In die Arena getrieben

Ein Sammelband von Sabine Strasser und Elisabeth Holzleithner unternimmt einen eher fragwürdigen Vergleich zwischen Zwangsheirat und Eheverbot für Homosexuelle, während Yvonne Riaño und Janine Dahinden eine Untersuchung über die Hintergründe vorlegen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon die erste Frauenbewegung bildete vor rund einhundert Jahren verschiedene Flügel aus: einen, der als radikal bezeichnet wurde, und einen, der als gemäßigt galt. Daneben gab es die sogenannte sozialistische Frauenbewegung sowie diverse oft religiös orientierte Frauenorganisationen. Sieht man von letzteren ab, so zeigte sich während der zweiten feministischen Welle in den 1970er-Jahren ein ganz ähnliches Phänomen. Diesmal entwickelte sich aus zunächst oft sozialistisch orientierten Bestrebungen eine Frauenbewegung, deren Verfechterinnen untereinander ganz ähnliche Differenzen austrugen wie schon ihre Großmütter. Nur, dass diesmal von Gleichheits- und Differenzfeminismus die Rede war. Auch wenn der Differenzfeminismus heute, dreißig, vierzig Jahre später, keine gar so große Rolle mehr spielt, gibt es doch noch immer nicht eben wenige innerfeministische Kontroversen und Streitfragen.

Sabine Strasser und Elisabeth Holzleithner etwa machen derzeit alleine in der „politischen Debatte“ um den Zusammenhang von Multikulturalismus und der „Fortschreibung ,traditionsbedingter Gewalt’“ drei feministische „Lager“ aus. Dem ersten sei die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema wichtig, da sie dazu beitrage, Frauen- und Menschenrechte zu stärken. Als Beispiel nennen Strasser und Holzleithner die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes, die sie allerdings fälschlicherweise in Terre de Femme umbenennen. Die zweite Gruppe weise hingegen im Gegensatz zu dieser „vehement auf die Gefahr hin, dass die Fokussierung auf ‚kulturelle‘ Formen der Gewalt in den ohnedies problematischen Debatten um Zuwanderung, Minderheiten und Integration zu Stigmatisierungen beitragen könnte.“ Die dritte wiederum suche nach Möglichkeiten, „Diversität als Prinzip von Gleichheit“ anzuerkennen sowie Kultur nicht als „Festschreibung von bestimmten Handlungen oder Traditionen“ aufzufassen und sich dennoch der „Probleme von marginalisierten, abweichenden oder widerständigen Individuen in ethnischen oder religiösen Minderheiten“ bewusst zu sein. Es ist dieser „dritte Zugang“, dem sie sich „verbunden“ fühlen. Dies gilt auch für den von ihnen unter dem Titel „Multikulturalismus queer gelesen“ herausgegebenen Sammelband, dessen Einleitung die Zitate entnommen sind.

Zunächst einmal ist den Herausgeberinnen in einem ganz grundlegenden Befund zuzustimmen, der die „Prozesshaftigkeit von Kultur“ betont. Man sollte meinen, dies wäre keine sonderlich bahnbrechende Erkenntnis. Wie immer und überall, befindet sich die Kultur auch heutzutage und hierzulande in einem permanenten Wandlungsprozess. Der besteht aber nicht so sehr darin, dass sich, wie oft insinuiert, islamische Gepflogenheiten unter dem (Ein-)Druck ,westlicher’ Aufklärung ändern, sondern vor allem darin, dass sich die ‚westlich‘ geprägte Mehrheitskultur durch die immer größer werdende Bedeutung anhaltend verändert, die dem Islam und den Befindlichkeiten seiner AnhängerInnen auch hier zugesprochen wird. So wird etwa die Freiheit des Wortes und des Bildes zunehmend gefährdet, wie beispielsweise der Umgang mit den Mohammed-Karikaturen zeigt.

