Moralprediger oder Weisheitslehrer?

Lew Tolstoj als Lebensphilosoph

Von Felix Philipp IngoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Philipp Ingold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Moskau erscheint gegenwärtig eine auf 100 Bände angelegte kritische Werkedition von Lew Tolstoj (1828-1910), welche die sogenannte „Jubiläumsausgabe“ aus den Jahren 1929 bis 1958 ablösen soll. Von der neuen Edition ist kein großer Zuwachs an bisher unbekannten Texten oder Textvarianten zu erwarten, dagegen sehr wohl eine stark revidierte Gewichtung und Kommentierung des gewaltigen Textkorpus insgesamt.

Das Interesse der Herausgeber wie auch der Leser dürfte sich vom belletristischen Werk (Romane, Erzählungen, Dramen) vermehrt auf Tolstojs publizistische und private Schriften verlagern, mithin auf seine Abhandlungen, Aufsätze und Reden sowie auf die Tagebücher, die „Beichten“ und Briefe, die alles in allem weit mehr als die Hälfte des Gesamtwerks ausmachen, die aber zur Sowjetzeit aus ideologischen Gründen großteils als obsolet galten und der öffentlichen Diskussion weitgehend entzogen waren.

Es handelt sich dabei um Tausende von Druckseiten, die Tolstoj vorzugsweise religiösen, moralischen, pädagogischen, rechtlichen, politischen, aber auch – aus aktuellen Anlässen und dementsprechend wechselnden Gesichtspunkten – gesellschaftlichen und kulturellen Fragen gewidmet hat. Der literarische „Klassiker“, Verfasser der Romane Krieg und Frieden, Anna Karenina“, „Auferstehung, war im außerliterarischen Feld stets auch ein „Ketzer“, der sich gegen staatliche wie kirchliche und wissenschaftliche Autoritäten dezidiert auflehnte, wodurch er sich einerseits zahllose Feinde machte, andererseits sich als Heilsbringer unterschiedlichster Interessengruppen empfahl, zu denen Pazifisten, Anarchisten, Vegetarier, Kastraten, antiautoritäre Erzieher und Sozialreformer gleichermaßen gehörten.

Tatsächlich hat sich der späte Tolstoj mit mehreren, noch immer wenig bekannten Buchwerken als „Denker“, als „Prediger“, als „Weiser“, sogar als „Prophet“ von eigener Statur und Stimme zu erkennen gegeben. Seinen Tagebüchern und Briefen ist zu entnehmen, wie sehr ihm an diesen „Lesebüchern“ gelegen war und wieviel Energie er in den letzten Lebensjahren für deren Fertigstellung aufgewendet hat. An Umfang stehen die „Lesebücher“ (die eigentlich als Lehrbücher, sogar als Lebensbücher gedacht waren) hinter Tolstojs Romanen kaum zurück, ihre schlichten Titel – Lesekreis(1904-1908), Für jeden Tag(1906-1910), Lebensweg(1910) – machen deutlich, dass sie einem breiten Publikum zur Bildung und Erbauung dienen sollten.

Lebensweg“, ein rund 450 Seiten starker Band, ist vor kurzem in Moskau neu erschienen, mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Drucklegung im Rahmen einer schwer zugänglichen wissenschaftlichen Werkedition. Doch für die heutigen Herausgeber liegt Lew Tolstoj vorab als „Esoteriker“ im Trend, als ein „Weisheitslehrer“, der mit souveräner Geste östliche und westliche, antike und moderne Spiritualität vereinnahmt und zeitgerecht aufgearbeitet habe. Diese aktualisierende Lesart wird zusätzlich dadurch beglaubigt, dass man dem Band einen vergessenen Text Tolstojs über das Karma beigibt.

Nun hat zum 100. Todestag des Autors der in Dresden und auf Rügen tätige Russist Holger Kuße eine Monografie über Tolstoj und die Sprache der Weisheit vorgelegt, die im Wesentlichen dessen Lebensweg zum Gegenstand hat und die erstmals einige Passagen daraus in deutscher Übersetzung zugänglich macht. Das Interesse gilt hier nicht dem „Esoterischen“ schlechthin, sondern der spezifischen „Weisheit“ Lew Tolstojs und der Art und Weise, wie er sie sprachlich artikuliert. „Sprachlich“ heißt in diesem Fall soviel wie rhetorisch, und gefragt wird nach der „weisheitlichen“ Ausformulierung eines Denkens, das stets von Gegensätzen bestimmt und in Widersprüchen befangen war.

