Über die Enzensberger’sche Konstante hinaus

Hans Magnus Enzensbergers gesammelte Essays über Literatur sind unter dem Titel „Scharmützel und Scholien“ erschienen

Von Nikolas ImmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolas Immer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Don’t Panic“ lautet die Aufschrift auf dem berühmten „Hitchhiker’s Guide to Galaxy“. Fast ließe sich glauben, Hans Magnus Enzensberger zitiere Douglas Adams, wenn am Ende seiner neuen Essay-Sammlung zu lesen ist: „Bitte nicht erschrecken!“ Doch während die Aufschrift bei Adams dazu dient, die Angst vor der Komplexität des Universums zu nehmen, zielt Enzensbergers Nachschrift auf die Einstimmung des Lesers in ein knapp eintausendseitiges Lesevergnügen.

Enzensberger, der im letzten Jahr seinen 80. Geburtstag gefeiert hat, ist ein unvermindert produktiver Autor. In den vergangenen Jahren sind, um nur weniges zu nennen, der Essay „Im Irrgarten der Intelligenz“ (2007), die literarische Biografie „Hammerstein oder der Eigensinn“ (2008) sowie der Gedichtband „Rebus“ (2009) entstanden. Blickt man allein auf die Liste seiner Essay-Bände, so lassen sich bis zum Jahr 2004 insgesamt 23 Publikationen zusammentragen. (Die Zählung folgt dem gelungenen Enzensberger-Projekt der RWTH Aachen, das leider seit Ende 2007 nicht mehr aktualisiert wird.)

Die von Rainer Barbey herausgegebene Sammlung zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, nicht nur auf den Textbestand vorangehender Essay-Bände zurückzugreifen. Vielmehr werden auch Schriften von Enzensberger aus den Jahren 1955 bis 2006 aufgeführt, die bislang nur schwer zu erreichen oder noch gar nicht publiziert waren. Auf 924 Seiten bekommt der Leser damit einen kompakten Einblick in das ein halbes Jahrhundert umspannende literaturkritische, -theoretische und -ästhetische Werk von einem der herausragenden deutschen Gegenwartsautoren.

Wie die „Editorische Notiz“ des Herausgebers informiert, hat Enzensberger an der Auswahl seiner Texte selbst mitgewirkt. Alles, was ihm „fossil und im Grunde unliterarisch“ erschien, hat keinen Eingang in die Sammlung gefunden. Die abgedruckten Essays hingegen werden nicht in chronologischer Folge, sondern in thematischer Gliederung präsentiert. Flankiert werden diese Großabschnitte von den bisher ungedruckten Frankfurter Poetikvorlesungen (1964/65), die am Eingang der Sammlung stehen, und von der „Einladung zu einem Poesie-Automaten“ (2000), die den Textteil beschließt.

Wiederholt kreisen die Texte um die Frage nach dem Status der eigenen Autorschaft sowie um die Frage nach den Möglichkeiten poetischen Schreibens unter den Bedingungen der Moderne. Bereits der Einstieg in die Frankfurter Poetikvorlesungen greift diese Reflexionen in konzentrierter Form auf: „Spielen Schriftsteller eine Rolle?“ Die Antwort lautet, wie gewohnt enzensbergerisch-schelmisch: „Das ist zu befürchten.“ Gemeint ist damit jedoch weniger die politisch oder gesellschaftlich wirksame Rolle des Schriftstellers, die er spielt oder spielen könnte, sondern vielmehr sein etabliertes Rollenbild. Die Gemeinschaft mache den Schriftsteller ‚handhabbar‘, indem sie Stereotypen entwerfe, auf die sie ihn reduzieren und festlegen kann. Eingedenk dieses Verfahrens können Enzensbergers Essays als Erprobung, Unterminierung und Destruierung jener Rollenbilder verstanden werden.

Im Abschnitt „Überlegungen zur Lage“ finden sich in der Hauptsache literaturpolitische Arbeiten, in denen der Stellenwert der Literatur diskutiert, Funktionsweisen des Literaturbetriebs erörtert und Entwicklungen der Literaturgeschichte beschrieben werden. Enthalten sind hier beispielsweise der frühe Aufsatz „Scherenschleifer und Poeten“ (1961), der zuerst in Hans Benders Sammlung „Mein Gedicht ist mein Messer“ erschienen war; der für Enzensbergers Poetik der frühen 1960er-Jahre zentrale Essay „Poesie und Politik“ (1962), in dem der subversive Gehalt von Poesie begründet wird; und der ursprünglich ein wenig entlegen gedruckte Beitrag „In Search of the Lost Language“ (1963), in dem Enzensberger die Rekonstituierung der Nachkriegslyrik differenziert erläutert.