Die Prozesshaftigkeit von Kulturen lässt sich also schwerlich bezweifeln, so sollte man zumindest meinen. Tatsächlich aber verstehen kulturalistische Ideologien Kulturen stattdessen als je in sich abgeschlossene und von einander abgeschottete Einheiten, die entweder nicht nebeneinander leben und miteinander auskommen können (so die Auffassung der politischen Rechten) oder aber alle zusammen eine lebenswerte bunte Republik schaffen, wie die Ideologie des Multikulturalismus besagt, der eben auch ein Kulturalismus ist.

Strasser und Holzleithner haben da ein weitaus differenzierteres Verständnis von Kultur, die sie als eine „komplexe Verbindung der Essentialisierung genauso wie der Erneuerung und von mehr oder weniger offenem Widerstand“ fassen. Dies ermögliche „das spannungsvolle Verhältnis von Autonomie und Kultur nicht als Ausdruck eines Gegensatzes, sondern als gegenseitige Bezogenheit oder Wechselwirkung wahrzunehmen“. Vor allem aber, so ließe sich hinzufügen, setzen sich Kulturen aus einander vielfach überschneidenden (Sub-)Kulturen zusammen, die selbst wieder in andere (Sub-)Kulturen reichen. So gehört jedes Individuum mehreren (Sub-)Kulturen an, in denen es seine Persönlichkeit und gegebenenfalls Autonomie entwickelt.

„Vor dem Hintergrund der Krise des Multikulturalismus“ „kontrastiert“ das „Forschungsdesign“ des Sammelbandes den „Zwang zur Ehe“ mit dem „Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von der Ehe“. Nun gibt es allerdings einige ganz gravierende Unterschiede zwischen beiden Menschenrechtsverletzungen, die von den Beitragenden nicht (oder nicht hinreichend) bedacht werden. Dieser betrifft zunächst einmal den Unterschied zwischen negativer und positiver Freiheit. Bei der Zwangsheirat wird erstere als Freiheit vom Zwang jemanden zu heiraten verletzt, der Ausschluss Homosexueller von der Ehe beschneidet hingegen die positive Freiheit, selbstbestimmt etwas zu tun, nämlich zu heiraten. Zudem wird die Freiheit im Falle der Zwangsheirat durch eine bestimmte Personengruppe (den Familien der zu Verheiratenden) beschränkt, im Falle des Heiratsverbots für Homosexuelle hingegen durch die Gesetzeslage. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Zwangsheirat nicht im Zwang besteht überhaupt zu heiraten, sondern darin, jemand bestimmtes zu heiraten, während der Ausschluss Homosexueller von der Ehe nicht die Ehelichung einer bestimmte Person ausschließt, sondern die einer Personengruppe, nämlich all jener Menschen, die das gleiche Geschlecht wie der oder die Heiratswillige haben. All dies (und einiges mehr) lässt es fraglich erscheinen, ob ein Vergleich von Zwangsheirat und Heiratsverbot für Homosexuelle fruchtbar sein kann.

Dass derlei Unterschiede in dem zu besprechenden Band unterbelichtet bleiben, korrespondiert mit dessen fast durchgängig zu konstatierendem Subtext, der unterschwellige Bestrebungen zur Nivellierung dieser beiden so unterschiedlichen Frauen- und Menschenrechtsverletzungen erkennen lässt. So etwa, wenn vom „‚Zwang zur Ehe‘ auf der einen Seite“ und dem „‚Ausschluss von der Ehe‘ für gleichgeschlechtliche Paare auf der anderen Seite“ gesprochen wird.

