Komplexität und Ambiguität

Das beginnende 21. Jahrhundert findet im Krimi sein angemessenes Medium. Don Winslows fulminanter Drogenthriller „Tage der Toten“ demonstriert das mustergültig

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Rede von der Serie als „neuem Bildungsroman“ geistert durch die Feuilletons. TV-Serien wie „Sopranos“ oder „The Wire“ übernehmen demnach die Funktion, die Komplexität und Ambiguität der heutigen Lebensverhältnisse angemessen nachzubilden.

Der Realismus der Serien ist dabei keineswegs anachronistisch angelegt – etwa als Kopie des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts –, sondern im mehrfachen Sinne modern, inhaltlich wie strukturell. Zum einen reflektieren die Serien die zynische Haltung ihrer Zuschauer, deren Reflexivität und die dissoziative Struktur der Gesellschaft. Zum anderen aber bieten sie ihren Zuschauern einen wohl entscheidenden Nutzen, nämlich Orientierung: In der Struktur des Erzählten, in seiner Matrix, im Muster liegt die eigentliche orientierende Qualität der Serienerzählung.

Orientierung ist aber nur dann notwendig, wenn die gesellschaftliche und individuelle Praxis von Variation und Dynamik, Fluss und Prekarität bestimmt wird. In einer gesellschaftlichen Situation, die dem Einzelnen nichts an Sicherheit bietet als den Umstand der eigenen, eben keinesfalls fraglosen Existenz, sind mediale Angebote hilfreich, die Muster in endlosen Schleifen reproduzieren und modifizieren. Sie bieten zudem so etwas wie Identität an, da die stabile Identität des Akteurs ebenso angeboten wird wie feste Orientierungspunkte im sozialen und symbolischen Kontext gestellt werden.

Mit anderen Worten, auch wenn die Subjekte sich über den fiktiven und irrealen Charakter der Serien im Klaren sind, so sind sie ihnen doch willkommen. Zynismus, Ironie und Reflexivität sind als lebensbewältigende Haltungen damit jedoch keinesfalls suspendiert. Wer sich so verhielte, würde die Grenze zwischen Imagination und Realität aufgeben, was zweifelsohne pathologischen Charakter annehmen würde.

Es geht um etwas anderes: Die Serien und ihre Helden sind Projektionen der Problemlagen, in denen sich ihre Zuschauer gefangen sehen. Sie bieten zugleich Anleitung wie strukturelle Orientierung. Sie sind direkte Ratgeber – wenn auch zum Teil mit negativen Vorzeichen – und fast unsichtbare Eckpfeiler einer Alltagsstruktur, die ansonsten von Überlastung, Unsicherheit und mangelnder Planbarkeit bestimmt ist. Und schließlich stellen sie Spielformen von Problemantiken zur Verfügung, die als Bewältigungsformeln oder als Interpretationsfolien dienen können.

Das wird in Don Winslows neuem, bei Suhrkamp verlegten Roman „Tage der Toten“ auf höchstem Niveau deutlich. Der Roman, der den Kampf gegen mexikanische Drogenkartelle im Zeitraum zwischen 1975 und 1999 behandelt, lässt sich eben nicht nur als Geschichte einer blutigen Auseinandersetzung lesen. Wer diesen Krimi als quasi historiografischen Text liest, als Geschichte des Drogenkriegs, wird auf seine Kosten kommen, aber sich mit den Unsicherheiten der literarischen Form abfinden müssen. Ob das, was Winslow hier als historische Folio aufnimmt, im Grundsatz so gewesen ist, geht zudem als Frage am Text vorbei.

Auch als Thriller ist Winslows „Tage der Toten“ zwar lesbar, aber nicht in seinen wesentlichen Grundzügen erfasst. Denn dieser Krimi geht weit darüber hinaus.

Er widmet sich einem Gedankenspiel, das in der Gegenwart eine prominente Rolle einnimmt: Ob nämlich derjenige, der mit dem Bösen kämpft, von seinen Eigenschaften unberührt bleibt. Ob der, der das Böse bekämpft, immer nur mit den guten Waffen kämpfen kann und wird. Ob das Böse selbst böse ist und ob nicht vielmehr das Böse eine Eigenschaft ist, die von den Personen weitgehend abgelöst werden kann (aber nicht muss).

