Orientierungslosigkeit als Strukturprinzip

Mark Z. Danielewskis „Das Haus. House of Leaves“ als labyrinthisches Hörspiel

Von Ulrike WeymannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Weymann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Danielewskis Debütroman „House of Leaves“ entwickelte sich in den USA mit seinem Erscheinen im Jahr 2000 schnell zum Kultroman. Sieben Jahre später erschien das komplexe Werk in der Übersetzung von Christa Schuenke unter Mitarbeit von Olaf Schenk in der deutschen Fassung bei Klett-Cotta und erschloss sich auch in Deutschland sofort eine Fangemeinde. Den Roman zeichnet eine hypertextartige Erzählstruktur sowie eine an die Konkrete Poesie angelehnte Typografie aus. Verschiedene Erzählstränge werden parallel geführt und im Verlauf der Geschichte miteinander verwoben, auf eine Linearität des Erzählens wird verzichtet. Die meist unzuverlässigen Erzählerstimmen werden in unterschiedlichen Schrifttypen wiedergegeben und das Layout spiegelt den Inhalt: Der Text verwirrt und verirrt sich wie seine Protagonisten, er bildet den Raum nach, oder aber malt Akustik und Tempo regelrecht ab. Die Worte werden nicht nur als semantische, sondern auch als typografische Zeichenträger eingesetzt. Darüber hinaus ist der Leser mit unterschiedlichen Textsorten konfrontiert. So werden neben Erzählung und Augenzeugenberichten auch Lexikonartikel oder Briefe eingespielt. Dabei verschwimmen Fakten und Fiktion, Realitäts- und Traumebene.

Der Roman ist eine Schauergeschichte, die einen Stephen King würdigen Horrorplot aufgreift: Die Familie Navidson – der Dokumentarfilmer und Pulitzer-Preisträger Will, seine ehemals als Modell arbeitende Ehefrau Karen sowie die beiden Kinder Chad und Daisy – ziehen in ein altes Haus aus dem Jahr 1720 ein. Die Familie ist in einer Krise, die Ehe durch zunehmende Entfremdung gekennzeichnet. Der Umzug in das Haus in ruhiger Umgebung soll die vier einander wieder näher bringen. Doch dann geschieht Erstaunliches: Will und Karen entdecken in dem Haus einen Gang, begehbar durch einen wie eine Kleiderschranktür aussehenden Zugang mit gläsernem Griff. Der Gang führt in ein Labyrinth von Räumen, die sich im Innern des Hauses auftun und in die Tiefe führen. Gegen jede Wahrscheinlichkeit ist das Haus von innen größer als von außen. Es verliert sich in einem lichtlosen, eiskalten Irrgarten unermesslichen Ausmaßes. Will möchte erkunden und dokumentieren, was er vorfindet und stellt ein Expeditionsteam zusammen. Neben seinem Bruder Tom besteht das Team aus den beiden Kletterern Jed Leeder und Hook Wax sowie dem erfahrenen Höhlenforscher Robert Holloway. Doch mit der Erkundungsentscheidung geht der eigentliche Horror erst los: Wie das Labyrinth des Minotaurus scheint auch das Raumlabyrinth einen „Monstermann“ zu beherbergen. Irgendetwas Unheimliches geht auf jeden Fall darin um, und sobald die Menschen die sich im Unendlichen verlierenden Raumfluchten betreten haben, verlieren sie wie auf Knossos die Orientierung.

Dem Leser geht es im Verlauf der Lektüre jedoch ähnlich wie den Figuren, auch er verirrt sich in dem verschachtelten Textlabyrinth. Denn nicht nur stößt er auf ein unüberschaubareres Textkonvolut unterschiedlicher Genres und kann er sich auf keine der Erzählerstimmen verlassen – die Erzählung bewegt sich zudem noch auf unterschiedlichen Ebenen. Es gibt das dokumentarische Material von Will Navidson, das den legendären „Nevidson Record“ bildet, einen Film, den Hunderttausende gesehen haben wollen, über den sich die Internetgemeinde austauscht (im Buch wie in der außerliterarischen Realität, vgl. http://www.houseofleaves.com/), der aber verschollen ist.