Nun ist es zwar zutreffend und nicht einmal eine neue Erkenntnis, dass hierzulande „der Mainstream bei Weitem nicht so liberal und in Genderfragen aufgeklärt ist, wie er sich angesichts ‚traditionsbedingter Gewalt gegen Frauen‘ gern geriert“. Dennoch gibt es einen himmelweiten Unterschied zwischen dem Geschlechterverhältnis in westeuropäischen Ländern und demjenigen in muslimisch geprägten Kulturen, wie etwa der jeweilige Umgang mit Zwangsverheiratung und Homosexuellen zeigt. Niemand, der hierzulande gegen den Willen der Eltern heiratet, wird von Mitgliedern der Familie aus traditionellen Gründen ermordet (es sei denn, sie fühlen sich nicht der Mehrheitskultur, sondern einer islamisch geprägten Kultur verbunden). Umgekehrt wird hier niemand von Gerichten zum Tode verurteilt, weil er oder sie homosexuell ist, wie das etwa in Ägypten oder Afghanistan geschehen kann. Ganz abgesehen davon ist auch die Rede von der „einen Seite“ und der „anderen Seite“ irreführend. Richtig wäre von Zwang zu einer bestimmten Ehe auf der einen Seite und dem Ausschluss von der Ehe auf beiden Seiten zu reden. Denn es ist ja keineswegs so, dass gleichgeschlechtliche Ehen in islamisch geprägten Kulturen erlaubt wären.

Zweifellos wäre es aussagekräftiger, den jeweiligen Umgang einmal mit Zwangsverheiratungen und einmal mit Homosexualität in verschiedenen kulturellen Kontexten zu vergleichen. Es würde sich schnell zeigen, dass in beiden Fällen, die Menschenrechtsverletzungen in traditionell oder islamisch geprägten Kulturen gravierender sind als in aufklärerisch-säkularen. So gibt es in ersteren eine weitgehende nicht nur gesellschaftliche sondern auch rechtliche Toleranz gegenüber Zwangsverheiratungen, während sie in letzteren rechtlich verboten sind. Ein Verbot, das in Deutschland sogar in einem eigenen Straftatbestand festgeschrieben werden soll. Der Umgang mit Homosexualität ist zwar auch in aufklärerischen Gesellschaften alles andere als frei von gesetzlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung, doch müssen Homosexuelle in keinem ,westlichen‘ Land fürchten, zum Tode verurteilt und hingerichtet zu werden.

In vierzehn teils theoretischen, teils eher empirischen Beiträgen erörtern die zwölf aus den Disziplinen Rechtswissenschaft, Sozialanthropologie und politischer Philosophie stammenden AutorInnen des Bandes die Frage, „ob multikulturalistische Politik tatsächlich Gewalt gegen und Diskriminierung von Frauen mitverschuldet und verstärkt, oder ob sie nicht im Gegenteil zum Schutz vor Gewalt und Diskriminierung bei Eheschließungen beitragen kann“. Einige dieser Beiträge unterminieren ihren Anspruch auf Seriosität schon alleine dadurch, dass sie als Quelle auf eine der wahrhaft proteischen Webseiten von Wikipedia verweisen. So etwa Elisabeth Holzleithner, die konstatiert, „gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen waren und sind vielerorts verboten und unterliegen Einschränkungen“. „Aktuelle Informationen“ solle man Wikipedia entnehmen, empfiehlt sie.

Den erste Aufsatz allerdings haben die Herausgeberinnen gemeinsam verfasst. Er steht unter der Überschrift „Multikulturalismus im Widerstreit: Debatten über kulturelle Diversität, Geschlechtergleichheit und sexuelle Autonomie“ und geht davon aus, dass nur eine Konzeption, die den „prozesshaften Charakter“ von Kultur ebenso „einfangen“ kann wie „die Tendenz, Kultur im Alltag zu essentialisieren und zu politisieren, einen „brauchbaren normativen Vorschlag entwickeln“ kann, „der die Anliegen der Geschlechtergleichheit und der sexuellen Autonomie in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten annehmbar macht“. Damit wird stillschweigend unterstellt, dass dies überhaupt in allen (denkbaren) kulturellen Kontexten möglich ist, was sich nicht nur nicht von selbst versteht, sondern geradezu unwahrscheinlich ist.

