Mit Herta Müller durch die „Hölle der Lebenden“

Zur Neuauflage des Romans „Reisende auf einem Bein“

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der Erstausgabe vor über 20 Jahren ist Herta Müllers Roman „Reisende auf einem Bein“ im Münchner Carl Hanser Verlag neu erschienen. Damals, 1989, war es nach der Übersiedlung der Autorin in die BRD ihre erste Buchveröffentlichung in Deutschland. Seine Aktualität konnte das Buch nicht verlieren: Die Themen, die Herta Müller hier anspricht – Liebe, Einsamkeit, Ängste, Sinn des Lebens, Altern, Verlust, Tod – haben kein Verfallsdatum. Sie evozieren Fragen, derer man sich entziehen möchte, die man herauszuzögern oder zu ignorieren versucht, denen man sich aber früher oder später stellen muss. Herta Müller konfrontiert mit diesen Fragen Irene, die Hauptfigur des Romans. Nicht plakativ, sondern still und unaufdringlich schildert sie die innere Befindlichkeit dieser Frau. Man könnte auch sagen: „Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis“, so der Titel der Rede ihrer Nobel Lecture am 7. Dezember 2009 im Stockholmer Börsenhaus.

Der Leser lernt Irene bei ihren Sommerspaziergängen am Strand kennen. Jeden Abend eilt sie zu der Stelle, wo ein Mann hinter einem Strauch bei ihrem Anblick onaniert. Tagsüber sucht sie diesen Mann in der Nähe der Kneipen. Dieses eigenartige Benehmen der Hauptfigur mag irritieren. Wahrscheinlich war sie selbst davon irritiert: „Irene hatte […] nichts als das Wort Gewohnheit gefunden. Hatte ein Gefühl wie ein Versäumnis.“ An einem Abend lernt sie in einer Kneipe Franz, einen Deutschen, kennen. Da er betrunken ist, begleitet Irene ihn auf sein Hotelzimmer und landet in seinem Bett. Am nächsten Morgen fährt Franz zurück nach Marburg. Kurz darauf bekommt Irene ihre Ausreisepapiere und darf nach Deutschland umsiedeln. Am Frankfurter Flughafen holt sie nicht Franz, sondern Stefan, ein Freund der Schwester von Franz, ab. Bevor Irene in ein Asylantenheim – das Übergangsheim ist voll – kommt, muss sie zum Bundesnachrichtendienst. Sie wird verhört: „Dreißig Jahre unter vier Augen.“ Später kann Irene in eine Wohnung umziehen.

Die weitere Handlung wird durch die Beschreibung all dessen dominiert, was Irene augenblicklich sieht, erlebt, beobachtet, fühlt, denkt und wünscht. Der Text gleicht einer Hirn- und Herzaufnahme der Hauptfigur. Die Nacktheit ihres Zimmers unterstreicht ihre eigene. Ihr fehlt jede Ablenkung. Sie hat keine Arbeit, keine Freunde und keinen Fernseher. Sie muss sich selbst, ihre Gedanken und Gefühle aushalten. Vielleicht irrt sie deshalb durch die Straßen, versucht sich auf den Bahnhöfen zu verlieren, möchte sich durch das ständige Schreiben von Karten ihrer selbst versichern.

Es sind keine linearen Gedanken und Gefühle, die Irene überfallen. Insbesondere ihre Beziehung zu Franz, Stefan sowie dem schwulen Thomas wie auch die sexuellen Erlebnisse Irenes werfen viele Fragen nach Liebe und Sehnsucht auf. Den Tod als Thema ließ die Autorin dabei eher indirekt einfließen: Damit der tote Vater von Stefan; der junge tote Politiker, dessen Foto Irene aus einer Zeitung ausschneidet; die „Frau in Schwarz“, die in einem Blumenladen „eine Haube für die Beisetzung einer Urne“ bestellt; Irenes Überlegungen über Autos, die Tote transportieren, und schließlich ein Brief aus dem anderen Land mit der Nachricht über den Tod eines Freundes.

Es ist nicht nur die Leere, was Irene erlebt. Es ist ein Chaos: das Chaos der alltäglichen Bilder aus dem Leben der Anderen. Irene selbst ist eine Beobachterin: Stundenlang steht sie am Fenster und schaut den Bauarbeitern zu; durch ihre Wahrnehmung streifen ein fremdes Kind, eine Frau mit Hund, Fahrgäste in der U-Bahn und Fotos aus Zeitungen. „Da kamen Gedanken in ihren Kopf und gingen. Und keiner hatte was mit ihr zu tun.“ Man mag Irenes seltsamen Zustand mit ihrem Blick einer Fremden, einer Emigrantin in einem neuen Land erklären. Vielleicht versucht diese Figur auch, „mittels kleiner Dinge […] ihren symbolischen Ort finden“, wie sich Ernest Wichner über Herta Müller ausdrückte.

Beschrieben wird der Zustand, die innere Befindlichkeit eines Menschen, der sich in einer Krise befindet, das Alte hinter sich lässt wie Irene das „andere Land“, um einen Neuanfang zu wagen. Es mag daher nicht überraschen, dass sich dabei eine besondere Sensibilität für die Kategorie der Zeit entwickelt. Das Verpasste und Verlorene, das Erträumte und Unerreichbare ergeben eine Spannung, die die Zeit buchstäblich spüren lässt. Vielleicht deshalb ist sich Irene – sie scheint im Roman eine dreißigjährige Frau zu sein – dieser abgehenden Zeit so bewusst. „Ich glaube, dass ich sehr alt bin, hatte Irene eines Abends in dieser Kneipe zu Stefan gesagt.“ Nicht umsonst wählte Herta Müller das Zitat „Aber ich war nicht mehr jung“ von Cesare Pavese als Epigraph für ihr Buch. Sowohl die rare Handlung, die Dramatik der emotionalen Schilderungen, als auch die vielen Motive – Bahnhöfe, Straßen, das Umherirren, die Bettler – lassen den Einfluss des italienischen Schrisftstellers auf Herta Müller vermuten.

Die Beschreibung der Stadt als ein lebendiges Gebilde mit vorbeifahrenden Zügen und U-Bahnen und die Schilderung der Passanten lassen zum einen an die Darstellung der Großstadt in der Literatur der 1920er-Jahre denken. Zum anderen rekurriert Herta Müller durch ein Zitat aus dem achten Kapitel von Italo Calvinos „Le città invisibili“ auf eine infernale Perspektive, auf eine Höllenstadt. Diese „Hölle der Lebenden“, die laut Calvino „schon da ist, die Hölle, in der wir jeden Tag leben, die wir durch unser Zusammensein bilden“, lässt Herta Müller ihre Protagonistin – und mit ihr auch ihre Leser – durchwandern. Es ist sowohl eine Wanderung durch Dantes Inferno, aber auch durch eine Terra incognita wie durch „die verheißene Stadt“.

In ihrer Stockholmer Rede brachte Herta Müller diese Gefühlswelt auf den Punkt: „Aber was man nicht sagen kann, kann man schreiben. Weil das Schreiben ein stummes Tun ist, eine Arbeit vom Kopf in die Hand.“

Titelbild

Herta Müller: Reisende auf einem Bein. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
175 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235342

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