Lange hat Tolstoj an seinem knappen Vorwort zu Lebensweg laboriert, bis er es gut sein lassen konnte. Auf bloß drei Druckseiten legt er in 31 Paragrafen seine ethischen und religiösen Grundeinstellungen dar. An erster Stelle hält er autoritativ fest, dass ein gutes Leben dann nur zu realisieren sei, wenn man – „der Mensch“ – wisse, „was getan werden muss und was nicht“. In der Folge ist vorab von „Anstrengungen“ und von „Sünden“ die Rede, die zu unternehmen beziehungsweise zu unterlassen seien, um ein „gutes“, letztlich gottgefälliges Leben in Demut, Liebe und Wahrhaftigkeit hienieden zu verbringen. Als engagierter Gegner von Dogmen, Ideologien, Institutionen und Hierarchien kann sich Tolstoj gleichwohl nicht der apodiktischen Lehrhaftigkeit enthalten, die stets mit Behauptungen, Forderungen, Warnungen operiert und dabei, naturgemäß, auf jede nachvollziehbare Argumentation verzichtet.

In wiederum 31 Kapiteln legt Lew Tolstoj zu jeweils einem Themenbereich Texte verschiedenster Autoren in knappen Auszügen vor, die er ohne Berücksichtigung ihrer Herkunft oder Chronologie assortiert und willkürlich durch eigene Kommentare ergänzt. Die Themen entstammen mehrheitlich dem Bereich der „Sünden, Verlockungen und des Aberglaubens“ (Fleischeslust, Irrglaube, Eitelkeit, Völlerei, Pseudowissenschaft, Gewalt und so weiter), sind mithin auf Abschreckung oder gar auf Drohung angelegt, wohingegen ex positivo – weit weniger ausführlich – vom richtigen Glauben, von der Seele, von Gott, von der Liebe, vom Nichtstun, vom Tod die Rede ist.

Verschmelzung des eigenen Willens mit dem Willen Gottes – das ist der zentrale Imperativ, den Tolstoj mit seiner Sentenzenlese zum „Lebensweg“ durchzusetzen versucht und den er als Prämisse für seine globale moralische Aufrüstung durchweg präsent hält. Es ist ein hoher, letztlich ein übermenschlicher Anspruch. Denn mit der „Verschmelzung“ wird ja nicht bloß die Unterwerfung des menschlichen unter den göttlichen Willen gefordert, sondern auch – und zugleich – die Erhebung persönlichen Wollens zu höchster Reinheit, Güte, Redlichkeit. In vorbehaltsloser Opferbereitschaft und Nächstenliebe ebenso wie in konsequentem Vegetariertum sollte dieses Wollen tagtäglich praktiziert werden. Ohne Rücksicht darauf, wie sehr er damit den Menschen und nicht zuletzt sich selbst überfordert, beharrt Tolstoj auf seiner kompromisslosen Forderung, jeder Einzelne müsse alles „Üble“ aus seiner Seele austreiben, um für das „Göttliche“ Platz zu schaffen. Der Einzug Gottes in die Seele des Menschen mache diesen selbst zu einem göttlichen Wesen – eine spirituelle Erfahrung, in der Tolstoj einen konkreten Gottesbeweis zu erkennen glaubt.

