Verzweifelte Odyssee

Über Rosine de Dijns Bericht „Das Schicksalsschiff“

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Sommer 1942 war der Atlantik auch für Schiffe unter neutraler Flagge kein ungefährliches Gewässer. Zu den wenigen Dutzend Schiffen, die damals noch wie durch ein nautisches Nadelöhr die brüchige Verbindung zwischen den erbitterten Kriegsparteien am Leben erhielten, gehörte die im Dienste der portugiesischen Companhia Colonial de Navegaceo stehende „Serpa Pinta“. Seit 1940 befuhr der für etwa 500 Reisende ausgelegte Dampfer, das Vorzeigeschiff seiner Reederei, trotz deutscher U-Boote und britischer Bomber das atlantische Dreieck zwischen Rio de Janeiro, Lissabon und New York. Eine dieser Pendelpassagen hat die belgische Journalistin und Buchautorin Rosine de Dijn in ihrer spannenden Reportage über das portugiesische „Schicksalsschiff“ beschrieben und damit ein kleines eigentümliches Kapitel am Rande des großen Weltgeschehens vor dem endgültigen Vergessen bewahrt.

Dass seit 1940 Tausende von Verfolgte das von Terror geplagte Europa verlassen wollten und ihnen oftmals nur Portugal als Fluchtpunkt in die rettende USA offen stand, ist hinreichend bekannt. Dass aber in Kriegszeiten auch Deutsche aus Brasilien den umgekehrten Weg einschlugen, um sich als überzeugte Nazis in den Dienst des „Dritten Reiches“ zu stellen, mag aus heutiger Sicht ebenso als Kuriosum erscheinen wie das unverbrüchliche Festhalten der Deutsch-Brasilianer an den längst verstaubten Sitten ihrer ehemaligen Heimat.

Wer sich heute über die Integrationsresistenz bestimmter Gruppen von Migranten in Deutschland wundert, wird mit Erstaunen Rosine de Dijns Schilderungen der großen Deutschen Kolonie in Südbrasilien lesen, die sich noch in den 1930er-Jahren in ihrem in Blumenau erscheinenden Urwaldboten über „Judas Wühlarbeiten“ informieren konnte.

Von den vielen Hundert deutschen Rückkehrwilligen reisten 81 Personen im Mai 1942 als Diplomaten auf dem nach dem portugiesischen Entdecker Alexandro Alberto Serpa Pinta benannten Dampfer nach Lissabon. Für die mitfahrenden Kinder wurde an Bord sogar eine ausgelassene Äquatorialtaufe veranstaltet. Im Frankfurter Römer erwartete die Heimkehrer noch eine feierliche Begrüßung, ehe sie rasch die deutsche Kriegswirklichkeit in Gestalt von Militärdienst und Bombenterror einholte.

Erheblich weniger komfortabel verlief hingegen die sich auf demselben Dampfer anschließende Überfahrt von 677 jüdischen Flüchtlingen von Lissabon nach New York, darunter nicht nur namhafte Persönlichkeiten wie die spätere Philosophin Simone Weil oder der französische Dadaist und Maler Marcel Duchamp, sondern auch 50 Kinder, deren Eltern in den unzähligen Lager des faschistischen Europas zurückbleiben mussten und dort wahrscheinlich umkamen.

Während sie die beiden im Grunde ereignisarmen Überfahrten recht knapp referiert, widmet sich die Autorin ausführlich ihren jeweiligen Vorgeschichten an Hand einiger ausgewählter Personen, insbesondere der verzweifelten Odyssee zweier jüdischer Familien aus Belgien, die trotz feindseliger Behörden und der stets unberechenbaren deutscher Kontrollwut nach endlosen Monaten glücklich in Lissabon endeten.

Es wird den Leser kaum überraschen, dass es für die deutschen Rückkehrer im untergehenden „Dritten Reich“ kein Happy-End gab, aber auch die der Shoa entkommenen Juden fanden in den USA nicht das erhoffte Glück. Zu schwer wog oft die Erinnerung an die eigenen Leiden und die in den Vernichtungslagern umgekommenen Verwandten. Einige deutsche Familien kehrten dank der Großmütigkeit der brasilianischen Behörden zurück in ihre alte und zugleich neue Heimat. Für viele europäische Juden bedeutete aber auch Amerika kein Entkommen. Einige setzten schließlich ihrem Leben durch Suizid ein Ende, wie etwa der Niederländer Frank Levita, ein Stiefsohn des deutschen Historikers Ernst Kantorowitz, der zufällig auf einer Holocost-Ausstellung in New York das Bild seiner in Amsterdam auf die Deportation wartenden Eltern entdeckt hatte.

Rosine de Dijns Buch ist keine wissenschaftliche Untersuchung über die Flucht- oder Rückwanderungsbewegungen im Zweiten Weltkrieg. Dies beansprucht die Autorin aber auch gar nicht. Vielmehr möchte sie ein gut recherchiertes Schlaglicht auf eine für wenige Menschen dramatische Situation im Sommer 1942 werfen, die alle auf ihre Weise Opfer des Krieges geworden sind. Deutsche und Juden, Verfolger und Verfolgte, legten im Abstand von nur wenigen Tagen die gleichen Wege mit demselben Schiff, wenn auch in umgekehrter Richtung, zurück. Dies ist ihr in gut lesbarer und teilweise auch spannender Weise gelungen.

Titelbild

Rosine De Dijn: Das Schicksalsschiff. Rio de Janeiro - Lissabon - New York 1942.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009.
270 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783421043504

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