Eines der zentralen Themen des gemeinsamen Beitrags der Herausgeberinnen ist das „Paradox multikultureller Verwundbarkeit“. Es ergäbe sich daraus, dass der Multikulturalismus „Rechte für kulturelle, ethnische und religiöse Gruppen“ fordert, damit diese Gruppen innerhalb der (Gesamt-)Gesellschaft „autonom sein können“. Da diese Gruppen nun jedoch selbst – ebenso wie die Gesellschaft insgesamt – „nicht homogen“, sondern „von Machtverhältnissen durchzogen“ sind, kann die Gewährung der von diesen und von VertreterInnen einer multikulturalistischen Haltung eingeforderten spezifischen „Gruppenrechte“ und die aus diesen Rechten oft folgende „Ermächtigung von (demokratisch häufig nicht legitimierten, vielfach männlichen) Eliten“ zur Folge haben, „dass vulnerable Mitglieder der Gruppe (zusätzlich) benachteiligt und unterdrückt werden.“ Die Autonomie der Gruppen verstärkt also möglicherweise die Unterdrückung bestimmter Gruppenmitglieder. Damit sprechen die Autorinnen einen überaus wichtigen Punkt an. Doch ganz abgesehen davon lassen sich kulturelle Praxen auch dann begründet kritisieren – wohl gemerkt: kritisieren, nicht verbieten – ,wenn sie keine gruppeninterne Minorität unterdrücken. So etwa ganz allgemein jede religiöse Handlung von einem rationalen atheistischen Standpunkt aus.

Wie schon in der Einleitung, so beschreiten Strasser und Holzleithner auch in diesem Beitrag den bereits dort präferierten dritten Weg der ‚goldenen Mitte‘. So kritisieren sie nicht nur Feministinnen wie Alice Schwarzer, der sie – mit wie viel Recht auch immer – „eine schlichte Gegenüberstellung von ethnisch minorisierten männlichen Tätern und weiblichen Opfern“ attestieren, und Necla Kelek, die in ein „beunruhigendes Naheverhältnis zu rechtspopulistischen Positionen geraten könne“, da es ihnen beiden an „kultureller Sensibilität“ fehle, sondern auch die „postkolonialen Seite“, die „ratlos im Hinblick auf Herausforderungen durch sexistische und heteronormative Abwertung und Gewalt“ sei, „sofern sie sich durch Berufung auf Religion oder Kultur zu legitimieren versucht.“

Aufgrund der Kritik an letzterer folgen sie auch nicht postkolonialen Ansätzen, welche die Rede von Kultur überhaupt negieren, „um Essentialisierungen zu vermeiden, sondern übernehmen Gerd Baumanns Vorschlag, „das Zusammenspiel von alltäglichen Abweichungen, von Grenzziehungen und Durchlässigkeiten und schließlich auch von Spannungen zwischen individueller Autonomie und kultureller Norm zu untersuchen“. Allerdings sei es „im Kampf gegen Gewalt und Abwertung“ nicht „zielführend“, „passive Einschränkungen von Autonomie vorwiegend in ethnisch und religiös minorisierten Kontexten zu vermuten“. Tatsächlich muss man sie dort allerdings gar nicht vermuten, sie springt einem geradezu ins Gesicht. Jedoch nicht, wie die vage und undifferenzierte Formulierung der Autorinnen suggeriert, ganz allgemein in „ethnisch und religiös minorisierten Kontexten“, sondern insbesondere in islamisch geprägten. Kein Mensch etwa vermutet sie beispielsweise in der dänischen Minderheit Schleswig-Holsteins. Es geht auch gar nicht darum, irgendetwas zu vermuten, sondern frauen- und menschenrechtsverletzende Praxen und Handlungen zu unterbinden. Von wem auch immer sie ausgeübt werden. Denn diese sind ganz unabhängig davon, ob sie von Angehörigen einer gesellschaftlichen Majorität oder Minorität, aus traditionellen oder anderen Gründen ausgeübt beziehungsweise verübt werden, entweder tolerierbar oder eben nicht – wie zum Beispiel sogenannte häusliche Gewalt, Vergewaltigungen innerhalb und außerhalb der Ehe, Bordellbesuche, Genitalverstümmlungen oder Zwangsverheiratungen.