Der Amateurfilmer Zampano hat das Material rekonstruiert und seine Erkenntnisse in einem unveröffentlichten Manuskript festgehalten, das wiederum nach seinem mysteriösen Tod von dem Hilfsarbeiter Johnny Truant gefunden wird. Auch Truant ist fasziniert von dem Material. Er lässt sich von der Lektüre des Buchfragments so sehr absorbieren, dass er nun seinerseits bald nicht mehr zwischen seiner Lebenswelt und der in den Zampano-Papieren entworfenen unterscheiden kann und darüber wahnsinnig wird. Seien Sie also gewarnt vor der Lektüre von „House of Leaves“! Nicht dass es Ihnen genauso geht wie den in dem Höhlenlabyrinth Verschwindenden oder den über der Beschäftigung mit dem Material geistig verwirrten Figuren. Dem Roman jedenfalls ist der warnende Passus vorangestellt: „Das hier ist nicht für Euch“.

Die zeitliche Staffelung von Dokumentation, Rekonstruktion und Rezeption der unheimlichen Vorkommnisse greifen die Hörspielmacher (Regie: Claudia Johanna Leist, Jörg Schlüter, Martin Zylka) auf und bieten in ihrer Adaption des Romans diese drei Ebenen als Zugänge zu dem Stoff an. Das Hörspiel in der Bearbeitung von Thomas Böhm (Redaktion: Martina Müller-Wallraff) ist eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks aus dem Jahr 2009 und kürzlich beim Audio Verlag als DVD herausgekommen. Das Hörspiel muss über den Computer oder den Fernsehbildschirm rezipiert werden, was alleine schon deswegen notwenig ist, da der Benutzer über eine grafische Oberfläche zwischen den drei Textzugängen zu wählen hat. Von den verschiedenen Ebenen ist die erste mit „Labyrinth“ überschrieben und bietet Aufzeichnungen und Hintergrundwissen zum „House of Leaves“, wie sie von Zampano rekonstruiert wurden. Die zweite Ebene, betitelt mit „Fäden“, erzählt die Ereignisse aus Sicht des Hilfsarbeiters Truant, wohingegen Ebene 3: „Dunkelkammer“ das Originalmaterial des Dokumentarfilmers bietet. Um die Labyrinthstruktur des Romans auch im Hörspiel umzusetzen, hat der Zuhörer nun wiederum die Wahl zwischen drei Wegen durch das Hörspiel-Haus.

Aktiv wird er in die Suche nach dem richtigen Weg durch das „House of Leaves“ eingebunden, wenn er aufgefordert ist, sich seinen eigenen Weg zu suchen und beliebig oft zwischen den Ebenen zu wechseln (Own Way). Der weniger autarke Hörer wählt den Zugang Follow way und bewegt sich in festgelegten Varianten durch die Ebenen des Hörspiels. Oder er/sie ist weniger experimentell veranlagt. In diesem Fall gibt es die Möglichkeit, die drei Hörspiele nacheinander zu hören, jeweils vollständig und ohne Wechsel der Ebenen (One way). Natürlich kann man auch wieder innerhalb des einmal gewählten Weges wechseln, so dass sich potentiell unendlich viele Variationsmöglichkeiten ergeben. Die Investition in das Hörspiel lohnt sich also für lange Winterabende, die man in immer neuen Spielvarianten damit zubringen kann, das Wissen um den Navidson-Film zu rekonstruieren und sich in dem Stimmenlabyrinth zu verlieren.

