Unstandardisierte Bildungsdiskussionen

Der von Ingwer Paul, Winfried Thielmann und Fritz Tangermann herausgegebene Band „Standard: Bildung“ beleuchtet sein Thema aus unterschiedlichsten Perspektiven

Von Thomas BergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Berger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Beiträge des Bandes mit dem Titel „Standard: Bildung – Blinde Flecken der deutschen Bildungsdiskussion“ gehen zurück auf Vorträge auf dem deutschen Germanistentag 2007 in Marburg. Der Titel des Buches ist insofern etwas irreführend, als keine fachliche Einschränkung bezüglich deutschdidaktischer Fragestellungen im weitesten Sinne vorgenommen wird. Auf der anderen Seite wird eine Auseinandersetzung mit der nach den PISA-Ergebnissen bis zum heutigen Tag hochaktuellen Frage nach Sinn und Unsinn der Bildungsstandards suggeriert. Diese Schwerpunktsetzung wird freilich im Untertitel relativiert.

So gibt es im Buch nur einen Aufsatz, der sich mit den Bildungsstandards schwerpunktmäßig auseinandersetzt. Sabine Anselm diskutiert in ihrem Beitrag unter dem plakativen Titel „Bildungsstandards – Standardbildung“ Chancen und Gefahren, die mit der Einführung von Bildungsstandards im deutschen Schulsystem verbunden sind. Wer sich von dem Beitrag eine präzise Orientierung darüber erhofft, was durch die Einführung von Bildungsstandards im deutschen Bildungswesen intendiert ist, sieht sich freilich enttäuscht. Zwar werden einige Basics aus der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) herausgegebenen Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ (Klieme-Expertise) referiert, doch bleibt die Zielrichtung der Einführung von Bildungsstandards in Anselms Darstellung letztlich im Dunkeln; wichtige Begriffe wie „Bildungsmonitoring“ und „Schulevaluation“ werden nicht einmal erwähnt. Statt zu verdeutlichen, dass die Überprüfung der Bildungsstandards im Regelfall gerade nicht auf die individuelle Einstufung von Schülerleistungen zielt, wird pauschal der Befürchtung Ausdruck verliehen, „dass nicht nur die Benotung der Schüler, sondern auch die Beurteilung der Lehrer von den Ergebnissen der Leistungstests abhängig gemacht werden“.

Ohne ausreichende terminologische Grundlegung mittels der Klieme-Expertise schwebt der Diskurs über die Bildungsstandards im luftleeren Raum: Differenzen zur Intention der Expertise und den nachfolgenden Aktivitäten auf administrativer Ebene können so nicht herausgearbeitet werden. Zwar werden zahlreiche Positionen aus der vielstimmigen deutschdidaktischen Diskussion schlagwortartig referiert, doch gelingt es Anselm nicht, hier Zusammenhänge folgerichtig und überzeugend herzustellen.

Auch der kurze Exkurs im Beitrag von Irene Pieper ist wenig geeignet, die Funktion von Bildungsstandards zu plausibilisieren. Pieper geht es in ihrem thematischen Zusammenhang jedoch vor allem darum, anhand des Wortlauts verschiedener Standards den umfassenden Anspruch der „schul-literarischen Kunstform“ des Interpretationsaufsatzes zu verdeutlichen, was ihr überzeugend gelingt. Weiteren Aufschluss über Bildungsstandards sucht man in den anderen Aufsätzen jedoch vergebens: Sie befassen sich mit höchst heterogenen Gegenständen, angefangen von der „Kanonbildung im Zeitalter der Globalisierung“ über eine „kulturökologisch fundierte Literaturdidaktik“ bis hin zu „aktuellen literaturpädagogischen Konzepten der chinesischen Germanistik“.

In all dieser Vielfalt lässt sich jedoch noch ein interessanter hochschuldidaktischer Schwerpunkt des Bandes feststellen. Im lesenswerten Beitrag „Return to the Trivium“ von Walter Erhart wird der Bologna-Prozess als Versuch interpretiert, „eine längst existierende hochschulpolitische Realität mit einer dafür geeigneten Struktur zu versehen“. Konkret bedeute die Einführung des B.A.-Studiums die kurz- und langfristige Etablierung einer „neuen universitären Ausbildungsebene zwischen Gymnasium und ‚traditionellem‘ wissenschaftlichem Fachstudium“. Dabei falle insbesondere dem philologischen Wissen eine neue Rolle zu: Statt ideologischer Überfrachtung durch „nationalphilologische Hermeneutik“ oder durch kritische „Negationsästhetik“ stehe eine Rückbesinnung auf Kernkompetenzen im Umgang mit Texten bevor, in der „Elemente des ‚Triviums‘ wiederentdeckt werden könnten, d.h. elementare Formen der Aneignung textuellen Wissens.“ Damit erteilt Erhart emphatischen Bildungsbegriffen, die seit Humboldt mit dem universitären Studium verbunden werden, eine unmissverständliche Absage.

In Bezug auf Erharts Darstellung gewinnt der Beitrag von Li Changke an Kontur, der gegenläufige Tendenzen in der chinesischen Germanistik feststellt: Die Beschäftigung mit Literatur solle vor allem „zur kritischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung der Studierenden“ beitragen. Besonders interessant ist jedoch in diesem Zusammenhang der Beitrag von Ulf Abraham, der den Aspekt der Persönlichkeitsbildung gerade für die Lehrerausbildung emphatisch betont. Die Beispiele, die Abraham anführt, veranschaulichen eine überzeugende, jedoch auch sehr aufwändige Hochschuldidaktik, deren flächendeckende Umsetzung in Zeiten der Massenuniversität sicherlich nicht unproblematisch wäre. Gerade für das Lehramtsstudium stelle sich die Frage nach der Persönlichkeitsbildung jedoch in hohem Maße, da die psychologische Forschung gezeigt habe, dass „der spätere berufliche Erfolg oft mehr von solchen Persönlichkeitsmerkmalen abhängt als von der fachlichen Kompetenz“. Während Abraham das Wünschenswerte artikuliert und die Hochschuldidaktik für die Persönlichkeitsbildung mit in die Pflicht nehmen will, bezieht sich Erhart auf „hochschulpolitische Realität“ und betont damit die Macht des Faktischen, die ihn zu einer Haltung der Bescheidenheit veranlasst. Es wäre sicherlich interessant, beide Positionen weiterführend ins Gespräch zu bringen.

Insgesamt bietet der vorliegende Band ein kunterbuntes Sammelsurium von durchaus spannenden Perspektiven, die jedoch nicht einmal durch den Bezug auf eine „deutsche Bildungsdiskussion“, sondern nur durch die Frage nach „Bildung“ im weitesten Sinne lose miteinander verbunden sind.

Titelbild

Fritz Tangermann / Winfried Thielmann / Ingwer Paul (Hg.): Standard: Bildung. Blinde Flecken der deutschen Bildungsdiskussion.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008.
175 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783525315446

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