„Denn wie die Geschichte bloß dramatisieren?“

Peter Handke zeigt es eindrucksvoll in seiner dramatischen Erzählung „Immer noch Sturm“

Von Evgenij UnkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evgenij Unker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man Peter Handkes neuestes Werk „Immer noch Sturm“, eine auf der Bühne spielende Erzählung in Ich-Form, als Theaterstück bezeichnen darf, dann ist es sicher das geschichts- und welthaltigste des Autors. Zudem ist es ein poetisches Meisterwerk von selten erreichter Kraft.

Wer die frühesten Stücke des Autors noch vor Augen hat, mit ihrer Experementier- und Provozierfreude, mit ihrer ostentativen Theater- und Sprachkritik, und wer sich an seine mittleren Stücke mit ihrer vielleicht nicht immer erfolgreichen Suche nach einer neuen Sprache und Ausdrucksform erinnert – der wird in „Immer noch Sturm“ die Entwicklung eines großen Autors dokumentiert finden.

Der einstige Elfenbeinturmbewohner spricht nun historischen „Klartext“. Geschichte wird hier buchstäblich erzählt. Das „Ich“ sitzt unter einem Apfelbaum auf einer Sitzbank im Jaunfeld – Handke selbst wurde in Kärnten als Sohn einer slowenischen Mutter geboren. Er nennt die Gegend „diese Steppe, heimelig“ – und wird abwechselnd mal von dem einen, mal von dem anderen, mal von allen Verwandten gleichzeitig („Meine Mutter“, „Meine Großeltern“, die drei Brüder und die Schwester der Mutter) aufgesucht und über unterschiedliche historische Zeitpunkte in ausdrucksstarken Dialogen und Monologen unterrichtet.

Auf diese Weise wird, obwohl nur erzählt und nicht dargestellt, sehr eidetisch die nicht ganz spannungsarme Familienkonstellation vor dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1936 geschildert, die Bekämpfung der slowenischen Minderheit durch die Nationalsozialisten 1942 während des Krieges und der anschließende slowenische Aufstand und Partisanenkrieg, welchen der älteste Bruder der Mutter im Drama sogar anführt und der 1943 die „einzigen Schlachten innerhalb der Grenzen des Tausendjährigen Reichs gegen dasselbige“ zur Folge hat.

Zur Sprache kommt vor allem auch die Desillusionierung nach dem Krieg, als sich herausstellt, dass die englischen Befreier nicht minder feindselig gegenüber den Slowenen eingestellt sind als noch kurz zuvor die Faschisten und dass die Siegermächte den Freiheitskämpfern entgegen allen vorherigen Versprechungen keine politische Autonomie zugestehen wollen.

Eine spielbare Handlung gibt es keine. In den Mittelpunkt rückt das Wort. So wird das Stück zu einer Hymne auf die Sprache, pikanterweise verfasst von einem der bekanntesten Sprachskeptiker der Gegenwart. „Unsere Sprache, unsere Macht. Jenseits der Sprache bricht die Gewalt los. Höchste Gewalt tötet die Sprache, und mit ihr den Einzelnen, dich und mich. In der Sprache bleiben. Auf ihr beharren! Sprache, meine, unsere: Hühnerleiter wird Jakobsleiter. Luft – Morgenluft – Osterluft – Jaunfeldluft! Das sind die Steigerungen.“ So spricht der älteste Mutterbruder: Sprache ist Heimat und Heimat ist Sprache. Jede Textzeile ist durchtränkt von der Liebe zur Sprache – nicht nur der slowenischen, in der Handke immer wieder einzelne Ausdrücke einschiebt, sondern der Sprache par excellence.

Dieser Wandel vom Abstrakten zum Konkreten kommt bei Handke aber nicht von heute auf morgen. Schon 1996 spricht er im Interview von einem „Sprung“ in seinem „Schreiber-Leben“: „Etwas wird dazukommen müssen, etwas, was ich immer abgelehnt habe: Historie. Geschichte.“ Noch im aktuellen Stück fragt sich das „Ich“: „wie die Geschichte bloß dramatisieren?“ Aber bereits ein Jahr nach der zitierten Ankündigung legt Handke mit „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ eins seiner besten Dramen vor, in dem er sich gleich einer ganzen Reihe politischer, historischer und gesellschaftlicher Fragen annimmt. Der in „Zurüstungen“ noch verallgemeinert als „Enklave“ bezeichnete und vielfältig interpretierbare Spielort wird in „Immer noch Sturm“ in Kärnten konkretisiert und mit realer Ortsgeschichte verbunden. Mit dem Handke’schen Ahnenmotiv der „99 Äpfel“, die laut Szenenanweisung und gleichzeitigen Ich-Erzählung auf dem Apfelbaum hängen, unter dem sich das „Ich“ mit seinen Vorfahren trifft, zieht der Dichter eine motivische Spur vom älteren zum neuesten Stück.

Seit den „Zurüstungen“ gab es bei Handke wieder Rückzüge ins Allgemeinere (das Stück „Die Spuren der Verirrten“) und Privatere („Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts“), aber auch das gesellschaftskritische „Stationendrama“ „Untertagblues“ und das politisch engagierte Stück „Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg“, in dem er seine Sicht auf die Jugoslawienkriege verarbeitet. „Immer noch Sturm“ ist nun die großartige Synthese von Privat- und Weltgeschichte, Poesie und Politik, Drama und Erzählung – eine vollendete Verschmelzung vieler Handke’scher Motive und Themen.

Wenig ansprechend ist allerdings der von Hermann Michels und Regina Göllner gestaltete Buchumschlag. Eine schiefstehende alte Holzschuppenfront mit Autorennamen und Buchtitel in beige eintöniger Schrift ist auf dem unscheinbar wirkenden Taschenbüchlein zu sehen. Gewaltiger kann der Kontrast zwischen Einband und Text kaum sein. Jener ist in diesem Fall das denkbar krasseste Gegenteil von einem Blickfang. Dieser ist eine Liebeserklärung an die Sprache, die in ihrer Schönheit heutzutage ihresgleichen sucht, eine bedeutende historische Dichtung, die einen neuen Höhepunkt in Handkes dramatischem Schaffen darstellt, und vor allem ist „Immer noch Sturm“ eine außergewöhnlich fesselnde Lektüre.

Titelbild

Peter Handke: Immer noch Sturm.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
166 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421314

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