Die Wonnen des Multitaskings

Wir nennen es Literaturvermittlung in den Medien: Ein kurzer Werkstattbericht zur Entstehung der November-Ausgabe von literaturkritik.de

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

„Wenn irgendein Ereignis sich vollzieht, drücken die Menschen ihre Meinungen und Wünsche hinsichtlich dieses Ereignisses aus, und weil sich das Ereignis aus dem gemeinsamen Handeln vieler Menschen ergeben hat, wird sich ein Teil der ausgedrückten Meinungen oder Wünsche unbedingt erfüllen, und sei es annähernd. Wenn ein Teil der zum Ausdruck gekommenen Meinungen sich erfüllt hat, wird diese Meinung von unserem Verstand mit dem Ereignis verbunden, als sei es ein dem Ereignis vorangegangener Befehl gewesen.“

So ungefähr, wie Lew N. Tolstoj diesen Vorgang am Ende seines Riesen-Romans „Krieg und Frieden“ (1868) beschreibt, um die komplexe Entstehungsgeschichte bestimmter gesellschaftlicher Prozesse zu erklären, funktionieren die Dinge auch in der Redaktion von literaturkritik.de.

Erstens: Der Redaktionsleiter stellt beim Sichten der im Frühjahr eintrudelnden Verlagskataloge fest, dass am – zum damaligen Zeitpunkt noch fern erscheinenden – 7. November 2010 der 100. Todestag Lew N. Tolstojs begangen werden wird. „Der Anlass dürfte in den deutschsprachigen Feuilletons breite Beachtung finden“, notiert er sich. Zumindest haben sich das die Verlage ausgerechnet und deshalb schon lange vorher Publikationen vorbereitet, die pünktlich zu diesem Ereignis vorliegen sollen, damit sie von den Literaturkritikern besonders berücksichtigt und besprochen werden können. Denn auch die Presse orientiert sich seit jeher an Jubiläumsterminen. Genauso wie literaturkritik.de – wobei wir natürlich nicht jeden Quatsch mitmachen, den uns der Literaturbetrieb als Stichtag des Jahrtausends suggerieren möchte. Denn davon gibt es in jedem Jahr garantiert 365.

Zweitens: Irgendwann im Spätsommer entscheidet die Redaktion, dem Tolstoj-Jubiläum tatsächlich ebenfalls Rechnung zu tragen und für den November einen passenden Themenschwerpunkt vorzubereiten.

Drittens: Da Journalisten, anders als die meisten Literaturwissenschaftler, alles auf den letzten Drücker machen und die Redaktion von literaturkritik.de insbesondere mit den davor geplanten Themenheften bis auf die letzte Minute schon mehr als genug zu tun hat, während außerdem das Wintersemester an der Philipps-Universität Marburg naht, das den Redakteuren zumindest auf dem Papier abverlangt, viele Dinge wirklich lange vorher gelesen, konzipiert und fertig vorbereitet zu haben, geschieht in Sachen Tolstoj erst einmal weiter gar nichts mehr.

Viertens: Als sei dennoch irgendwo eine geheime, still ordnende Hand am Werk, trudeln plötzlich überraschende Mails aus München ein, die signalisieren, es seien bereits verschiedene Slavisten angefragt, ob sie nicht etwas zu unserem Tolstoj-Schwerpunkt beitragen wollten. Der Herausgeber hat sich also gerührt: Nun wird auch der Redaktionsleiter plötzlich wieder wach und fragt zumindest eine prominente Autorin an, die bestimmt gut über den zu würdigenden Schriftsteller bescheid weiß – natürlich zu spät, denn eine große deutsche Tageszeitung war bereits schneller.

Fünftens: Zwischen verschiedenen, nun bereits angelaufenen Lehrveranstaltungen, Marathon-Gremien-Sitzungen, monströsen nächtlichen Protokoll-Schichten, den Vorbereitungen von Buchvorstellungen und Lesungs-Moderationen, dem Verfassen ganz anderer Artikel für weitere Zeitungen und Zeitschriften, dem Redigieren von Habilitationskapiteln oder auch Vorträgen für bald stattfindende Tagungen oder Podiumsdiskussionen, zu denen man eingeladen ist, dem Schreiben von verschiedensten universitären Gutachten und vielem dergleichen mehr werden – irgendwie dazwischen – auch noch die mittlerweile eingegangenen Tolstoj-Beiträge und Rezensionen gekürzt, redaktionell bearbeitet und gerade noch rechtzeitig in die ebenfalls fix erstellte Gliederung von ca. 100 Artikeln der neuen Ausgabe eingefügt. Wie wir die alle redigieren konnten, ist uns entfallen. Aber wie so oft scheint einmal wieder alles fertig geworden zu sein.

Sechstens: Nun fehlt bloß noch das Editorial, für dessen Verfassung nun wirklich gar keine Zeit mehr zur Verfügung steht. Was tun? Es empfiehlt sich in solchen Situationen, Ruhe zu bewahren. In der Regel wirkt es Wunder, ganz einfach ein einschlägiges Buch aufzuschlagen und kurz nach Inspirationen, Ideen, Gedanken oder auch Zitaten zu suchen. Fertig – siehe oben!

Wir wünschen Ihnen also auch dieses Mal wieder möglichst viele exklusive Erkenntnisse und viel Freude beim Lesen unserer neuen Ausgabe. Nicht zuletzt: Über Ihre Anregungen, Ihre Kritik und Ihr Feedback auf unserer Leserbriefseite freuen wir uns natürlich ganz besonders. Denn auch wir wissen: „Nobody’s perfect!“

Herzliche Grüße sendet Ihnen
Ihr
Jan Süselbeck

P.S.: Wie sich dann erst am Wochenende nach der Freischaltung der Ausgabe herausstellte, hatten wir tatsächlich die monatliche Glosse von Dirk Kaesler im E-Mail-Eingang übersehen, die der gute Mann selbstredend pünktlich geliefert hatte – nostra maxima culpa, siehe oben! Wir bitten den geschätzten Autor dafür um Nachsicht. Da wir aber selbstverständlich auch Samstags und Sonntags rund um die Uhr arbeiten, konnte der Fehler schnell behoben werden. Lesen Sie selbst!