Im Land des Schimmelreiters

Gerd Eversberg zeichnet die Entstehungsgeschichte von Hauke Haiens Schicksal nach

Von Jutta LadwigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jutta Ladwig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Schimmelreiter“ ist Theodor Storms bekannteste Novelle. Die zu den Spätwerken Storms zählende Erzählung erschien erstmals im April 1888 in der „Deutschen Rundschau“. Seitdem haben Generationen das Schicksal Hauke Haiens im Schulunterricht oder Studium verfolgt, drei Verfilmungen brachten den Stoff ins Fernsehen und sogar eine Bühnenfassung wurde 1998 in Kiel uraufgeführt. Die Faszination, die von „Der Schimmelreiter“ ausgeht, ist auch heute ungebrochen. In Nordfriesland floriert der Tourismus. In Husum kann im Theodor Storm-Museum eine Ausstellung nur über den Schimmelreiter besucht werden, von Hattstedt aus finden Wanderungen zu den Originalschauplätzen der Novelle statt, die ein Gefühl für die Atmosphäre des Textes vermitteln und dem interessierten Leser Lust macht, das Werk wieder einmal zu lesen.

Auch Gerd Eversbergs neueste Publikation zu Theodor Stroms Altersnovelle regt zur erneuten Lektüre an. Der Direktor des Theodor-Storm-Zentrums in Husum und Sekretär der Theodor-Storm-Gesellschaft zeichnet in „Der echte Schimmelreiter. So (er)fand Storm seinen Hauke Haien“ die langjährige Entstehungsgeschichte der Novelle nach.

Storm war seit seiner Jugend von Gespenstergeschichten seiner Heimat Schleswig-Holstein fasziniert und ließ sich von ihnen für seine eigenen Geschichten inspirieren. Die Legende des Geisterreiters ging ihm sein Leben lang nicht aus dem Kopf. Doch hierbei handelt es sich keineswegs um eine lokale Legende. Ihr Schauplatz ist nicht Nordfriesland, sondern spielt an der Weichsel. Storm, so belegt Eversberg, stieß auf die Geschichte „Der gespenstige Reiter. Ein Reiseabenteuer.“ in einem 1838 im Hamburger Pappe-Verlag erschienenen Nachdruck des „Danziger Dampfboots“ vom 14. April des selben Jahres.

Die Geschichte hinterließ einen bleibenden Eindruck bei Storm. Erst Anfang 1885 entschied er sich, mit dem Schreiben seiner „Deichnovelle“ zu beginnen. Hierfür trug er Quellen zusammen und unternahm ausführliche Recherchen. Er selbst war mit der Gesetzes- und Sachlage vertraut. Storms Vater war als Koogschreiber und Syndicus für die Südmarsch zuständig. Derartige Verwaltungsdetails finden sich auch im „Schimmelreiter“ wieder. Der junge Storm erlebt mit sieben Jahren eine verheerende Sturmflut, der Vater und ein Kollege werden beauftragt, sich um die Behebung der entstandenen Schäden zu kümmern, und auch während seiner Laufbahn als Jurist wird Storm junior immer wieder mit den Problemen des Deichbaus konfrontiert und wohnt „Koegsgerichten“ bei.

Von Bekannten und Experten seiner Zeit beschaffte er sich Details zum Deichbau des 19. Jahrhunderts. So lassen sich in Storms Novelle die Ideen des Deichbaufinanziers Jean Henri Desmercières bezüglich neuer Deichbauweisen erkennen. Eversberg führt Originaldokumente wie Briefe, Zeitungsausschnitte und Pläne zur Deichkonstruktion an, welche diese Überlegungen belegen.

Storms Bekannten- und Freundeskreis, sowie in Nordfriesland bekannte Persönlichkeiten lieferten die Vorlage für das Figurenpersonal des „Schimmelreiters“. Das Gehöft des Deichgrafs, ist zum Beispiel eine literarische Kopie des Hofs von Johann Iwersen-Schmidt, dem damaligen Deichgrafen. Und auch Hauke Haien vereint die Charakterzüge eines zeitgenössischen Prominenten: Hans Momsen aus Fahretoft in Nordfriesland. Er war als Landmann, Mechaniker, Mathematiker und Einzelgänger bekannt. Als Autodidakt stellte er Seeuhren, Teleskope und auch Orgeln her.

Gerd Eversberg belässt es jedoch nicht bei Textanalysen und biografischen Bezügen. Auch wendet er sich der Topografie Nordfrieslands zu, um die Schauplätze der Novelle zu beleuchten. Fachbegriffe wie Koog oder Marschen werden erklärt, so dass keine Verständnisprobleme entstehen.

In einem ausführlichen Kultur- und Gesellschaftsportät skizziert er außerdem Nordfriesland und seine Bewohner. Auch die Geschichte des Deichbaus wird dokumentiert. So bekommt der Leser einen Eindruck für den sozialen und kulturellen Hintergrund des „Schimmelreiters“. Umfangreiches Karten- und Bildmaterial veranschaulichen Eversbergs Ausführungen zusätzlich und runden den Text ab.

Storms Schreibprozess wird von der Skizze bis zur Reinschrift und den letzten Änderungen der Erstausgabe rekonstruiert. Darüber hinaus führt Eversberg die Literaturlisten mit den Publikationen auf, die Storm für seine Recherchen verwendet hat. Zahlreiche Zitate aus dem ersten Konzept zum „Schimmelreiter“ machen einen Vergleich zwischen der Planung und der endgültigen Druckfassung möglich. Auch Storms eigene Streichungen werden berücksichtig, gestrichene Texte zitiert. Dies betrifft unter anderem die Schlussszene. In einem Brief an seinen Verleger begründete Storm seine Entscheidung, dass diese Passage „zu sehr aus der Stimmung fiel“, da Hauke Haien, im Laufe der gesamten Novelle in die Nähe eines Teufelsbündners gerückt, zu sehr dämonisiert und damit die beabsichtigte nachdenkliche Stimmung und der poetische Gegensatz zwischen Gespenstergeschichte und realistischer Erzählung zerstört würde.

Man muss kein Storm-Spezialist sein oder den „Schimmelreiter“ auswendig kennen, um Eversberg folgen zu können. Zwar bietet „Der echte Schimmelreiter“ viele Fachinformationen zur Rezeptionsgeschichte und literaturwissenschaftliche Ausarbeitungen, doch der Text richtet sich auch an den interessierten Leser, der tiefer in Theodor Storms bekannteste Novelle eintauchen möchte. Lebendig und spannend zeichnet Storm-Experte Gerd Eversberg die Entstehungsgeschichte des „Schimmelreiters“ nach. Die umfassenden Hintergrundinformationen zur Schimmelreiter-Legende und dem zähen Entstehungsprozess der weltbekannten Novelle lassen den „Schimmelreiter“ in neuem Licht wirken, so dass man bei der nächsten Lektüre dieser Erzählung neue Details entdecken wird.

Titelbild

Gerd Eversberg: Der echte Schimmelreiter. So (er)fand Storm seinen Hauke Haien.
Boyens Buchverlag, Heide 2010.
224 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783804213173

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