Wie hingebungsvoll und vertraulich Lew Tolstoj mit dem Herrgott umzugehen wusste, ist durch eine Vielzahl von Texten bezeugt, die er (mit auffallend häufigem Rückgriff auf Angelus Silesius, auf Lao-Tse, auf Blaise Pascal oder den ukrainischen Philosophen Grigorij Skoworoda) gruppiert unter Leitsätzen wie „Gott ist mit dem Verstand nicht zu erfassen“, „Gott wird vom Menschen in sich selbst erkannt“, „Der Glaube lenkt das Menschenleben“ oder „Je besser das Leben der Menschen ist, desto klarer erkennen sie die Einheit des göttlichen Ursprungs, der in ihnen lebt“. Solchen Gewissheiten stehen in Tolstojs Brevier zahlreiche Erfahrungstatsachen gegenüber, die das Menschengeschlecht in seiner fatalen Schwäche, Feigheit, Niedertracht, Verblendung, Arroganz und Grausamkeit herausstellen und damit den krassen Kontrast zum „Willen Gottes“ schonungslos markieren.

So gerät ihm die Textsammlung zum Lebensweg nicht nur, wie beabsichtigt, zu einem erbaulichen Lesebuch, sie erweist sich auch – in ungewolltem Gegenzug dazu – als eine düstere, dabei höchst eindrückliche Bilanz menschlicher Anmaßung und menschlichen Versagens, die sich eher zur Apokalypse denn zum Seelenfrieden hin zu öffnen scheint. Wenn Tolstoj gleichwohl darauf besteht (und sich damit begnügt), dass die Suche nach Gott der einzige valable Beweis für dessen Existenz und die einzige Abhilfe gegen den Untergang der Welt sei, befindet er sich auf einsamem Gelände, bleibt verstrickt in einen Zirkelschluss: Man könne Gott nicht nicht anerkennen, denn „gäbe es ihn nicht, so gäbe es überhaupt nichts“.

Nach eigenem Bekunden ging es Tolstoj bei der Erarbeitung seiner späten Lese- und Lebensbücher darum, „unter Zuhilfenahme großer, fruchtbarer Gedanken verschiedener Schriftsteller“ ein Ideenkonvolut zu kompilieren, das er nicht bloß als Herausgeber, sondern auch als Autor verantworten wollte. Die von ihm synthetisierten fremden „Gedanken“ hat er sich tatsächlich zueigen gemacht, indem er sie durch willkürliche Kürzungen oder Zusätze seinem eigenen Denken angepasst und sie außerdem durch redaktionelle Bearbeitung auf seinen eigenen Stil, seine eigene Rhetorik eingestimmt hat. Auch Übersetzungen, bereits vorliegende wie eigens erstellte, hat er seiner bevorzugten Schreibweise angeglichen, und er schreckte nicht davor zurück, übersetzte Texte sich selbst zuzuschreiben oder eigene Texte als Übersetzungen auszuweisen.

Unter diesem Gesichtspunkt wird man wohl auch hinnehmen müssen, dass Tolstoj auf Quellen- und Übersetzungsbelege ebenso souverän verzichtet wie auf die Nennung von Autoren, deren Namen er angeblich vergessen und deren „Gedanken“ er nun also gleichsam mit eigenen Worten ausgedrückt hat. Fremdes Gedankengut wird hier bedenkenlos mit eigenen Ideen und Glaubenssätzen amalgamiert, Fremdzitat und Selbstaussage werden bis zur Ununterscheidbarkeit verschliffen, das Arrangement vorgefundener Texte wird aufgewertet zu einer auktorialen Geste, die nicht mehr auf Diskursbegründung, sondern vielmehr auf Diskursverschmelzung angelegt ist.

Die Quellen, die im Lebensweg zusammenfliessen, könnten vielfältiger und auch gegensätzlicher nicht sein. Tolstoj greift gleichermaßen auf biblische, griechisch-römische, fernöstliche Zeugnisse zurück und bedient sich mit Vorliebe bei Autoren wie Seneca, Epiktet, Mark Aurel, Angelus Silesius, Maimonides, Pascal, berücksichtigt aber auch Texte von Jean Jacques Rousseau, Georg Christoph Lichtenberg, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, John Ruskin oder Henri-Frédéric Amiel, um seine eigene Weltsicht möglichst facettenreich zu veranschaulichen. Die Qualität seiner disparaten Quellen wiegt insgesamt um ein Vielfaches auf, was er selbst, auch vor Trivialitäten und Peinlichkeiten nicht Halt machend, an Pauschalurteilen vorbringt.

