Zwischen Identifikation und Distanz

Barbara Mariacher über narrative Strukturen in Thomas Bernhards Werk

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beim Namen Thomas Bernhard hörte der Spaß auf. Da kochte die österreichische Volksseele öfter mal über, da brachen zuweilen die Dämme, die nach 1945 errichtet worden waren. Da kehrte sich bei manchem Patrioten das Innere nach außen und ergoss sich in wenig ausgefeilt argumentierende Betrachtungen, die oft mehrere Straftatbestände auf einmal erfüllten - etwa im folgenden, aufschlussreichen Schmäh-Brief, der ungewollt die Bernhardschen anti-österreichischen Suaden bestätigt: "Von ihre[m] Herrn Dir. Peymann ist es eine Provokation für uns anständige Österreicher, da[ß] Sie dieses Stück (Dreckstück) von diesem Stinktier u. Drecklumpen Bernhart [sic!] 'Heldenplatz' zum 100ten Geburtstag des Burgtheater aufführen lassen wollen. Das ist eine niederträchtige Beleidigung für alle Österreicher, noch dazu von solch einem Nichtskönner von Abschreiber. Von wo ist dieses Schwein her - oder wie soll man solch ein Individuum von einem Menschen von de[n] anderen unterscheiden. [W]enn ich nicht 1898 geboren wäre, ich würde dieses niederträchtigste Stinkaas glatt töten. Schade auch[,] daß dieses Schwein von den Hitlerschergen übersehen wurde oder sicher war der Lump sicher [sic!] im Ausland untergetaucht! Ich als Christ verfluche dieses Schwein, er soll Aids bekommen oder er hat es schon - dann soll er irgend in einer Kloacke [sic!] verenden und also krepieren dieses Drecksaas."

Soweit dieser eigenwillige Interpret des Bernhardschen Werks, der es vorzog anonym zu bleiben. Man merkt gleich: Eine strikt textimmanente Analyse wird hier nicht angestrebt. Stark tendiert der Kritiker zu einer biographistischen Lesart und sagt sich von Anfang an: "Warum sachlich bleiben, wenn es auch persönlich geht."

Das wiederum ist bei der Beschäftigung mit dem Bernhardschen Œuvre gar nicht ungewöhnlich - wenn es für gewöhnlich auch nicht gar so brachial und menschenverachtend daherkommt. Dichtung und Wahrheit zu trennen, macht in diesem Werk Schwierigkeiten. Davon zeugen nicht zuletzt die zahlreichen gerichtlichen Klagen von Personen, die sich als Figuren in Bernhards Romanen wiedererkannt haben wollen. Aber auch in der Forschung herrscht Uneinigkeit darüber, wie sich Realität und Fiktion auseinanderhalten beziehungsweise zusammenbringen lassen, und in welcher Relation Autor und Erzähler stehen.

In ihrer Studie ",Umspringbilder'. Erzählen - Beobachten - Erinnern. Überlegungen zur späten Prosa Thomas Bernhards" versucht Babara Mariacher diese Streitfrage zu lösen, indem sie nicht einer der beiden Ebenen den Vorzug gibt, sondern beide als unabdingbar zusammengehörig beschreibt. Bisher, so stellt sie fest, seien die späten Erzählungen - "Ja", "Beton", "Der Untergeher", "Holzfällen", "Alte Meister" und "Auslöschung" - entweder auf eine "Fortschreibung der Autobiographie mit anderen Mitteln" reduziert worden, oder man habe - in strikter Abgrenzung zu dieser Lesart - ausschließlich auf die Künstlichkeit dieser Prosa abgehoben.

Indem Mariacher das Zusammenspiel von Inhalt und Erzählvorgang analysiert, möchte sie jene Erzählverfahren kenntlich machen, die diese Trennung überwinden. Der Leser, das weist sie an einigen Stellen detailliert nach, nimmt die Prosatexte als »Umspringbilder« wahr: ein Oszillieren zwischen realem und fiktivem Hintergrund, ganz gleich welche Anspielungen auf die außerliterarische Wirklichkeit vorhanden sind.

An der Struktur der Texte des "Geschichtenzerstörers" Bernhard, der das "Spiel mit Gegensätzen" zum Programm erhob, verdeutlicht sie diese These. Narrative und nicht-narrative Elemente werden zur Balance gebracht, indem sich die verschiedenen unabhängigen Ebenen der Texte fortwährend überlagern. Mit den im Titel der Studie aufgeführten Begriffen "Erzählen, Beobachten, Erinnern" sind die Verfahren dieses Konstruktionsprinzips genannt: "In allen Büchern war eine Schreibebene festzustellen, von der aus der Ich-Erzähler auf die Ebene des äußeren Handlungsgeschehens blickt, die ein minimales Handlungsgerüst enthält, das mit der Darstellung der inneren Vorgänge der Protagonisten ausgefüllt wird." Diese inneren Vorgänge bestehen zum einen aus Erinnerungen, "die ihrerseits die Möglichkeit des Geschichtenerzählens aufkeimen lassen", zum anderen aus "assoziativen Reflexionen, durch die die aufkeimenden Geschichten zerstört werden." Für den Leser, darauf laufen Mariachers Überlegungen hinaus, bedeutet das eine stete Unsicherheit, ein ständiges "Spannungsverhältnis zwischen Identifikation und Distanz": In der Prosa Bernhards, die sich zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit bewegt, gibt es keinen stabilen Grund mehr. Die Spannung muss ausgehalten werden - sie macht den Reiz seiner späten Bücher aus.

Titelbild

Barbara Mariacher: "Umspringbilder" Erzählen - Beobachten - Erinnern.
Peter Lang Verlag, Frankfurt 1999.
195 Seiten, 33,20 EUR.
ISBN-10: 3631338813

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