht hat und seine Schwester Lee zum Studium nach Yale gegangen ist, bei seinem pflegebedürftigen Vater. Er ist hochbegabt, ein Außenseiter, zudem von kleinem Wuchs. Und er will endlich raus aus Buell, will Astrophysik studieren.
Um diesem Ziel schnell näher zu kommen, hat er seinem Vater über 4.000 Dollar geklaut. Mit diesem Geld wollen er und sein ungleicher Freund Billy abhauen. Der lebt mit seiner Mutter Grace in einem Trailer. Grace arbeitet als Näherin, lebt am unteren sozialen Rand, lässt sich immer wieder von ihrem nichtsnutzigen Mann, der hinter jedem Rock her ist, rumkriegen und will für sich und ihren Sohn ein besseres Leben. Das erhofft sie sich von Bud Harris, dem Polizeichef von Buell, der sie zu lieben scheint und mit ihr schläft. Billy hängt viel rum, jobbt mal hier, mal dort und kann sich nicht aufraffen, aus seinem Talent beim Football etwas zu machen.
Die schützende Hand Bud Harris’ hat ihn bisher vor harten Strafen verschont, doch der zu jeder Schlägerei bereite Billy muss aufpassen. Da kommt ihm Isaacs Vorschlag willkommen, mit ihm gemeinsam abzuhauen. Und was wie Jack Kerouacs „On the road“ beginnt, endet sofort in einer alten verlassenen Werkshalle, wo die Beiden wegen eines Unwetters Unterschlupf suchen. Kaum haben sie sich eingerichtet, kommen die „Bewohner“ der Halle, drei Obdachlose. Es kommt zum Wortwechsel, Billy wird aggressiv, es wird ein Messer gezückt. Und dann ist einer der Obdachlosen tot. Sie wissen nicht, wie es nun weitergehen soll und gehen zurück. In der Hektik lässt Billy seine Footballjacke in der Halle liegen.
Was Meyer nun entrollt, ist von großer Kunstfertigkeit und in seiner Dimension manchmal nahe an einer griechischen Tragödie. Denn während Billy festgenommen wird, unternimmt Isaac einen zweiten Fluchtversuch. An diesem Punkt verändert Meyer die Erzählbewegung. Was vorher nur in und um Buell gespielt hat, wird nun erweitert um Isaacs Stationen seiner Flucht, der Leser kommt immer wieder zurück in die Stadt beziehungsweise hinaus zu Isaac. Dadurch gewinnt das ohnehin vielstimmige und komplex erzählte Buch zusätzlich noch an Dynamik und Perspektive. Der Autor hat diesen Roman zweier Familien, die miteinander verzahnt sind, in fünf Bücher untergliedert, die jeweils wieder in kurzen Kapiteln aus insgesamt sechs Blickwinkeln die Handlung wiedergeben. Diese Hauptfiguren, wobei Isaacs kranker Vater eine etwas untergeordnete Rolle einnimmt, tragen und bestimmen das Buch, das jedoch noch mit einer Fülle von für die jeweiligen Handlungsstränge wichtigen Nebenfiguren aufwartet. Isaacs mittlerweile verheiratete Schwester Lee ist aus Yale gekommen, um bei der Suche nach einer Pflegekraft für den Vater behilflich zu sein. Als sie und Billy sich sehen, funkt es zwischen den beiden sofort wieder. Ähnlich wie seine Mutter Grace mit ihrem Liebhaber, dem Polizisten Harris, klammern sich auch Lee und vor allem Billy an den Sex. Für Billy soll es das letzte schöne Erlebnis gewesen sein, denn Harris’ Arm reicht nicht so weit, ihn vor dem Gefängnis in Fayette bewahren zu können.
Wieder öffnet der Autor ein neues Fenster, bringt eine neue soziale Komponente, das Leben im Knast, in seinen souverän gearbeiteten und nie überladenen Roman, der neben vielen anderen Verweisen eine große Nähe zu Richard Fords „Unabhängigkeitstag“ und „Die Lage des Landes“ aufweist. Derweil sich Billy schneller als ihm lieb ist in die brutale und scheinbar gesetzlose Hackordnung hinter Gittern einfügt, erlebt Isaac auf seiner Flucht quasi eine Version eines amerikanischen Mythos: er reist wie ein Tramp oder Hobo der 1930er-Jahre des 20. Jahrhunderts mit Güterzügen durch das Land. Dort ist er vielfältigen Gefahren ausgesetzt, trifft ungewöhnliche Menschen, erlebt Hunger, Kälte, Durst und Verzweiflung und besinnt sich immer wieder auf seine geistigen Fähigkeiten, die ihm hilfreich sind. In inneren Monologen und Reflexionen sowohl über seine aktuelle Lage, als auch über den Grund dafür macht Isaac eine Wandlung durch, die ihn von seinem ursprünglichen Ziel abbringt und ihn zurück nach Buell führt. Dort überschlagen sich die Ereignisse, weil der liebeskranke Harris für die von Sorgen um ihren eingesperrten Sohn fast umkommende Grace einen tollkühnen Plan ausheckt und auch umsetzt.
„Rost“ hat alles, was ein großer Roman braucht. Er ist welthaltig, seine Figuren ermöglichen den Lesern vielfältige Identifikationsmöglichkeiten, Perspektiven und Gedanken. Der Autor benennt Missstände in der Wirtschaft – an einer Stelle heißt es: „Autofabriken in Michigan und Indiana mussten abgerissen werden. Eines Tages würde diese Arbeit auslaufen, und dann blieb nichts davon zurück, es würde nichts mehr da sein, keine Bauten, nichts, woran die Menschen sehen konnten, dass je irgendetwas in Amerika hergestellt worden war.“ – und in der Politik („Die Bevölkerung des Tals wuchs wieder, aber deren Einkommen sank weiter, alle Haushalte schrumpften, und seit Jahrzehnten war kein Geld mehr in die Infrastruktur investiert worden. Sie hatten Kleinstadtmittel für Großstadtprobleme.“). Und immer ist dieses von Frank Heibert hervorragend übersetzte Buch spannend, witzig und überraschend – es ist ein im allerbesten Sinn anspruchsvoller Unterhaltungsroman, eine große Entdeckung.
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