Aphoristische Feinmechanik

Andreas Steffens erweist sich als Könner in der ‚kleinen Form‘

Von Tobias GrüterichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Grüterich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aphorismenbände, insbesondere die zeitgenössischer Autoren, erscheinen typischerweise als Taschenbuch in kleinen Verlagen. Meist soll eine plump-witzige Illustration auf dem Buchdeckel den Leser auf die „kleine Form“ einstimmen.

Dass es auch anders geht, beweist der in Wuppertal ansässige Nordpark Verlag mit Andreas Steffens Aphorismenband. Nicht nur die Ausstattung – Hardcover mit Lesebändchen – hebt sich vom Gängigen ab, auch die Titelgrafik, ein Ölgemälde von Annette Lucks, übertrifft das Niveau der klischeehaften „spitzen Feder“ bei weitem. Man sollte solche Äußerlichkeiten nicht unterschätzen, veranschaulichen sie doch verlegerisches und literarisches Selbstverständnis.

Was ist zum Inhalt des Bandes zu sagen? Auch dieser lässt sich am besten beschreiben, indem man die Differenz zum Typischen sichtbar macht. Der Titel „Petits Fours“, zu deutsch Feingebäck, deutet auf ein Potential, das man dem Aphorismus gewöhnlich nicht zutraut. Als „apodiktisch“ gilt diese Literaturform, und das kann zweierlei heißen: In den besseren Fällen verlangt der Stoff nach Superlativen und Zuspitzungen, in den schlechteren die stilistische Gewohnheit. Das grobe Raster der Extreme, mit dem die verselbständigte Rhetorik einhergeht, erfasst dann keine Grau- und Zwischentöne mehr. Steffens weiß diese Klippe zu umschiffen. Zunächst präsentiert er uns die Feinmechanik der Modalverben: „Zu lernen ist nichts außer, wie zu tun ist, was man kann“, oder: „Wem man seinen Wert beweisen muss, dem kann man nichts bedeuten.“ Im ersten Beispiel ist das Können nicht Ergebnis des lebenslangen Lernens, wie uns die pädagogische Abart der Arbeitsethik weismachen will, sondern eine in jedem Individuum eingeschlossene Substanz, die einer Freilegung harrt. Im zweiten Beispiel streift das Können ans Dürfen – wie sehr, hängt vom Standpunkt des Lesers ab. Für bloße „Hilfsverben“ ist im gelungenen Aphorismus kein Raum.

Der Aphorismusforscher Friedemann Spicker lobt im Nachwort „philosophische Schulung und literarisches Gespür“ – eine Kombination, die selten genug vorkommt, um eine Hervorhebung zu verdienen. „Bosheit des Zaubers: nicht jeder Anfang ist auch ein Beginn“, oder: „Man darf nicht warten; aber man muss Geduld haben“: Noch die geringste Bedeutungsdifferenz taugt als vollwertiges aphoristisches Sujet. Ein grobschlächtiges Kalauergemüt käme nie auf die Idee, die „semantischen Fugen“ (Spicker) zwischen „Anfang“ und „Beginn“ zu ertasten. Zwar respektiert ein Aphoristiker die etablierte Wortbedeutung, aber er nimmt sie nicht als etwas Unverrückbares hin. Daher rührt seine Freiheit, auch mal zwei Synonyme auf die Probe zu stellen und wie Gegensätze zu behandeln. Ihm geht es um die Bedeutungsfähigkeit, um die schon in der Sprache angelegte, jedoch verborgene Nuancierung.

Die Reichhaltigkeit der (Alltags)sprache – ein krummes Holz, doch längst nicht so krumm, wie es viele Sprachwissenschaftler gern darstellen – ist ein großer Fundus für Steffens. Als ebenso ergiebige Quelle erweist sich für ihn die Anspielung. Dank ihrer analogen Gestalt knüpft eine Selbsterkenntnis wie „Philosophie ist der Luxus einiger, sich um das zu kümmern, was alle angeht“ zwingend an Valéry an: „Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.“ Jedoch muss sich jede Gedankenvariation an ihrem Original messen lassen. „Glücklich ist, wer nicht davor zurückschrecken muss, sich kennenzulernen“ – das kommt nicht über Walter Benjamins inhaltsgleiche Definition hinaus, derzufolge Glücklichsein darin bestehe, „ohne Schrecken seiner selbst innewerden [zu] können.“

Friedemann Spicker kommentiert dies im Nachwort erstaunlich unkritisch. Und manche Anspielung verdankt sich möglicherweise dem Zufall. „Nur die Sätze sind wahr, die, aus dem Zusammenhang gerissen, bestehen können“. Obwohl man als Aphorismenliebhaber diesem Credo nur zustimmen kann, bleibt das Bessere des Guten Feind: „Es gibt Gedanken, die erst entstehen, wenn man sie aus dem Zusammenhang reißt“ (Klaus von Welser, 2008). Und: „würde die bedeutung eines satzes allein durch den zusammenhang erzeugt, in dem er auftritt, dann könnten wir gerade diesen satz nicht verstehen“ (Franz Josef Czernin, 1992).

Damit aber genug der Einwände. Denn Steffens hat mit „Petits Fours“ einen qualitativ weit überdurchschnittlichen Aphorismenband vorgelegt. „Wer die Sprache beim Wort nähme, verstünde nicht eines“ – an dieser Klarheit, Nüchternheit und auch Härte können sich viele seiner Autorenkollegen ein Beispiel nehmen.

Titelbild

Andreas Steffens: Petits Fours. Aphorismen.
Nordpark Verlag, Wuppertal 2009.
56 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783935421454

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