Mit anderen Worten bewegen wir uns auf einem Terrain, das Zygmunt Bauman in jenen Schriften behandelte, mit denen er bekannt wurde: In der „Dialektik der Ordnung“ und „Moderne und Ambivalenz“ versuchte er sich an der Frage, inwieweit der Holocaust kein Rückfall in die Barbarei, sondern Ausdruck der Moderne war, mit anderen Worten, moderne Gesellschaften strukturell, habituell und ideologisch voraussetzte.

Und in der Tat wird dies durch die Geschichte des amerikanischen Drogenpolizisten bestätigt, der sich dem Kampf gegen die mexikanischen Drogenkartelle verschrieben hat und einsehen muss, dass er mit jedem Sieg, den er davonträgt, seinen Gegner immer nur mächtiger macht. Der einsehen muss, dass sein vermeintlich positives Wirken den Zugriff der Drogenkartelle auf ihre amerikanischen Märkte nur verstärkt. Der zudem einsehen muss, dass die Drogenkartelle politisch und wirtschaftlich unhinterschreitbare Mächte geworden sind. Diese Geschichte lässt sich eben auch lesen als eine Geschichte der Industriegesellschaften am Ende des 20. Jahrhunderts und im beginnenden 21. Jahrhundert.

Die Verhältnisse sind derart komplex geworden, dass die Linien zwischen richtigem und falschem Handeln brüchig geworden, wenn nicht schon ganz verschwunden sind. Jeder Einzelne muss sich jederzeit aufs Neue in diesem Umfeld orientieren und täglich Entscheidungen treffen, die nicht nur ihn betreffen und deren Auswirkungen verhängnisvoll sein können. Ein schuldloses Handeln ist nicht mehr auch nur denkbar.

Dabei funktioniert diese Geschichte zwar als eigener Kosmos, für den Leser aber stehen nur bestimmte Positionen als Orientierungs- und Identifizierungspunkte zur Verfügung: Arthur Keller, die Barrera-Brüder, die Prostituierte Nora, der irischstämmige Killer Callan.

Sie alle sind – das ist mittlerweile das Maß – keine klaren Charaktere, sondern gemischte. Selbst der langjährige Drogenboss Ardán Barrera liebt und ist ein treusorgender Vater und Ehemann. Auch er kennt Grenzen, die er jedoch überschreitet. Selbst er agiert im Wesentlichen wie ein Manager, der seine Geldgeschäfte regelt und ein Unternehmen führt, das harter Konkurrenz ausgesetzt ist.

Dass die Drogenkartelle auftreten wie Kampagnenfürsten der Renaissance, ist dabei eines der wiederkehrenden Merkmale des Genres. Mitsamt der Tendenz zu Pazifizierung, Ökonomisierung und Politisierung ihrer Position, die in der Notwendigkeit der Konsolidierung und Etatisierung begründet liegt: Eine Machtposition, die auf Dauer gegründet sein will, muss sich darum kümmern, den Ausnahmezustand in einen Normalzustand zu konvertieren. Das misslingt in der Regel – das Beispiel der Mafia in diesem Roman zeigt das –, was aber die Notwendigkeit nicht suspendiert.

Dass am Ende keine Lösung steht, sondern nur eine kleine Rechnung, die aufgemacht und geschlossen werden kann, ist ebenso dem Genre wie seiner Anlage als symbolisches Spiel zuzurechnen, das sich eben nur realistisch gibt.

Die Kunst besteht nun darin, solche Spiele nicht nur zu konstruieren, sondern auch lesbar zu machen. Die meisten Versuche gehen jedoch schief.

Don Winslow aber zeigt, dass dies nicht nur in den avancierten TV-Serien gelingen kann, in denen vergleichbare Muster angespielt werden, sondern auch im gedruckten Format. Das ist zwar selten. Richard Price’s „Cash“ (siehe literaturkritk.de, Nr. 09/2010) ist Winslow noch gleichrangig. Aber doch machbar. Und dafür gebührt Winslow allerhöchsten Respekt.

Titelbild

Don Winslow: Tage der Toten. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Chris Hirte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
689 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783518462003

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