Während der Abschnitt „Klassiker“ Beiträge zu großen Dichtern der Weltliteratur versammelt, folgen im Abschnitt „Tages Kritik“ Besprechungen und Rezensionen von zeitgenössischen Werken. Die „Albumblätter“ hingegen enthalten Würdigungen einzelner Autoren, etwa mit Blick auf Heinrich Böll, Martin Walser oder Nelly Sachs. Schließlich folgt der Abschnitt „In eigener Sache“, in dem poetologische Beiträge aufgeführt werden wie zum Beispiel Enzensbergers Rede über „Die Entstehung eines Gedichts“, in der anhand des Gedichts „an alle fernsprechteilnehmer“ die allmähliche Verfertigung poetischer Gedanken demonstriert wird. Konterkariert wird dieser Abschnitt jedoch ein wenig von der Nachbemerkung Enzensbergers, in der er beklagt, dass sich die „Literatur über Literatur […] einer entsetzlichen Beliebtheit“ erfreuen würde. Das heißt der Schriftsteller, der poetologische Auskunft über sein Werk gibt, ist ihm bereits im Moment des Auskunft-Gebens suspekt geworden.

Abgerundet wird der außerordentlich lesenswerte Sammelband durch ein Quellenverzeichnis der einzelnen Beiträge sowie durch ein Personenverzeichnis. Unverständlich bleibt, warum Barbey im Rahmen der bibliografischen Nachweise stets auf die Notierung der Seitenzahlen verzichtet hat, obwohl die genauen Angaben problemlos den Bibliografien von Alfred Estermann (1984) und Rainer Wieland (1999) hätten entnommen werden können. Erfreulich ist dagegen, dass versucht wurde, die im Erstdruck gebotenen Beiträge – soweit es im Einzelfall möglich ist – genau zu datieren.

Was den Nachweis des Essays „Weltsprache der modernen Poesie“ angeht, ist allerdings eine Korrektur angebracht. Während im Quellenverzeichnis vermerkt wird, er sei zuerst als Nachwort zum „Museum der modernen Poesie“ (1960) erschienen, ist er dort tatsächlich als Vorwort gedruckt worden. Außerdem wird im zweiten Abschnitt auch die von Enzensberger später verfasste „Nachbemerkung zu einer Neuauflage“ wiedergegeben, die mit der Datierung „(1979/2002)“ versehen wird. Barbey erläutert zwar, dass die „Nachbemerkung“ im Rahmen eines Neudrucks des „Museums“ (2002) veröffentlicht wurde, verschweigt aber, dass sie eine andere ästhetische Position akzentuiert als noch in jener Fassung, die Enzensberger bereits 1979 anlässlich einer Neuauflage des „Museums“ abgefasst hatte.

Ohne Frage ist es höchst verdienstvoll, die zuweilen nur entlegen veröffentlichten und teilweise noch nicht einmal publizierten Beiträge Enzensbergers in einem Band versammelt zu haben. Auch wenn das Buch dadurch gewichtig geworden ist, bleibt es doch, wie der Herausgeber bekundet, „eine Ausgabe leichter Hand“. Doch auch im Rahmen einer solchen Ausgabe steht der Herausgeber in der Pflicht, sich um größtmögliche Genauigkeit zu bemühen. Wenn sich im Einzelfall aber Unrichtigkeiten einschleichen, erscheint der überflüssige Vorwurf Barbeys, historisch-kritische Ausgabe würden nur „langweilen“, doppelt fragwürdig.

In seinen „Meldungen vom lyrischen Betrieb“ (1989) hat Hans Magnus Enzensberger einmal die ‚Enzensbergersche Konstate‘ aufgestellt, die bei „± 1354“ liege. Sie beziffert die Anzahl derjenigen Personen, „die einen neuen, eingermaßen anspruchsvollen Gedichtband in die Hand nehmen“. Mit Blick auf die vorliegende Sammlung ist nicht nur zu hoffen, dass sie von mehr als 1354 Personen in die Hand genommen wird. Zu hoffen ist vielmehr, dass sie von diesen Personen auch mit Genuss gelesen wird.

Titelbild

Hans Magnus Enzensberger: Scharmützel und Scholien. Über Literatur.
Herausgegeben von Rainer Barbey.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
924 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518421208

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