Andacht zum Bedeutenden

Erstmals liegt der Briefwechsel zwischen Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach und Walther Wolfgang von Goethe in einer Edition von René Jacques Baerlocher und Christa Rudnik vollständig editiert und kommentiert vor

Von Berndt TilpRSS-Newsfeed neuer Artikel von Berndt Tilp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist auf den ersten Blick eine reizvolle Paarung: hier der Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, Carl Alexander, der Enkel Carl Augusts, der „neue Augustus“, wie ihn Karl August Varnhagen von Ense einmal ironisierend nannte und damit dessen Mäzenatentum in eine bedeutungsschwere Traditionslinie zu stellen wusste – und da der Enkel Johann Wolfgang von Goethes, Walther Wolfgang, mit seinen Geschwistern Wolfgang Maximilian und Alma durch die „großväterliche Verordnung“ als Erbe bestimmt. Beide verbindet die „Erhaltung des Gewesenen“, die Traditionspflege in und um Weimar, die Sorge um einen der bedeutendsten Nachlässe in Deutschland, um Sammlung und Liegenschaften des Supersignifikanten deutschen Geisteslebens Johann Wolfgang von Goethes und die Revitalisierung Weimars als Hort künstlerischen Tuns.

Der Briefwechsel zwischen 1845 und 1885, dem Todesjahr des Goetheenkels, dokumentiert dabei unter Verwendung einer Vielzahl unveröffentlichter Quellen aus den Archiven Weimars vor allem ein Bild Walther Wolfgang von Goethes. Besonders die Schriftstücke aus dem Goethe-Schiller-Archiv geben in der Zusammenschau mit den veröffentlichten Briefen aufschlussreiche Einblicke in seine misslungene musikalische Karriere – Talent ja, Kreativität nein, so das einhellige Urteil Robert Schumanns und Felix Mendelssohn-Bartholdys –, literarische Ambitionen und politische Sympathien und soziales Engagement in Richtung Demokratie in der Epoche des Nachmärz. Der persönlich-vertrauliche Ton, den der Briefwechsel dabei aufweist und der im Vorwort den Herausgeber und vor allem die Persönlichkeit Walther Wolfgang von Goethe und das Private skizzieren lässt, untermauert nur die freundschaftliche Dimension des Verhältnisses zum Großherzog. Es wird deutlich, wie sehr familiäre Verpflichtungen und Rücksichtnahmen und der berühmte Name auf ihm lasten. Daneben wird man Zeuge der nicht ganz konfliktfreien Etablierung von Institutionen der Goethe- und Schillerverehrung, des Denkmalbaus und -kultes sowie des beginnenden Goethe-Tourismus in Weimar und Deutschland. Am Rande streift der Großherzog auch seine Teilnahme am Deutsch-Dänischen Krieg 1864 wie auch am Deutsch-Französischen 1870/71. Schwerpunkte des epistolaren Austauschs sind aber vor allem das Weimarer Geschehen, das Kommen, Gehen und Fernbleiben am und vom Hof, und vermeintliche Gründe für Letzteres.

Wer erwartet, dadurch „das endlich bekannt gewordene Geheime“ lesen zu können, wie Goethe selbst einmal in „Dichtung und Wahrheit“ die Erwartungshaltung gegenüber Unveröffentlichtem umriss, sieht sich beizeiten enttäuscht. Denn gerade indem der Briefwechsel die freundschaftlichen Aspekte in der Beziehung der Korrespondenten betont, wechselseitige Lektürehinweise, -empfehlungen und Ansichten zum kulturellen Leben wo nicht ausformuliert so doch andeutet, ist die Dunkelheit in der Rezeption ebenso wie das Nachschlagen und -lesen in weiteren Werken zum „silbernen Zeitalter“ vorgezeichnet. Wo zudem andeutungsweise auf womöglich brisante Veröffentlichungen aus den Weimarer Nachlässen angespielt wird, die, wie Walther Wolfgang von Goethe anlässlich der Vorbereitung des Briefwechsels zwischen seinem Großvater und dem Großherzog Carl August 1863 schreibt, „Propositionen bezüglich Letzten=Handanlegens“, vulgo eine redaktionelle Bearbeitung des Textes notwendig erscheinen lassen, um familiäre Interessen zu schützen, da wird deutlich, wie prekär dieses Material ist und welcher Schutzmaßnahmen es bedarf. Das hatte sich übrigens auch schon in den Querelen und juristischen Auseinandersetzungen zwischen dem Testamentsvollstrecker Goethes, dem Kanzler von Müller und den Erben in den 1840er-Jahren abgezeichnet. Und auch wenn sich in Weimar Personen nähern und dort um Anstellung ansuchen oder gar Einblick in die Handschriften erbitten – erwähnt seien hier der Schiller-Biograf Emil Palleske, der sich 1858 in Weimar niederlassen wollte sowie der Protegé Alexander von Humboldts und Varnhagens Wilhelm Hemsen, der sich 1856 um eine Bibliothekarsstelle beworben und Zugang zu Archivalien erbeten hatte – fragt Carl Alexander seinen Duzfreund Walther Wolfgang, was von Palleske „moralisch“ zu sagen sei, gleichsam um eine Unbedenklichkeitsbescheinigung anfragend.

Indem der Kommentar hier aus verständlichen Gründen – schon hat die Publikation knapp 500 Seiten – die Hintergründe nicht erläutern kann, ist eine Urteilsbildung für den Leser weitgehend unmöglich. Die Gründe, die zu zensorischem Vorgehen in der Textredaktion beziehungsweise zur Ablehnung eines Gesuches führten, bleiben der Fantasie überlassen. Es entsteht vielmehr der Eindruck einer konfliktfreien, ja über alle weltanschaulichen Unterschiede hinweg konsensualen Näherung an den Olympier Johann Wolfgang von Goethe, ohne dabei dies in den Zeitläufen zu kontextualisieren. Dies schmälert den Ertrag der Edition, die deshalb auch weniger schillernd ist als etwaige Biografien, jedoch ist sie sicherlich ein äußerst wertvoller Beitrag zur Goetherezeption, zu Weimar und zum Werden des Kultes um beide im 19. Jahrhundert.

Um ein Gesamtbild des den Briefwechsel dominierenden Geists des „silbernen Zeitalters“ und den darin enthaltenen Verweisen zu bekommen, wäre vor dem Hintergrund ökonomischer Machbarkeit neben einem detaillierteren Kommentar auch die Edition weiterer Korrespondenzen und Paratexte aus dem Umfeld der Korrespondenten zu überdenken. In der Peripherie um Goethe, Carl August beziehungsweise ihrer Enkel und ihren Ruhm und Nachruhm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist nämlich auch die Frage nach der Relevanz solcher, oft nur Spezialisten interessierende Themenkreise eröffnet, die in der Erschließung zweit- und drittrangiger Nachlässe und Archivalien zwischen der „Andacht zum Unbedeutenden“ und einer umfassenden Dokumentation einer „Historie geistiger Bewegungen“ (Wilhelm Dilthey) seltsam oszillieren.

Titelbild

Rene Jacques Baerlocher / Christa Rudnik (Hg.): Weimars Pflichten auf der Bühne der Vergangenheit. Der Briefwechsel zwischen Großherzog Carl Alexander und Walther Wolfgang von Goethe.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
493 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783835306301

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