Die Welt auf Abstand?

Über Isabelle Stamms Roman „Schonzeit“

Von Kathrin SchlimmeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kathrin Schlimme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dass man mich nicht missversteht: Ich möchte ja daran glauben, dass der Mensch frei ist und seine Freiheit irgendwohin führt, dass er reift und mehr und mehr begreift, wenn er sich darum bemüht […]. Aber mein eigenes kleines Leben lehrt mich, dass mein Schwert zu stumpf ist und mein Schild zu verbeult, um gegen die Stürme gewappnet zu sein, […] da ist zu viel, zu viel zu tun, zu viel zu entscheiden, zu viel zu überstehen, da sind zu viele Wünsche und Bedürfnisse, zu viele Fehltritte und Missverständnisse, das Leben ist zu groß, es ist einfach zu groß.“

Die vom Leben müde gewordene Miruna Lupescu hat sich über die Jahre hinweg einen künstlichen Schonraum geschaffen – räumlich in ihrem „Turm“ wie auch lebensinhaltlich, indem sie Beziehungen, Freundschaften, Tätigkeiten, und damit persönliche wie berufliche Herausforderungen auf ein Minimum reduziert. Die Tage bleiben leer und gleichförmig, einzig gelegentliche Treffen mit der Schwester, eine lose Liebelei sowie hin und wieder ein Übersetzungsauftrag bringen der rumänischstämmigen Schweizerin von Zeit zu Zeit ein wenig Abwechslung.

Aber dann sucht sich das pralle Leben mit all seinen Herausforderungen und Überraschungen doch noch einen Weg zu ihr – und zwar in Form eines von der Schwester vermittelten Jobs, die „Briefe an den Sohn meiner Tochter“ eines Rumänen ins Deutsche zu übertragen. Die Mittdreißigerin wird plötzlich neugierig, sie rätselt über den Verfasser der Briefe und mutmaßt, in welchem Verhältnis Auftraggeber und Briefeschreiber zueinander stehen. Mit dieser Neugier ist ein Bann gebrochen. Langsam zuerst, aber stetig beginnt Miruna zu ahnen, was ein mit Sinn erfülltes Dasein bedeuten kann.

Isabelle Stamm, selbst junge Schweizerin wie ihre Protagonistin, hat nach ihrem 2008 erschienenen Debüt „Zwillings Welten“ einen durchaus lesenswerten Entwicklungsroman geschaffen – mit dem großen Thema des Grabens, der zwischen den Menschen besteht, „solange wir glauben, einander schonen zu müssen. […] Diesen Fehler müsste man vermeiden.“

Genug spricht dagegen, und leicht ist es nicht, denn ihre Figuren haben sich längst im Schweigen eingerichtet; doch die Autorin skizziert Möglichkeiten, diese Distanz zu überwinden. Aus Lethargie erwachsen Ruhelosigkeit und Angst, aber damit auch erste Ansätze zur Selbstreflexion und schließlich die Fähigkeit zu Handeln als Voraussetzung für Hoffnung.

Erwähnenswert ist Isabelle Stamms Erzähltechnik: Das chronologisch fortschreitende Zeitgerüst des Haupthandlungsstrangs wird immer wieder geschickt von Rückblenden durchbrochen, die nach und nach die Tragweite der Geschehnisse erhellen. Aus dieser Konstruktion heraus bleibt Stamms Roman bis zum Ende spannend. Interessant machen ihn auch die vielfältigen Erzählsituationen. In erster Linie aus der Ich-Perspektive erzählt, finden sich daneben zahlreiche durchdachte Dialoge, und gelegentliche Abschweifungen ins personelle Erzählen aus Sicht der anderen ermöglichen Einblicke ins Innenleben der Mitfiguren. Dazu kommen die immer wieder eingestreuten Briefe. Die Autorin schafft mit diesen Skizzen ein breites Panorama aus Gedanken- und Gefühlswelten ganz unterschiedlicher Figuren, die jeweils versuchen, mit ihrer Geschichte, ihren persönlichen Traumata, aber auch ihren Fehlern zu leben. Das wiederum ermutigt den Leser zur Selbstreflexion.

Titelbild

Isabelle Stamm: Schonzeit. Roman.
Limmat Verlag, Zürich 2010.
220 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783857915987

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