Tolstojs Religiosität, mosaikartig durchleuchtet

Martin Tamcke über eine spirituelle Biografie des russischen Dichters

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Tolstoi ist nicht tot“, verkündete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ gleich auf ihrer ersten Seite der Samstags-Ausgabe vom 20. November 2010. Anlass für diese Zeile war der hundertste Todestag von Leo Tolstoj. Die FAZ wies darauf hin, dass man heute bei dem russischen Schriftsteller, der zweifellos nicht nur einer der größten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts war, sondern auch Philosoph und Sozialutopist, vieles anders liest, „zum Beispiel über die biblische Welt der Bauern“, „über die kapitalistischen Wirrungen“, „über das verstädterte Landleben ökologischer Propheten“, während er in der Literaturgeschichte zum ersten Popstar avanciert sei. Kein Wunder also, dass im diesjährigen Todesjahr Tolstojs etliche Bücher über ihn erschienen sind. Zu diesen gehört auch das Buch des Göttinger Theologen Martin Tamcke „Tolstojs Religion. Eine spirituelle Biografie“. Der Titel lässt aufhorchen, denn gerade diese Linie der Tolstoj-Rezeption ist durch die einschneidende Zäsur des Zweiten Weltkriegs fast in Vergessenheit geraten.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jedoch war es vor allem Tolstojs vehemente Kritik an der offiziellen Kirche und seine radikale Neudeutung der christlichen Botschaft, derentwegen er 1901 exkommuniziert wurde, die ihn damals zur angebeteten Leitfigur für alternative pazifistische, anarchistische, mystisch-soziale und rational-freireligiöse Strömungen machte. Ende seines Lebens, um 1903, galt er als der bedeutendste Mann seiner Zeit. Denn viele konnten damals gut nachvollziehen, was Tolstoj als Kritik an der Verflechtung von Christentum und Welt und den daraus resultierenden Umdeutungen der christlichen Botschaft formuliert hatte: „Aufgrund der heutigen Verzerrungen, Verdrehungen und Missverständnisse des Christentums ist unser Leben schlimmer als das der Heiden geworden.“ Nicht wenige fühlten sich durch Tolstojs Ansichten (er war übrigens ein überzeugter Vegetarier) zu alternativen Lebensweisen und Blickweisen auf Religion, Moral und Ethik motiviert. Insbesondere liberale protestantische Theologen machten auf der Suche nach einem modernen liberalen Christentum bei ihm Halt.

Das Anliegen Tamckes ist aber nicht – wie er schreibt – „Tolstoj zu einer Autorität für alternative religiöse Konzepte zu küren“. Vielmehr sieht er ihn mit den gleichen menschlichen Grundfragen konfrontiert, die sich auch heute viele von uns stellen.

Der offensichtlich mit dem russisch-orthodoxen Christentum wohl vertraute Theologe Tamcke hat viele Bruchstücke über Tolstojs Religiosität zusammen getragen und sie in seinem Buch mosaikartig ausgewertet, zusammen mit Tolstojs wichtigsten religiös-philosophischen Schriften, wie etwa mit seinem Essay „Meine Beichte“, der 1879 verfasst, 1882 erstmals veröffentlicht und bald darauf wie viele andere Schriften von Tolstoj in Russland verboten wurde. In den Traktaten „Worin besteht mein Glaube“ und „Das Reich Gottes ist inwendig in euch“ begründete Tolstoj seine rigorose, kirchenferne, allein auf der Bergpredigt basierende christliche Morallehre. Die Frage des Volkes an Jesus aus dem Lukasevangelium „Was sollen wir tun?“ wird zum Titel einer der religiös-ethischen Hauptschriften Tolstojs . 1885 ändert der Schriftsteller seine Lebensweise radikal und lehnt jeden Luxus ab. Kriegsdienstverweigerer berufen sich auf ihn und müssen Gefängnisstrafen auf sich nehmen.

Andere religiös narrative Stoffe sind „Auferstehung“, „Kreutzersonate“, „Teufel“, „Vater Sergej“. Die Kirche wirft ihm vor, dass er den persönlichen Gott und den auferstandenen Gott leugnet, und droht, ihn zu exkommunizieren.

Tolstoj rang in einem lebenslangen Prozess um Antworten, die er den unfrei machenden Institutionen entgegenstellte. Sein Denken, basierend auf der Überzeugung, dass große Gedanken direkt aus dem Herzen kommen, entwickelte sich in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Institutionen, mit dem russischen Staat der spätzaristischen Zeit, der gekennzeichnet war durch eine große Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen Großgrundbesitzern und Leibeigenen sowie durch eine unheilvolle Verquickung mit der kirchlichen Orthodoxie.

Gesellschaftliche Konventionen zu durchbrechen, religiöse Traditionen zu hinterfragen, Freiheiten einzuklagen, Lebensformen abseits der in der strukturellen Gewalt von Gesellschaft und Institutionen fehlgeleiteten zu entwickeln – um den Preis eigener existentieller Bequemlichkeiten – waren nach Aussage Martin Tamckes seine Ziele.

Auch sieht er eine Verbindung zwischen Tolstoj mit Albert Schweitzer, Martin Luther King und Mahatma Gandhi und eine gemeinsame Überlieferungskette, die bis in den politischen Umbruch in der ehemaligen DDR reicht.

Von Anfang an rang der Schriftsteller um den Sinn des Lebens und bekennt in „Beichte“ , dass er schon nach dem Studium an der Universität Kasan an nichts mehr habe glauben können, was ihn in der Kindheit gelehrt worden war. Mit Ausnahme der ersten 14 oder 15 Kinderjahre habe er 35 Jahre als Nihilist gelebt.

Zum Zerwürfnis mit der Kirche kam es für Tolstoj auch, weil diese nicht den Kern des Christentums, so wie er ihn verstand, in den Mittelpunkt stellte, weil sie Kriege befürwortete und ihm nicht gab, „was ich von ihr erwartet hatte“. So begann der russische Schriftsteller im Namen des Christentums bald an allem zu rütteln, was das Leben in der Welt institutionell regelte.

Doch im Grunde sei er, so der Autor, ein Einsamer geblieben, bedrängt von den Menschen seiner Umwelt, ein Einsamer, der schon früh gegen seine sexuellen Begierden und gegen eigene Widersprüche anzukämpfen hatte. Er habe, notiert Tolstoj in seinem Testamentsentwurf vom 27. März 1895, „Augenblicke gehabt, wo ich mich als Vermittler und Träger des göttlichen Willens fühlte, und das waren die glücklichsten Augenblicke meines Lebens“.

Das Teilen der eigenen religiösen Erfahrung, der moralischen Ansichten, die aus den Notwendigkeiten des eigenen Lebensvollzuges kommen, gehört zu den herausragenden Merkmalen Tolstojs und begleitet sein Handeln bis zum Schluss. Der Verfasser untersucht ferner Tolstojs Verhältnis zum etablierten Mönchtum in Russland, seine Vorstellungen von Jesus, vom Reich Gottes sowie seine Beziehung zur Bibel und zum Gebet.

Trotz des vielfältig zusammengetragenen Materials legt man das Buch zu guter Letzt unbefriedigt aus der Hand. Wirkt es doch im Großen und Ganzen zu uneinheitlich und zu wenig durchdacht. Zudem werden der Lebenslauf und die wichtigsten Bücher von Leo Tolstoj nur kurz, wenn überhaupt gestreift.

Titelbild

Martin Tamcke: Tolstojs Religion. Eine spirituelle Biographie.
Insel Verlag, Berlin 2010.
153 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783458174837

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