Vorne und hinten verkehrt

Ralph Dutli hat altfranzösische Fatrasien ins Deutsche übersetzt und so eine kleine Kostbarkeit wieder entdeckt

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fatrasien, Facezien und Farcen – die mittelalterliche Dichtung hält noch immer ein paar erstaunliche, vitale Überraschungen bereit. Oben ist unten und schwarz ist weiß, mit solchen Verdrehungen wurde bereits im 13. Jahrhundert eine respektlose absurde Poetik zelebriert, die jener des späteren Surrealismus in nichts nachsteht.

Sechs Jahrhunderte vor Lautréamonts „zufälliger Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch“ schrieb ein anonymer Dichter aus Arras: „Ein weißer Rock von schwarzer Farbe / machte aus besinnungslosem Sinn / ein Zaumzeug.“

Die Vernunft unter der Narrenkappe und die Welt verkehrt herum – das waren Lieblingsmotive der mittelalterlichen Dichtung. Weit avant la lettre ließ der nämliche Dichter (oder waren es unterschiedliche?) einen „bewaffneten Schneckerich“ das Prinzip der Écriture automatique formulieren: „Ich dichte im Schlaf.“

Erstmals hat Ralph Dutli die seltenen Zeugnisse dieser Unsinnspoesie ins Deutsche übertragen. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts (die Datierung schwankt zwischen 1250 und 1290) wirkten im nordfranzösischen Arras einer oder mehrere anonyme Dichter, die solch närrische Fatrasien verfassten und durch sie die herrschenden Verhältnisse verlachten.

In diesen formal streng gebauten Gedichten, jeweils aus elf Zeilen à fünf bis sieben Silben bestehend, drückt sich in knapper, gezügelter Form eine elementare groteske Vitalität aus, wie sie für die karnevaleske Kultur kennzeichnend ist: Der Dichter legt sich die Narrenkappe an und hält der Welt den Zerrspiegel vor. In seinem Buch „Rabelais und seine Welt“ charakterisiert der Literaturhistoriker Michail Bachtin diese Kultur als „verkehrte Welt“. „Für sie gilt eine eigene Logik der Umkehrung (à l’envers), des Gegenteils, des Auf-den-Kopf-Stellens, eine Logik der ständigen Vertauschung von Oben und Unten (wie beim ‚Rad‘), von Gesicht und Hintern; ihre charakteristischen Ausdrucksformen sind die verschiedensten Varianten von Parodie und Travestie, Degradierung und Profanierung, närrischer Krönung und Entthronung.“ Diese Logik manifestiert sich im ambivalenten Lachen, im grotesken Körper und in der „fröhlichen Materie“, also in Gelächter, Buckeln, Mösen und Kot.

Hinten nach vorn und oben nach unten verkehren hieß auch, den Arsch auf den Kopf stellen und dem Unmöglichen zu seinem Recht verhelfen. Wiederholt taucht beispielsweise der „Furz einer Käsemade“ auf – offenkundig ein beliebtes und wohl auch erfolgreiches Motiv. Mit Fürzen, Scheißen und Ficken feiert diese Poesie mit lustvoller Unbefangenheit und närrischem Witz eine Anarchie der niederen Triebe. Dabei verliert der Würdenträger seine Würde, die Zeit ihre Ordnung und der Tod seine Endgültigkeit – ja selbst vor Blasphemie macht diese Poesie nicht Halt: „ich werde Gott wägen auf einer Waage / und wenn er mich nicht zu seinem Ebenbild macht / werd ich mich beklagen bei einem Messer ohne Griff“.

Dieses Zitat stammt aus einem abgewandelten Genre der Fatrasie, einem rund 50 Jahre später verfassten Fatras. Die Herleitung des Namens übrigens ist nicht gesichert. Womöglich rührt er von „farcire“ (vollstopfen) her, also der Farce; es könnte sich aber auch um eine Verballhornung von „Phantasia“ handeln, wie Dutli mutmaßt.

Auch im Fatras herrscht das Gebot der Elfzahl – die Zahl der Narren, zwischen zehn und zwölf. Elf Zeilen werden zwischen einen meist wohlanständig höfischen Zweizeiler geschoben, um dessen Sinn gründlich zu verballhornen.

Also seh ich euch nun gar nicht mehr,
meine so sanfte noble Dame
„Also seh ich euch nun gar nicht mehr,“
sagt ein Affe, der ertrinkt
zu einem Blatt von Pfefferminze,
„ich werde Graf von Savoyen sein,
[…]
Nehmt euren Arsch weg, dass er nicht furze!
Meine so sanfte noble Dame.“
In seinem erläuternden Nachwort, worin er Fatrasien und Fatras in den literaturhistorischen Kontext stellt, schreibt Ralph Dutli, dass es sich dabei womöglich um „eine Art mittelalterliche Slam Poetry oder scharfer Rap“ gehandelt haben könnte. Genaues ist freilich nicht überliefert. Beim lauten Lesen werden aber unweigerlich die performativen Qualitäten dieser Dichtung spürbar.

So absurd und grotesk sich diese Poesie gibt, so wenig darf sie für dumm gehalten werden. Im Gegenteil verraten ihre zahlreichen Anspielungen (etwa auf die höfische Literatur) Witz und Bildung, und somit einen Mutwillen, der die Welt bewusst und gekonnt ins poetische Chaos stürzt. Bachtin schreibt: „Dummheit ist auf den Kopf gestellte Weisheit, sie ist die Kehrseite der offiziellen, herrschenden Wahrheit.“ Aller Derbheit zum Trotz zeichnen sich die Fatrasien durch eine äußerst sublime poetische Form aus, die sich kaum übersetzen lässt. Ralph Dutli hat sich daher auf eine sinngemäße Übertragung beschränkt, die „gleichsam das geschliffene Juwel von seiner Fassung in den Zustand des sprachlichen Rohdiamanten“ zurückführt. Das altfranzösische Original steht jeweils daneben und erlaubt so den direkten Vergleich. Demnach lauten die eingangs zitierten drei Verse: „Blanche robe moire / D’un sens sans mimoyre / Faisoit un lorain.“

Diese Fatrasien sind ein Fest für Liebhaber der absurden Poesie und – mit Nachdruck betont – der Spoken Words. Sie zelebrieren mit Lust und in poetischer Vollendung eine Kultur der verkehrten Welt, die sich in Spurenelementen bis heute in Karneval und Fastnacht überliefert hat. Ihre derbe, phantastische Komik wirkt auf jeden Fall ansteckend – gleich wie ein aus Paris, Rom und Syrien verfertigtes Hühnerfrikassee: „Keiner aß es ohne Lachen.“

Titelbild

Ralph Dutli: Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters.
Aus dem Altfranzösischen übersetzt von Ralph Dutli.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
144 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783835307742

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch