Leider unbrauchbar

Peter Brauns Literaturgeschichte nach 1945 für Jugendliche

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist von Anfang an unzuverlässig und eigentlich unbrauchbar: Stellt eine Epocheneinteilung vor, die schon seit vielen, vielen Jahren von niemandem mehr ernsthaft vorgenommen wird (außer von den Lehrern, die etwas Ordnung hineinbringen sollen). Meint, dass der Zweite Weltkrieg eine Grenze für die Literatur sei (statt die Nazizeit), dass Österreich und die Schweiz in der Literatur nach dem Krieg „größeren Einfluss gewannen als je zuvor“ (als hätte es nie die Wiener Moderne, den Aufbruch der gesamten Literatur aus dem Wien um 1900, Karl Kraus oder Robert Musil gegeben). Oder dieser Satz: „Wer kann heute schon sagen, was morgen noch standhält?“ Wer hätte gestern sagen können, was heute standhält? Lauter Unsinnigkeiten, Unzuverlässigkeiten, Ungenauigkeiten, Schludrigkeiten. Alles auf der ersten Seite des Vorworts. Da könnte man eigentlich schon aufhören.

Dann bedauert Peter Braun, dass seine Einteilung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr funktioniert. Warum will er die Werke eigentlich schubladisieren? Manches muss man einfach nur zitieren, damit sich, frei nach Kraus, der Autor selbst erledigt: „Hilfreich für das Verständnis früherer Werke und ihre Zuordnung zu Abschnitten der Literaturgeschichte sind die Lebensläufe der Schriftsteller, ihre Briefe und Tagebücher, die Aufzeichnungen ihrer Freunde und Bekannten.“ Da hilft nur noch ein Loriot’sches „Ach was!“

Dennoch unternimmt Braun den Versuch, die Nachkriegsliteraturgeschichte für junge Leser nachzuerzählen. Und das ist gut. Deswegen doch noch ein paar Anmerkungen zu seinem Buch „Von Blechtrommeln und Nestbeschmutzern“. Seinen Ansatz formuliert Braun wie folgt: „Manche Buchschönheiten ragen bereits jetzt aus ihm [dem Versuch, die ,Geschichte der deutschsprachigen Literautur zwischen Zweitem Weltkrieg und Abriss der innerdeutschen Mauer‘ zusammenzufassen – so umständlich ist Braun oft] hervor, und dies ist mein Weg zu ihnen – und nur meiner, denn dem leidigen ‚das muss man gelesen haben‘ ist zu misstrauen. Schon das ‚muss‘ ist ärgerlich. Bücher muss man nicht, Bücher darf man lesen.“ Die Idee ist schön – leider hält sich Braun nicht daran, denn er geht nicht auf die Bücher ein, sondern erzählt vor allem das Leben der Schriftsteller nach. Nicht einzelne Werke, sondern einzelne Autoren werden in den Vordergrund gestellt. Haben die ihn wirklich mehr fasziniert als die Bücher selbst, von denen er doch als „Bücherschönheiten“ schwärmt? An keiner Stelle wird die ganz private Faszination – das Schwärmen, das „Wandern durch noch unbekannte Bücherwelten“ – deutlich, nie, wo sich denn Braun einmal „verirren ausdrücklich erlaubt“ hat, wie er einmal meint. Er schreibt, nichts sei „langweiliger als eine abgearbeitete Werkliste. Buch x, entstanden y, Inhalt z – und das war’s?“ Aber genau dann macht er es selbst: „Wo warst du, Adam?“, und kurz darauf: „Und sagte kein einziges Wort“, dann: „Haus ohne Hüter“, und sowie bald danach: „Billard um halbzehn“. Sehr ermüdend.

Und auch sonst. Da sind Zitate nicht zuzuordnen (eine lobende Stimme, die meinte, „Und sagte kein einziges Wort“ sei das „beste Buch, das in der Nachkriegszeit geschrieben worden ist“ – wer, wann, wo?), da stellt er in einer seltsamen unhistorischen Reihe Bücher nebeneinander, die „irgendwo, irgendwann von irgendwem“ verboten wurden: Tom Sawyer, Don Quijote, Der Steppenwolf: Wieso, weshalb, warum? Da meint er, im „Roman der Moderne ist spätestens mit ‚Homo Faber‘ ein allwissender, ‚auktorialer‘ Erzähler nicht mehr wirklich möglich“. Warum das erst mit Frisch nicht mehr möglich sein soll, verrät er nicht. Warum zum Beispiel nicht bei Vladimir Nabokov, nicht bei James Joyce, oder Gertrude Stein, nicht bei – ich könnte viele aufzählen.

Zudem die vielen sachlichen Fehler oder Ungenauigkeiten oder Dummheiten: Dass Arno Schmidt im „ersten Jahr Keuchhusten“ hatte, „im dritten mit Atemwegserkrankung dem Tod nahe, nach dem Ersten Weltkrieg schwere Vergiftung an billigem Fleisch“ – Wen interessiert sowas? Dass er „Abscheu vor den Menschen und Argwohn gegen das althergebrachte Schreiben“ hatte, ist nur ein wiedergekäutes Vorurteil, das seit vielen Jahren grassiert: Wohl niemand hat wie Schmidt auf die Tradition hingewiesen, die Romantiker, Wieland, die Expressionisten. Dass er „jahrzehntelang“ übersetzte und damit „Geld aufs klamme Konto“ brachte: Übersetzt hat er von 1952 bis 1978, also mal gerade zweieinhalb Jahrzehnte, und das auch nicht einmal besonders häufig. Und warum Peter Braun dann auch noch Schmidts „Lieblingsessen“ aufzählt, weiß man auch nicht. Oder warum er von wenigen seiner Bücher nur knappe Nacherzählungen liefert und „KAFF auch Mare Crisium“ oder „Das steinerne Herz“ – die beiden Hauptwerke vor „Zettel’s Traum“, grandiose, witzige, spannende Aufnahmen der Nachkriegsgesellschaft, nicht einmal erwähnt, ebensowenig wie „Die Umsiedler“, „Brand’s Haide“, „Aus dem Leben eines Fauns“ oder „Die Gelehrtenrepublik“ – man weiß es nicht.

Kurz und schlecht: Peter Brauns Versuch einer Literaturgeschichte für junge Leser, der Versuch, ihnen Mut und Spaß zu vermitteln, moderne Literatur zu lesen, ist durchweg gescheitert. Es menschelt allzu sehr in den kleinen Aufsätzen über die, die Braun für große Literaten hält. Von seiner eigenen Faszination für die Bücher vermittelt er überhaupt nichts. Und hat er wirklich sonst nichts gelesen, das er gerne weitergeben würde, als die längst kanonisierte Autoren, die er vorstellt? Jens Rehn, „Nichts in Sicht“? Oder Christian Geißlers grandioses Buch „wird zeit, dass wir leben“? Oder Ernst Augustins wunderbar vielschichtiges „Raumlicht. Der Fall Evelyn B.“? Oder, oder, oder! Die Liste ist lang. Allzu lang.

Titelbild

Peter Braun: Von Blechtrommeln und Nestbeschmutzern. deutsche Literaturgeschichte(n) nach 1945.
Berlin Verlag, Berlin 2010.
201 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783827053664

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