Sowohl Holzleithner wie auch Strasser sind jeweils als Alleinautorin noch für einen weiteren Beitrag verantwortlich. Sabine Strasser fragt, ob der Multikulturalismus „noch zu retten“ ist, und stellt dessen Konzept auf den „Prüfstand von Wissenschaft, Politik und Recht.“ Holzleithner greift hingegen in ihrem bereits erwähnten Beitrag noch einmal den Titel des Buches und der gemeinsamen Einleitung auf und liest „Multikulturalismus queer“. Das heißt, sie setzt „multikulturalistische Theoriebildung und Queer Theorie miteinander in Bezug“, um zu erörtern, „welchen Stellenwert sexuelle Autonomie im Multikulturalismus hat“. Dabei gewinnt sie auch noch dem Arrangement von Ehen positive Seiten ab und meint, „für diejenigen, die ehewillig, aber schüchtern sind und befürchten ‚übrig‘ zu bleiben“, könne es durchaus „eine gute Sache“ sein. Die naheliegende Frage allerdings, wie Menschen die so beschriebenen Eigenschaften und Befürchtungen entwickeln, blendet sie aus. Könnte es nicht vielleicht sein, dass gerade die Tradition der arrangierten Ehe und die gesamten mit ihr einhergehenden Geschlechter-Traditionen und -regime nicht unwesentlich dazu beitragen, dass Menschen „ehewillig, aber schüchtern sind und befürchten ‚übrig’ zu bleiben“? Verräterisch ist auch der Subtext, der Empathie für die besagten schüchternen Menschen erkennen lässt und ihnen mit pejorativem Zungenschlag die „in Liebesdingen abenteuerlustigen Personen“ gegenüberstellt, die eben nicht auf das Arrangement einer Ehe angewiesen sind.

Auch könnte man fragen, ob die „multikulturalistischen Ansätze“ tatsächlich, wie von Holzleithner behauptet, „nach dem Prinzip leben und leben lassen’“ funktionieren, und nicht eher nach dem ,Leben und töten lassen‘, etwa durch ,Ehren’morde. Zutreffend aber ist ihr Befund, dass Multikulturalismus und Queer Theorie „in einer nachgerade naturgemäßen Konkurrenz“ zu einander stehen. Denn was dem einen als „erhaltungswürdig“ erscheint, gilt der anderen als „einrissbedürftig“. „Diese Spannung gilt es auszuhalten“, ist ihr windelweiches letztes Wort. Tatsächlich findet die legitime Freiheit auch von Minderheiten genau dort eine Grenze, wo sie zur Unterdrückung von bestimmten Gruppen in diesen Minderheiten genutzt wird, wie dies hierzulande etwa in muslimischen Subkulturen gegenüber Frauen der Fall ist.

Sabine Strasser schlägt in ihrem alleine verfassten Beitrag vor, „einen Multikulturalismus ohne kulturellen Essentialismus zu entwickeln“. Dabei argumentiert sie weithin differenziert und gründlich, und zwar insbesondere dann, wenn es um die diversen Ausformungen, Theorien und Strömungen innerhalb des Multikulturalismus geht. An einem Punkt aber beraubt sie ihr Furor dieses Differenzierungsvermögens. Dann nämlich, wenn sie sich feministischen (Ex-) Musliminnen zuwendet. Genauer gesagt, wenn sie auf Necla Kelek und Ayaan Hirsi Ali zu sprechen kommt, die sie beide in eine Reihe mit Jörg Haider und Pim Fortuyn stellt. Statt Argumenten offeriert sie nun kaum mehr als Polemik: „Beherzt werden“ von den Vieren „multikulturalistische Lügen aufgedeckt, Tabus gebrochen, der kleine Mann und die kleine Frau zum Applaus gegen angebliche Integrationsverweigerer und Sozialschmarotzer ermuntert, und der Islam und die MuslimInnen genauso wie die angeblichen Traditionen der Zugewanderten hemmungslos verurteilt.“