Die nun von Holger Kuße erstmals in deutscher Fassung präsentierten, allzu knapp gehaltenen Auszüge aus Lew Tolstojs eigenen Textbeiträgen zum Lebensweg unterscheiden sich inhaltlich wie rhetorisch kaum von dessen sonstigen Verlautbarungen zur gottgefälligen Lebensführung. Auch hier dominieren autoritative, grob pauschalisierende Aussagen ohne greifbaren Erkenntniswert, Aussagen, die eher an quietistische Kalendersprüche gemahnen denn an „weisheitliche“ Wahrheiten: „Der fleischliche Tod ist nicht das Ende des Lebens, sondern nur eine Veränderung.“ – „Die Liebe zerstört nicht nur die Angst vor dem Tod, sondern auch den Gedanken an ihn.“ – „Der Mensch fühlt das Heil des Lebens solange nicht, wie er das Gesetz des Lebens nicht erfüllt.“ – „Jede Wahrheit, in Worten ausgesprochen, ist eine Kraft, deren Wirkung grenzenlos ist.“ Und so fort.

Kußes erklärtes Anliegen ist die Rehabilitierung Tolstojs als „Mystiker“ und „Weiser“, dies im Gegenzug zu dessen Moralpredigertum, das sich weitgehend in Verboten („du sollst nicht“) und Geboten („du sollst“), mithin im dialektischen Rigorismus des Entweder-oder und des Alles-oder-nichts erschöpfte und für das Legenden, Fabeln, Aphorismen die bevorzugten Textsorten waren. Um diese Rehabilitierung im Hinblick auf den Lebenswegzu begründen und zu rechtfertigen, ruft er zahlreiche prominente Namen auf (darunter John L. Austin, Rudolf Bultmann, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann, Max Scheler, Gerd Scobel, Regula Zwahlen) und kommt zu folgendem Schluss: „Nicht nur gegen die Ideologien zur Legitimation menschlicher Machtinteressen, auch gegen abstrakte Argumentationen und jede Art von Erkenntnis- und Wissensanspruch ohne moralische Legitimation fordert Tolstoj die Anerkennung der richtigen Zusammenhänge von Erkenntnissen, die aus der Erfahrung des Lebens gewonnen werden, und die Anerkennung des Guten als Ziel des Lebens: all das macht seine Weisheit aus.“

Dass „weisheitliches“ Denken als „Anerkennung der richtigen Zusammenhänge von Erkenntnissen“ und als „Anerkennung des Guten als Ziel des Lebens“ hinreichend definiert ist, kommt einer Binsenwahrheit gleich und darf dennoch bezweifelt werden. Sicherlich aber ist Weisheit nicht vereinbar mit der von Tolstoj auch im Lebenswegdurchweg gepflegten Rhetorik, die vorrangig auf Behauptung, Wertung, Anmahnung, Verbot und Gebot angelegt ist. Denn die Weisheitsrede, wie man sie aus der westlichen und östlichen Mystik, aus spirituellen Dichtungen sowie aus der vorsokratischen Philosophie kennt, hebt keinesfalls auf Fremdtexte ab, ist nicht auf Zitate angewiesen, artikuliert sich zugleich individuell und generell, enthält sich aphoristischer Zuspitzung und Vereindeutigung, meidet Dialektik und Diktat ebenso wie das Urteil und die Verurteilung, beansprucht weder Richtigkeit noch Wahrheit, ist gesetzte Rede, die lediglich konstatiert, was so und nicht anders ist; kurz: „Sie erfindet“, wie der französische Sinologe François Jullien in seinem Buch über Das Andere der Philosophiezu bedenken gibt, „weder in ihrem eigenen Namen, noch fasst sie die Meinungen anderer zusammen; sie will nicht frappieren oder sich durch Originalität absetzen und lässt sich niemals vollständig auflösen, verschmelzen, assimilieren.“ All dies ist aber gerade für Lew Tolstojs lebensphilosophischen Diskurs charakteristisch, der mithin einem „weisheitlichen“ Anspruch nicht genügen kann.

Titelbild

Holger Kuße: Tolstoj und die Sprache der Weisheit.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010.
159 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783525560044

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