Zwölf Annäherungen an einen Massenmord

Im Mittelpunkt des zweiten Bandes der „Tokio-Trilogie“ von David Peace steht ein spektakulärer Kriminalfall aus dem Jahre 1948

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 26. Januar 1948 betritt gegen 15.20 Uhr ein Mann die Filiale der Teikoku Bank in Tokios Stadtteil Shiinamachi. Er gibt sich als Amtsarzt des Ministeriums für Gesundheit und Wohlfahrt aus und erklärt dem stellvertretenden Filialleiter, aufgrund einer Ruhrerkrankung in der unmittelbaren Nachbarschaft der Bank müsse er alle zur Zeit im Gebäude Anwesenden impfen. 16 Personen – darunter auch den beiden Kindern des Hausdieners – verabreicht er daraufhin ein Zwei-Komponenten-Serum, das sie nach kurzer Zeit ins Koma fallen lässt.

Für 12 von ihnen bedeutet die Giftattacke den Tod. Mit einem Teil des auf der Bank deponierten Geldes verschwindet der Mann. Der die Öffentlichkeit erschütternde skrupellose Giftmord löst eine Polizeiaktion aus, wie sie Japan bis dahin noch nicht gesehen hat. Schließlich glauben die Behörden, den Täter zu kennen. Angeklagt und am 24. Juli 1950 zum Tode verurteilt wird der Aquarellmaler Hirasawa Sadamichi. Er stirbt 37 Jahre später – wegen zahlreicher Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens konnte das Urteil nie vollstreckt werden – im Gefängnis. Ob die Justiz mit ihm den Richtigen erwischt hat, ist bis heute umstritten.

Der historisch authentische Fall bildet den Hintergrund des zweiten Bandes der „Tokio-Trilogie“ von David Peace. Erneut – wie schon in „Tokio im Jahre Null“, wo es um die Jagd auf einen Serienmörder ging, der die japanische Metropole 1946 in Angst und Schrecken versetzte – legt Peace ein Stück Literatur vor, das düstere Zeitanalyse mit den Mitteln der literarischen Moderne betreibt. Dabei geht der Autor weit über alle stilistischen Gepflogenheiten des Thriller-Genres hinaus bis in die manchmal doch schon arg manieriert wirkende Übertreibung jener Mittel, die er in seinem mittlerweile bereits als Klassiker geltenden „Red-Riding-Quartett“ (1999 – 2002) in die Kriminalliteratur unserer Tage einführte. Innere Monologe, raffinierte Perspektivwechsel, ein rhythmisierter Textaufbau voller Wiederholungen und unerwarteter Zeilenumbrüche, Bewusstseinsströme und Textebenen, die, grafisch voneinander abgesetzt, nebeneinander herlaufen – Peace greift voll hinein in ein literarisches Arsenal, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewiss nicht entwickelt wurde, um dem Landhauskrimi aus der Krise zu helfen. Dessen eingefleischte Leserschaft dürfte deshalb auch nur wenig Vergnügen an einer Prosa haben, die mehr strudelt als fließt, unzählige Klippen zu überwinden hat und immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird.

Trotz aller Anleihen bei Heroen der Moderne wie James Joyce oder T. S. Eliot zitiert die ästhetische Grundstruktur von „Tokio, besetzte Stadt“ aber zunächst einmal ein ganz traditionelles, aus der Edo-Zeit (17. bis 19. Jahrhundert) stammendes Erzählspiel, mit dem sich einst die Samurai, später dann auch einfache Leute ihre Zeit vertrieben: „ Eine Gruppe von Menschen setzt sich bei Einbruch der Dämmerung im Schein von hundert brennenden Kerzen zusammen, von denen jede mit einem blassblauen Papierschirm versehen ist. Nacheinander erzählt jeder der Anwesenden eine Geschichte voll übernatürlichen Schreckens;am Ende jeder Geschichte wird eine der Kerzen gelöscht. Je später es wird und je weiter sich die Geschichten entwickeln, umso dunkler und düsterer wird es, bis nach der hundertsten Geschichte die letzte Kerze ausgeblasen wird und der Raum in völliger Finsternis versinkt.“

Bei David Peace sind es – analog der Kapitelzahl des Romans und der Opferzahl bei dem kaltblütigen Verbrechen im Jahr 1948 – zwölf Kerzen, die nacheinander verlöschen, wenn die Figuren, nachdem sie ihre jeweilige Wahrheit preisgegeben haben, wieder im Dunklen verschwinden. Einem Schriftsteller – dem Verbindungsglied zwischen diesem düsteren Spuk und den Lesern – erscheinen sowohl Lebende wie Tote, um ihre Sicht auf die Geschehnisse rund um jenen 26. Januar des dritten Nachkriegsjahres darzubieten. Dabei geht der Roman, indem er in sein gespenstisches Ensemble von Erzählern, die mal einzeln, mal im Chor auftreten, auch Figuren einbezieht, die mit dem Mordfall auf den ersten Blick wenig zu tun haben, weit über die polizeilich ermittelte und gerichtlich festgestellte Wahrheit hinaus, ja entlarvt diese letzten Endes sogar als vorgeschoben, um skandalöse Enthüllungen über das geheime japanische Programm zur Entwicklung biologischer Waffen und den nach der Niederlage der fernöstlichen Achsenmacht sofort einsetzenden Wettstreit der neuen Supermächte um dessen Ergebnisse zu vertuschen.

Nach dem Krieg, so hat man wohl zu verstehen, ist vor dem Krieg. All jene „wissenschaftlichen“ Erkenntnisse, die zum großen Teil auf unmenschliche Experimente der Japaner mit chinesischen und russischen Kriegsgefangenen in der Mandschurei zurückgehen, könnten den neuen Herren der Welt ja durchaus noch von Nutzen sein. Deshalb zum Beispiel muss ein amerikanischer Wissenschaftler, der mit lauteren Absichten und voller ehrlichem Enthusiasmus nach Tokio gekommen ist, um die Hintergründe des japanischen B-Waffen-Programms aufzuklären, plötzlich erkennen, dass, je mehr er der Wahrheit und den Drahtziehern dieser international geächteten Art der Kriegsführung auf die Spur kommt, selbst die eigenen Vorgesetzten beginnen, ihm Steine in den Weg zu legen. Am Ende lässt man ihn nicht einmal mehr in die Heimat zurückkehren. Und sein russisches Pendant wird über der Erkenntnis, dass er im Auftrag ähnlicher Interessen unterwegs ist wie die von ihm so gründlich verachteten Amerikaner, die er dennoch als Bündnispartner zu behandeln hat, wahnsinnig.

„Tokio, besetzte Stadt“ nimmt seine Leser mit in eine Hölle, in der Opfer Täter und Täter Opfer sind. Indem man sich dem intensiven Sog der Stimmen dieses Romans aussetzt, wird man mit dem Grauen einer Zeit konfrontiert, die nach einem Millionen von Toten fordernden Krieg nicht innehält und sich besinnt, sondern allein darauf aus ist, die Arsenale schnellstens wieder aufzufüllen. Der Schimäre Gerechtigkeit geopfert werden deshalb nur die Kleinen, die ohnmächtigen Befehlsempfänger, zu denen in David Peace‘ beeindruckendem Roman auch der wahre Täter zählt, der nach seiner Heimkehr vergebens darum bemüht ist, bei jenen, die ihn einst in die chinesischen Todeslager schickten, Gehör zu finden.

Titelbild

David Peace: Tokio, besetzte Stadt. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Torberg.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2010.
350 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783935890748

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