„Bedrohungen, die von zugewanderten Minderheiten ausgehen“ – wie auch Strasser entdifferenzierend zu formulieren pflegt – kommen bei ihr nur als „angebliche“ vor. Gerade so als hätte es die Anschläge in Spanien, England und andernorts nicht gegeben, als seien die muslimischen jungen Männer, denen deutsche Mädchen als Schlampen gelten, die allenfalls zum Üben gut sind, reine Fantasiegestalten und als würden Deutsche in Stadtvierteln, in deren Parallelgesellschaften sie sich in der Minderheit befinden, nicht als „Kartoffeln“ beschimpft, bedroht und angegriffen. Doch davon schweigt Strasser. Dafür prangert sie umso nachdrücklicher die „Stereotypisierung und Abwertung von minorisierten Gruppen“ an, bei der es sich um eine „Form von Gewalt“ handele, die leicht von KritikerInnen „angeblicher kultureller Bedrohungen“ ausgeübt werde.

Was nun den „Kampf gegen Gewalt an Frauen und sexuellen Minderheiten“ betrifft, so biete er „kaum Argumente für den Rückzug von multikulturalistischen Ansätzen“. Vielmehr verlange er nach „kultursensiblen Maßnahmen, die ihrerseits jedoch Kulturalisierungen und Stereotypisierungen vermeiden“.

Nicht nur die Herausgeberinnen, auch Ines Rössl ist mit mehreren Beiträgen vertreten. Ihre beiden Aufsätze wenden sich der Zwangsverheiratung zu. Einmal gilt ihr Interesse der diesbezüglichen „rechtlichen Matrix in Österreich“, ein anderes Mal nimmt sie „Zwangsverheiratungssituationen als Anknüpfungspunkte von institutionellem Handeln“ in den Blick. Einen dritten Beitrag hat sie gemeinsam mit Christa Markom verfasst. Thematisiert werden darin „sexuelle Minderheiten in ethnisch minorisierten Gruppen“.

Nur einer der zahlreichen Beiträge stellt die Situation Homosexueller in einer islamisch geprägten Gesellschaft ins Zentrum des Interesses. Kerem Öktem, der sich wiederholt auf eine Untersuchung von Pinar Selek bezieht, geht „Homosexuellen Bewegungen und Identitäten im Kontext patriarchaler Machtstrukturen in der Türkei“ nach. Öktem möchte den Nachweis führen, dass in der Türkei „konservative gesellschaftliche Konventionen geschwächt, religiös-nationalistische Identitätsvorgaben unterhöhlt und patriarchalisches Verwaltungshandeln weitgehend entlegitimiert“ seien. Als wirklich gelungen kann dieses Vorhaben nicht betrachtet werden. Wenn er etwa über die „zunehmende Sichtbarkeit nicht heterosexueller Lebensentwürfe“ in der Türkei spricht, hat er vermutlich eher die Metropolen in der westlichen Türkei im Auge als die Dörfer Anatoliens. Etwas unklar bleibt auch seine Rede von der „kausalen Interdependenz zwischen zunehmender Sichtbarkeit nicht heterosexueller Identitäten, verunsicherter Männlichkeit und sich vertiefender Homophobie“. Denn inwiefern soll Homophobie eine kausale Ursache für die zunehmende Sichtbarkeit Homosexueller sein? Umgekehrt leuchte das Kausalverhältnis der behaupteten Interdependenz natürlich ein.

„Für Frauen aus kurdischen Stammesgesellschaften“ sei die Zahl der ‚Ehren’morde „rückläufig“, beruhigt der Autor im Weiteren. Und überhaupt gebe es nur noch „wenige“ dieser – wie er verharmlosend formuliert – „Tötungsfälle“. Ob das tatsächlich zutrifft, erscheint umso fragwürdiger, als der Autor eine insgesamt „erhöhte gesamtgesellschaftliche Gewaltbereitschaft“ konstatiert. Dies könnte aber auch eher dazu dienen, die Tatsache zu relativieren, dass Transvestiten und Transsexuelle „eine gravierende Einschränkung des Lebensrechts und der grundlegenden Menschenrechte durch die Ordnungskräfte“ erleiden und es in der Türkei eine „de-facto Straffreiheit für Gesetzesverletzungen gegenüber Transvestiten und Transsexuellen“ gibt.

