Grimms Bruder

Zum Nachhören: Günter Grass’ „vielleicht letztes Buch“

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann zu ihm stehen wie man will: Günter Grass gehört zu den umstrittensten und wirkungsmächtigsten Intellektuellen der Bonner wie der Berliner Republik. Ähnlich wie sein Altersgenosse Martin Walser entschwindet er nicht in die ruhigen Weiten eines kaum wahrgenommenen Alterswerks, sondern erregt noch immer erhitzte Diskussionen, wo andere Nobelpreisträger dank ihrer Auszeichnung für Kritik letztlich unangreifbar werden.

In erster Linie geht es in diesen Diskussionen jedoch nicht um die literarische Qualität der Bücher. Vielmehr führt Grass’ Selbstverständnis als Autor mit politischer Verantwortung dazu, dass seine Romane primär nach ihrem weltanschaulichen Gehalt beurteilt werden: So erfuhr „Ein weites Feld“ (1994) vehemente Ablehnung, während die Novelle „Im Krebsgang“ (2002) euphorisch gefeiert wurde, obwohl beide Bücher literarisch etwa im Mittelfeld des Grass’schen Œuvres liegen.

Der Unterschied: Mitte der 1990er-Jahre, als alles auf den großen, heroischen Wenderoman wartete, galt es als unfein, an den fragwürdigen Praktiken der Treuhand herumzukritteln, während Grass offene Türen einrannte, als er „endlich“ und „als erster“ die Versenkung des Flüchtlingsschiffs „Wilhelm Gustloff“ im Winter 1945 thematisierte und damit auch einmal die Deutschen als Opfer des von ihnen begonnenen Krieges darstellte – und das geschlagene drei Jahre, nachdem es Walter Kempowski im „Fuga Furiosa“-Zyklus seines „Echolot“-Projektes thematisiert hatte; aber vielleicht war das den Kritikern entfallen, oder haben sie die Aberhunderte von Seiten vor ihren knappen Rezensionsdeadlines schlicht nicht gründlich lesen können? (Übrigens waren die Deutschen als Opfer des Krieges nie verschwiegen worden – wer das behauptet, hat nie in den 1980er-Jahre mit meiner Verwandtschaft am Kaffeetisch gesessen beziehungsweise Arno Schmidt gelesen, der sich des Themas bereits direkt nach dem Krieg annahm, wie viele andere Autoren auch.)

Besonders evident ist die Beurteilung nach politischen Gesichtspunkten im Fall der autobiografischen Texte der letzten Jahre. Als 2006 „Vom Häuten der Zwiebel“ erschien, spielte der Autor Grass in der Rezeption kaum eine Rolle. Alles drehte sich um das späte Bekenntnis, als 17-jähriger Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. So verwerflich man dieses Faktum und Grass’ Umgang damit finden mag, wurde es von vielen einfach als Möglichkeit zur Generalabrechnung mit einem unbequemen, gegen den Zeitgeist stehenden Autor genutzt. Als dann 2008 mit den Familiengeschichten in „Die Box“ der zweite, privateste Band der autobiografischen Trilogie erschien, war das Desinteresse entsprechend groß.

Jetzt also der dritte und letzte Band, und nach Grass’ Auskunft sein vielleicht letztes Buch: „Grimms Wörter – Eine Liebeserklärung“, das gleichzeitig als Hörbuch erscheint. Dass es um Autobiografisches, ja gerade um das kontroverse politische Engagement des Autors gehen soll, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Das hat seinen Grund, insofern zwei Erzählstränge miteinander verschränkt werden. Zum einen erzählt Grass in chronologischer Abfolge die Geschichte Jacobs und Wilhelm Grimms, die nach ihrem Protest gegen einen Verfassungsbruch König Ernst Augusts von Hannover ihre Professuren an der Göttinger Universität verlieren. In der erzwungenen Muße nehmen sie das Angebot an, ein umfassendes Wörterbuch der deutschen Sprache zu erstellen. Dass dieses Mammutwerk über ein Jahrhundert in Anspruch nehmen und sie überleben wird, ahnen sie nicht – Jacob Grimm stirbt 1863 als zweiter über dem Buchstaben F.