Seitens der Ästhetik lehnt sich „Das Haus“ an Pseudo-Dokumentationen wie der 1998 gedrehte amerikanische Horror-Spielfilm „The Blair Witch Project“ an. Das, was es in dem unheimlichen Haus zu erkunden gibt, ist unmöglich beschreibbar und, so der Expeditionsleiter Holloway, noch nicht einmal filmbar; nicht nur weil es in dem Labyrinth stockdunkel ist, sondern vor allem, weil die Menschen in ihrer Panik den Kopf und damit den rationalen Zugang zu den beobachteten Phänomenen verlieren. In der Hörspieladaption hören wir vor allen Dingen ihre panischen Stimmen, die unendlichen Echogeräusche, wenn sich einzelne in dem Labyrinth verloren haben und nach ihren Begleitern rufen, oder pulsierende Geräusche, die rasenden Herzschlag assoziieren. Durch die Arbeit mit Echoklang und den akustischen Nachahmungen, aber auch den perspektivischen Verdoppelungen entsteht der Eindruck, man bewege sich durch ein Spiegelkabinett mit Puzzlecharakter. Eine ‚Wahrheit‘ der Ereignisse ist dabei – und unternähme man noch so viele Erkundungsgänge durch das Material – wohl kaum zu finden, denn die Ereignisse stellen sich immer wieder anders und neu dar. Manchmal glaubt man gar, sie entsprängen sowieso nur dem drogenumnebelten Gehirn des zudem mittlerweile mental verwirrten Erzählers Johnny Truand.

Das Haus scheint seine Bewohner, die alle nicht nur mit dem Horror der äußeren Welt, sondern auch mit seelischen Konflikten belastet sind, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne zu „verschlingen“. Was liegt also näher, als das Raumlabyrinth im Sinne eines Seelenlabyrinths seiner Figuren zu interpretieren? Kann es sein, dass das unheimliche Haus aus dem 18. Jahrhundert jeden mit seinen ureigensten Ängsten und Problemen konfrontiert? Das legt jedenfalls ein weiterer Erzählstrang nahe, der immer wieder aus den missglückten und problematischen Familienverhältnissen seiner Protagonisten erzählt.

Doch auch dieser Zugang ist nur ein Interpretationsangebot unter mehreren. Das „Navidson-Projekt“ unterläuft vorschnelle Erklärungsansätze und lässt mehr Fragen als Gewissheiten zurück. Buch und Hörspiel sind der kreative Versuch, den Leser aktiv in die Geschichte um die Rekonstruktion der Ereignisse einzubinden. Das Hörspiel baut dabei ganz auf eine Ästhetik der Aussparung und Andeutung: Der Horror entsteht durch die akustische Wiedergabe wie ein Film ohne Bilder in der Imagination des Zuhörers. Galt „Das Haus“ als literarische Sensation des 21. Jahrhunderts, so wurde seine Hörspiel-Adaption als erstes 3D-Hörspiel und damit als Zäsur in der Radiogeschichte gefeiert: Der Westdeutsche Rundfunk sendete die drei Hörspielversionen des Romans bei der Uraufführung simultan auf drei Wellen. Der Radiohörer konnte zwischen den Hörspielen wechseln und somit die Hör-Perspektiven durch neue ergänzen, oder eben auch konterkarieren.

Das labyrinthische Hörspiel unternimmt, so bleibt zu resümieren, was auch bereits das Buch geleistet hat: Es irritiert den Rezipienten und lässt ihn einerseits in das fiktive Universum seiner Protagonisten abgleiten, andererseits in die Imagination und damit – so steht zu befürchten – in die eigenen seelischen Labyrinthe. Das Experiment der intermedialen Adaption des Romans als Hörspiel jedenfalls ist großartig gelungen. Es zieht den Zuhörer in seinen Bann. Auf der Suche nach Erklärungsansätzen wählt man immer wieder neue Wege durch das Hörspielhaus. Nach Stunden des „Horror-Zappings“ ist man geneigt die Warnung von Will Navidson, die sich wiederholt auf den Tonbandaufnahmen seines Expeditionsteams findet, ernst zu nehmen: „Wenn Sie je an dem House of Leaves vorbeikommen sollten, gehen Sie nicht hinein, bleiben Sie noch nicht einmal stehen.“ In das akustische Hörspiel-Labyrinth dagegen sollten Sie sich unbedingt hineinbegeben.

Titelbild

Mark Z. Danielewski: Das Haus. House of Leaves.
Der Audio Verlag, Berlin 2010.
159 min, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783898139953

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