Von Opa Hucke lernen heißt siegen lernen

F. K. Waechters Klassiker, neu aufgelegt

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wodurch unterscheiden sich die Kinderbücher unserer Zeit von denen vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren? Einerseits ist der Unterschied nicht groß, sollte man meinen: Eltern geben ihren Kindern die Klassiker, mit denen sie selbst groß geworden sind: Janosch, Astrid Lindgren, Die Drei Fragezeichen, dazu einigt man sich auf ein paar neuere Dinge: Cornelia Funke und J. K. Rowling für die Älteren, um vom aktuellen Vampir-Hype zu schweigen, während die Kleinen mit Conni lernen, wie es denn im Krankenhaus oder im Kindergarten zugeht.

Andererseits hat sich die Kindheit seit den 1970er-Jahren völlig verändert. In den Zeiten von Pisa soll das Kind nicht nur Kind sein, sondern gleich möglichst viel fürs Leben lernen. Wenn es das von sich aus will, ist es wunderbar. Allzu oft aber ist ein Kinderbuch nicht bloß ein Kinderbuch, sondern soll gleich auch noch spielerisch Wissen vermitteln, für das das Kind sich vielleicht gar nicht interessiert, das es aber möglichst in die Lage versetzt, mit kleinen Südkoreanern und Finninnen in Mathematik und Englisch mitzuhalten. Ganz abgesehen von all den kleinen Prinzessinnen und Piraten, die dem Kind gleich suggerieren sollen, wie sich ein Junge oder ein Mädchen idealer Weise verhält.

Was dabei untergeht, sind Bücher, die einfach auf das Kind, seine Kreativität und Fantasie vertrauen, statt ihm vorportioniertes Wissen einzutrichtern. Ein Autor, der dieses Vertrauen stets gehabt hat, ist der 2005 verstorbene F. K. Waechter, „Pardon“-Layouter und -Zeichner der ersten Stunde und später auch Mitbegründer der „Titanic“. Waechter war zeitlebens ein Meister des anarchischen, spielerischen Humors. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen die mit Robert Gernhardt und F. W. Bernstein verfasste Fake-Biografie „Die Wahrheit über Arnold Hau“ (1966), „Der Anti-Struwwelpeter“ (1970) und „Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein“ (1978).

Für Kinder hat Waechter sein ganzes Leben hindurch gezeichnet und geschrieben. 1992 gab er sogar das Zeichnen zunächst auf, um sich dem Kindertheater zu widmen. Jetzt hat Diogenes ein besonders schönes dieser Kinderbücher neu aufgelegt: „Opa Hucke’s Mitmach-Kabinett“, 1976 zum ersten Mal erschienen und zwischenzeitlich lange vergriffen. Ungewöhnlich ist das Buch, weil es nicht einfach zum Ansehen und Lesen, sondern zur kreativen Interaktion aufruft, um es mit einem aktuellen Modebegriff zu sagen. „Opa Hucke’s Mitmach-Kabinett“ ist nämlich, wie Waechters Sohn Philip im Nachwort schreibt, „voller Leben, ein Bilder-, Lese-, Bastel-, Comic-, Spiel- und Rätselbuch, alles in einem“. Offenbar wa das inspirierend – Philip Waechter zeichnet heute selbst wunderschöne Kinderbücher.

Die Kinder sollen das Buch nicht einfach lesen, sondern fragmentarische Bilder vervollständigen, ein Bild zu einer Geschichte malen oder sich umgekehrt eine Geschichte zu einem Bild ausdenken, Fettflecken und Beeren im Buch zerquetschen, Dinge auf Bildern suchen, oder irgendetwas anderes tun, was ihnen zu den Seiten gerade einfällt. Darin sind sie völlig frei. Passend dazu ist auf einer der letzten Seiten ein Bild von Waechter zu sehen, darunter geschrieben „Dies Buch habe ich angefangen“, darunter die Namen der Kinder, die ihm dabei geholfen haben. In der rechten Spalte ist der Raum für das Bild leer gelassen. Darunter steht: „Und ich habe es fertig gemacht.“ Für Namen, Alter und alle, die dabei mitgewirkt haben, ist Platz gelassen. Das „richtige“ Buch ist also gar nicht mehr das Buch selbst, sondern erst das durch die kleinen Leser ergänzte, weshalb am Ende auch keine zwei Exemplare identisch sein werden. Das atmet nicht nur zugegebenermaßen den Geist der 1970er-Jahre, es ist auch so etwas wie die Praxis einer frühromantischen Ästhetik, in der das eigentliche Werk erst durch die Ergänzungen des Lesers entsteht.

Mit anderen Worten: konsequent wäre es, wenn wir das Buch nicht nur ins Regal stellten, sondern es mit unseren Kindern, oder notfalls allein, mit allen möglichen eigenen Beiträgen vollkritzeln würden. Dabei lernt niemand etwas fürs Zentralabitur, aber vielleicht etwas fürs Leben: dass es etwa wichtiger sein kann, seinen Spieltrieb auszutoben, als bloß „leeres“ Wissen eingeschaufelt zu bekommen.

Von Opa Hucke lernen heißt also siegen lernen. Übrigens sieht der Titelheld, der uns durchs Buch führt, mit seinem Glatzkopf, den wallenden Gewändern und dem langen weißen Bart ein wenig wie Mr. Natural aus, die vielleicht bekannteste Figur des amerikanischen Underground-Zeichners Robert Crumb. Und so ganz falsch ist die Assoziation nicht – auch Crumbs Figur zeichnet sich durch eine bewusst anarchische Haltung zum Leben aus. Das alles heißt natürlich nicht, dass der Weg einfach zurück in die 1970er-Jahre gehen sollte. Aber die eine oder andere Scheibe kann man sich vom Geist der Zeit schon wieder abschneiden – und sei es im ausgelassenen Spiel mit diesem Buch.

Titelbild

Friedrich Karl Waechter: Opa Hucke's Mitmach-Kabinett.
Diogenes Verlag, Zürich 2010.
130 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783257011500

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