Anatomie einer gewalttätigen Gesellschaft

Russlands Weg in den Bolschewismus war lange vorgezeichnet

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von einer Tragödie wäre zu reden, wenn ihre Akteure in wahnhafter Umnachtung nicht anders handeln konnten als sie es taten und allen warnenden Vorzeichen zum Trotz zielsicher die Bahn ihres Unterganges beschritten. Tatsächlich fühlt sich der Leser an dieses literarische Muster erinnert, wenn der britische Historiker Orlando Figes in vier eindrucksvollen Kapiteln die Figuren seiner fraglos monumentalen Geschichte der russischen Revolution Revue passieren lässt. Angefangen mit dem autistischen Zaren Nikolaus II., der lieber mit seiner deutsch-britischen Gattin und seinen fünf Kindern das beschauliche Dasein eines englischen Landadligen geführt hätte, stattdessen aber unter der Maske eines patriarchalischen Autokraten ohne Zögern auf sein Volk schießen ließ, um schließlich mit ungespielter Erleichterung seine Abdankungsurkunde zu unterzeichnen. Geradezu hellsichtig erscheint dagegen sein langjähriger Ministerpräsident Pjotr Stolypin, den Figes sogar mit Michail Gorbatschow vergleicht. Der Reformpolitiker war ein an westlichen Methoden orientierter Bürokrat, der gleichwohl mit brutaler Konsequenz die Revolutionäre von 1905 jagte, ehe er selbst in der Kiewer Oper, die er trotz aller Warnungen ohne Leibwächter und ohne Schutzweste besucht hatte, den Kugeln eines Attentäters zum Opfer fiel. Die Hintergründe der Tat blieben bis heute ungeklärt. Als lächerliche Figur zeichnet Figes dagegen den letzten Führer der provisorischen Regierung, Alexander Kerenski, der sich gern vor der Armee in der Pose Napoleons präsentierte und sich auch nicht scheute, mit einem Arm in der Schlinge eine Verwundung vorzutäuschen, um die kriegsmüde Soldateska zu einer letzten Offensive gegen die Deutschen anzustacheln. Ein echter Gegenspieler Lenins war der überforderte Regierungschef, der seine Reden häufiger mit einer theatralischen Ohnmacht beendete und dessen Memoiren Figes verlogen nennt, ohnehin nicht.

Eine Vertraute und Förderin beschrieb noch am 24. Oktober 1917 völlig zutreffend, was nur einen Tag später im verwahrlosten Petrograder Winterpalais traurige Realität werden sollte „Niemand will die Bolschewiken, aber es gibt auch niemanden, der bereit wäre für Kerenski zu kämpfen.“

Die Boleschwiken wiederum, zu Beginn der bürgerlichen Revolution nur eine hoffnungslos zersplitterte Randpartei, profitierten nicht nur von den Fehlern und Versäumnissen der Gegner, sondern auch vom Geschick ihrer Führer. In Lenin, dem „Musterstrategen der Partei“, sieht Figes sogar die Inkarnation des asketischen Rachmetjew, der Hauptfigur aus Nicolai Tschernyschewskis einflussreichen Roman „Was tun“, ein Werk, das offenbar mehr Russen zur Sache der Revolution bekehrte als die Bücher von Marx und Lenin. Figes übergeht nicht, dass der Gründer der Sowjetunion ein notorischer Feigling war, wann immer Gefahr für sein Leben bestand, resümiert dann aber mit vorsichtiger Anerkennung, dass ohne die energische Intervention des meist hinter den Kulissen wirkenden revolutionären Exilanten die Machtergreifung am 25. Oktober 1917 nicht gelungen wäre.

Tatsächlich aber war der Weg der Kommunisten an die Macht nach Figes Ansicht bereits in der Geschichte Russlands angelegt, einer langen Kette von Gewalt, Terror und außergewöhnlicher Brutalität in allen Gesellschaftsbereichen bis hinunter zur entlegendsten Dorfgemeinschaft mit ihren archaischen Praktiken, die Maxim Gorki in entsetzlichen Bildern beschrieben hat. „Was als Revolution eines Volkes begann, trug bereits den Virus der Degeneration zu Gewalt und Terror in sich“. Die Gefängnisse des Zaren hatten die Revolutionäre hart gemacht. Bis 1917 habe jeder Bolschewik durchschnittlich vier Jahre in Haft oder in der Verbannung zugebracht. Die revolutionäre militante Arbeiterbewegung sei, so Figes, daher weitgehend vom zaristischen Regime geschaffen worden.

Seine zentrale These lautet: Eine bürgerliche Revolution nach dem Muster von 1789 oder 1848 konnte in Russland nicht gelingen. Zwar gab es seit den 1890er-Jahren immerhin bescheidene Ansätze zu einer Öffentlichkeit, in der erstmals die Belange des Landes oder einzelner Regionen in der Presse und den regionalen Gremien, den „Semstwos“, debattiert wurden. Doch die konstitutionelle Phase war bereits in den Jahren von 1905 bis 1914 durchgespielt worden und spätestens bei Kriegsausbruch gescheitert. Drei Jahre danach gab es nach Ansicht von Figes nichts mehr, was politische Reformen den kriegsmüden und verrohten Massen noch hätten bieten können. „Nur eine fundamentale soziale Revolution – eine Revolution ohne Vorläufer in der europäischen Geschichte – konnte im Herbst 1917 noch die Machtfrage lösen, wie sie der Sturz des alten Regimes aufgeworfen hatte.“ Trotz aller mythischen Beschreibungen war das russische Volk von jeher ohne echten inneren Zusammenhalt, ein idealisiertes Konstrukt, das sich allen Reformversuchen beharrlich widersetzte. Russlands Bauern konnten zwar die Leiden des Krieges durchstehen, so wie sie Jahrhunderte lang die Strapazen ihrer prekären Existenz erduldet hatten, doch für eine moderate Revolution und für eine demokratische Formierung der Gesellschaft in Parteien und Interessengruppen fehlte ihnen die Vorstellungskraft und auch die nationalen Bindungen waren zu schwach. So ersetzte nach einem kurzen bürgerlichen Zwischenspiel die neue Gewaltherrschaft der Sowjets jene alte der Romanows.

Figes fesselndes Panorama der Epoche der russischen Revolution spannt in bester britischer Erzähltradition den Bogen über ein Menschenalter voller Fehlleistungen und Versäumnisse, die sich schließlich zur Tragödie eines Volkes akkumulierten. Gewisse Längen in der Darstellung der revolutionären Abläufe in Petrograd kann man verschmerzen. Die bolschewistische Machtergreifung von 1917, deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen und die mit der Konsolidierung des Sowjetsystems im Jahre 1924 ihren Abschluss fand, fußte nicht auf dem Import westlicher Ideen, wie es einige Ideenhistoriker neuerdings behaupten, sondern war in ihrem Ausmaß und in ihrer unvorstellbaren Barbarei, so Figes, ein genuin russisches Ereignis. Der ins Exil gegangene Dichter Gorki musste sich rückblickend sogar fragen, ob nicht die Revolution tatsächlich vor allem eines bewirkt habe: Dass gerade sie erst die Grausamkeit des russischen Volkes zum Vorschein gebracht hatte.

Titelbild

Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernd Rullkötter.
Berlin Verlag, Berlin 2008.
975 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783827008138

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