Grass erzählt die Geschichte des Wörterbuchs vor dem Hintergrund von 1848er- Revolution, Kaiserreich, Faschismus bis hin zur friedlichen Zusammenarbeit zwischen DDR und Bundesrepublik, die das Projekt 1960 erfolgreich zum Ende führt. Der eigentliche Hauptdarsteller ist jedoch die von den Grimms aufgespürte Sprache in allen Verästelungen und Ableitungen. Wenn Grass dem Ursprung und der Geschichte der Wörter nachspürt, sie in Gedichte gießt, virtuos mit der Biografie der beiden Forscher und ihrer Nachfolger parallel führt, dann ist das Buch ganz bei sich und funktioniert großartig. Grass liest dieses Hörbuch selbst, und seine sonore, knarzige Altmännerstimme passt perfekt zum langsamen, genießerischen Umgang mit der Sprache. In diesen Momenten gehört „Grimms Wörter“ gerade als Hörbuch zum schönsten, was Grass in den letzten Jahrzehnten publiziert hat. Dass dabei der Unterschied zwischen Gedicht und Prosa, zwischen den Schreibweisen „Cassel“ und „Kassel“ eingeebnet wird, liegt leider in der Natur der Sache.

Die Grimm’schen Wörter dienen aber zweitens als Startblock, von dem aus Grass in seine eigene politische Biografie springt. Vom jugendlichen Glauben an die NS-Ideologie über das Engagement für Willy Brandt und die Kritik an der Art der Wiedervereinigung bis zum Rüstungsexport in die Krieg führende Türkei spannt sich der Bogen. Dabei geht Grass keineswegs chronologisch vor, sondern schiebt seine Exkurse ein, wo immer sich aus seiner Sicht gerade Parallelen zu den Grimms und ihrem Thesaurus ergeben. Das wirkt gewollt, ebenso wie Grass’ Ton, der sofort vom Spielerischen in den Ton der Rechtfertigung fällt, ohne den geringsten Anflug von Ironie und Selbstdistanz. Mit vielen seiner unbequemen Zwischenrufe hat Grass Recht behalten, gerade was seine Kritik an der Einheit angeht. Wenn er sie referiert, wirkt er jedoch oft wie ein Besserwisser, in dessen Ton, wenn auch ohne Absicht, stets ein „Ich hab’s Euch ja gleich gesagt“ mitschwingt. Schon durch die Parallelführung stellt er sich in die Tradition des Grimm’schen Engagements, eine Schuhgröße, die für Grass manchmal zu klein, oft aber auch zu groß erscheint. Als Bruder der Grimms, als der er sich hier selbst porträtiert, taugt er nur bedingt.

Aber auch in diesen Passagen gibt es Ausnahmen, nämlich immer dann, wenn der Autor von sich selbst absieht. Wenn er etwa seinen umtriebigen Verleger Gerhard Steidl porträtiert oder genüsslich erzählt, wie der Kunsthändler Tete Böttger im post-stalinistischen Albanien den Schrott gestürzter Enver Hoxha-Statuen aufkauft und daraus ein Lichtenberg-Denkmal für den Göttinger Marktplatz gießen lässt, dann hat das erheblich mehr Klasse als alle SPD-Wahlkampftouren zusammen.

Insgesamt also viel Licht und ein gerüttelt Maß Schatten. Ob „Grimms Wörter“ tatsächlich das letzte Buch des Autors sein wird, bleibt abzuwarten. Vielleicht kommt nun, nach dem das Autobiografische abgearbeitet scheint, noch ein letzter Roman, eine letzte meisterhafte Novelle? Wir wünschen und hoffen.

Titelbild

Günter Grass: Günter Grass liest Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung.
Hörbuch. 11 CDs.
Steidl Verlag, Göttingen 2010.
39,90 EUR.
ISBN-13: 9783869301938

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