Kriminalistisch aufbereitete Verschwörungstheorien im Berlin der 1939er-Jahre

Über Bernward Schneiders Kriminalroman „Spittelmarkt“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Umschlag von Bernward Schneiders „Spittelmarkt“ stimmt den Leser auf das Genre des Kriminalromans ein. Eine vermeintliche Straßenszene aus dem Berlin der 1930er-Jahre schmückt den Umschlag und man wird umgehend in den atmosphärischen Rahmen des Romans geführt, wenn der Erzähler und Protagonist des Romans, der Berliner Anwalt Goltz, an einem späten Abend auf einer Brücke in Berlin Anfang der 1930er-Jahre von zwei zwielichtigen Gestalten angesprochen und bedroht wird. Sofort wird eine Atmosphäre der Gewalt, der persönlichen, individuellen Bedrohung und Gefahr heraufbeschworen, die sich im Laufe des Romans nach und nach verdichtet und deren Ursachen sowohl dem Leser als auch dem Erzähler erst mit der Zeit deutlich werden. Dabei kokettiert der Autor immer wieder mit der Unbefangenheit seiner Hauptfigur: „,Ach, Goltz‘, seufzte er, indem er sich zu mir umdrehte, ‚muss man Ihnen denn alles erklären?‘ Er warf mir einen Blick zu, der so etwas wie eine nachsichtig-freundliche Missbilligung enthielt“.

Goltz übernimmt als Anwalt einen Auftrag und fährt mit dem Schiff nach New York, um die vermeintlichen Scheidungsangelegenheiten seines Mandanten zu regeln. Auf der Fahrt gibt es den ersten Toten und in New York wird der Anwalt mit einer Verschwörungstheorie, einem Geheimbund und letztendlich mit einem weiteren Mord konfrontiert. Einziger Lichtblick ist ihm eine aus Deutschland stammende, bezaubernde und gut aussehende Varietékünstlerin. Zurück in Berlin wird der Protagonist nach und nach in das Netz eines obskuren Geheimbundes – vor dem er schon in New York gewarnt wurde – verstrickt, dem seine Schwester und auch einige seiner Bekannten angehören. Der Geheimbund der „Brüder und Schwestern vom Licht“ hat dabei große Ähnlichkeiten mit den in den 1920er- und 1930er-Jahren im Deutschen Reich aktiven Bünden und Vereinigungen in national-konservativen und völkischen Kreisen. Man fühlt sich an Obskuranten wie Jörg Lanz von Liebenfels und seinem Neutemplerorden und an Vereinigungen wie die Artamanen und die Thule-Gesellschaft erinnert.

Neben diesen sehr authentischen historischen Details, die Schneider in die Geschichte einbaut, ist auch seine Verzahnung mit dem Tagesgeschehen sehr einleuchtend, vor allem, wenn er einen bekannten Schriftsteller auswählt und ihn im Roman auftreten lässt: „So vergingen mehrere Tage, bis mir der Zufall in Gestalt einer Anzeige in der Tageszeitung zu Hilfe kam. Darin wurde für eine Dichterlesung geworben, die am folgenden Samstagnachmittag bei Karstadt am Hermannplatz stattfinden sollte, und der Dichter, der die Lesung halten würde, war kein geringerer als Heinrich Mann“. Gerade die geschickte Verbindung von historischen Fakten und fiktivem Handlungsverlauf haben eine sehr unterhaltende Lektüre nicht nur für Kenner der Weimarer Republik zur Folge.

Nach und nach erkennt der Protagonist die Verstrickungen seines sozialen Umfeldes mit dem Geheimbund. Am erschütternsten ist seine Begegnung mit seiner Schwester, die offensichtlich schon seit ihrer Jugend Mitglied des Bundes war: „Während sie sprach, hatten ihre Augen einen leuchtenden Glanz bekommen. In ihrem sonst so harmlos wie gewöhnlich anmutenden Gesicht wurde plötzlich etwas von dem sichtbar, das sie im Geheimen antreiben und inspirieren mochte; etwas, das stark genug war, um sie nicht davor zurückschrecken zu lassen, Mitglied einer Mörderbande zu sein“. Wie nah die Obskuranten und Geheimbündler den Nationalsozialisten und der Ideologie des sich anbahnenden „Dritten Reichs“ stehen, wird in dem Standpunkt des Vorsitzenden des Bundes deutlich: „,Es ist mir egal, ob du mein Weltbild böse nennst. Wir unternehmen den Versuch, den Sonnenmenschen zu schaffen, ein göttliches, ein unsterbliches Wesen. Eine solche Umwandlung kann ohne die Umwertung aller Werte im Nietzsche’schen Sinne nicht vollbracht werden. Wir haben Feinde, die unseren Erfolg zu verhindern suchen und die wir deshalb bekämpfen müssen. nenn das von mir aus Böse! Für mich ist es gut!‘“ Die Verbindung von Geheimbund und Gesellschaft in der Weimarer Republik gelingt Schneider sehr realistisch – obwohl es sich „nur“ um einen Kriminalroman handelt.

Schneider liefert einen interessanten, historisch gut recherchierten und hervorragend in das Zeitgeschehen eingepassten historischen Roman ab, der unterhaltsam ist und gleichzeitig auf eine bisher nur in der kulturwissenschaftlichen Forschung berücksichtigte Geschichte der völkischen und nationalkonservativen Gruppierungen der Weimarer Republik verweist. Eine empfehlenswerte Lektüre, die der interessierte Leser durchaus noch mit Fachliteratur ergänzen kann.

Titelbild

Bernward Schneider: Spittelmarkt. Ein Berliner Kriminalroman.
Gmeiner Verlag, Meßkirch 2010.
372 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783839210994

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