Vergleichen die Beitragenden des von Strasser und Holzleithner herausgegebenen Bandes Zwangsheirat und gleichgeschlechtliche Ehen, so fokussieren Yvonne Riaño und Janine Dahinden ihr Forschungsinteresse schärfer, indem sie den „Hintergründen, Massnahmen, lokale und transnationale Dynamiken“ in Zusammenhang von Zwangsheiraten am Beispiel des Raumes Zürich auf den Grund gehen. Ungeachtet dieser räumlichen Beschränkung ihrer Untersuchung haben sie eine der gründlichsten, differenziertesten und instruktivsten Beiträge zu Wesen und Begriff von Zwangsheirat vorgelegt. Dass sich ihr Text dabei gelegentlich als etwas redundant erweist, dürfte dem Willen zur Genauigkeit und Klarheit anzulasten sein.

Das Vorwort hat Nora Bussmann verfasst. Sie betont, dass es sich bei Zwangsheiraten um „ein vielschichtiges Problem“ handelt, dem zudem „eine stark geschlechtsspezifische Komponente“ innewohnt. Da sie in „patriarchalischen Strukturen“ vollzogen werde, stünden betroffenen Männern ganz andere Möglichkeiten offen, mit ihnen umzugehen oder sich gegen sie zu wehren, als sie sich Frauen böten. Daher sei Zwangsheirat „nicht primär ein Thema misslungener Integration, sondern ein Gleichstellungsthema“. So sehen das auch Riaño und Dahinden, die zudem hervorheben, dass Zwangsverheiratungen nicht nur in patriarchalischen Strukturen stattfinden, sondern ihrerseits „Geschlechterungleichheiten produzieren und reproduzieren“.

Mit seiner an die „,verstehende Soziologie‘ im Sinne Max Webers“ angelehnten Studie verfolgt das Autorinnenduo ein doppeltes Ziel. Einmal gilt sie dem Verständnis des Phänomens Zwangsheirat, zum anderen will sie „Wissen produzieren, welches als Grundlage für spätere Präventions- und Interventionsmassnahmen dienen kann“. Hierzu haben die beiden Wissenschaftlerinnen 35 ExpertInnen-Interviews mit Fachleuten geführt, die überwiegend in einschlägigen Institutionen der Stadt Zürich tätig sind. Grundlegend für den Ansatz der Autorinnen ist zudem, dass sie sich explizit gegen einen „essentialistischen Kulturbegriff“ wenden, der Kultur als „komplexes Ganzes“ versteht. Stattdessen betrachten sie – ähnlich wie der von Strasser und Holzleithner herausgegebenen Band – Kultur als „Resultat eines Prozesses des Aushandelns von Bedeutungen zwischen kulturell geprägten, aber zur reflexiven Hinterfragung und Innovation fähigen Individuen“, mithin als „explicandum“, nicht als „explicans“, als zu (er)klärendes Phänomen also und nicht als etwas, das andere Phänomene erklärt. Für „soziale Akteure“ allerdings, so betonen sie, ist Kultur sehr wohl ein explicans, etwas erklärendes. Denn „sie geben der Welt um sie herum Sinn, indem sie sie mit Kultur erklären“.

Die Abgrenzung von arrangierten Ehen zu Zwangsehen gestaltet sich Riaño und Dahinden zufolge alles andere als einfach, da die Definition von Zwang „hochproblematisch“ ist. Denn er könne „physisch oder psychisch ausgeübt werden, subtil oder mittels direkter Gewalt“. Daher habe er „unweigerlich etwas mit der subjektiven Wahrnehmung zu tun, welche wiederum an die individuelle Biographie und an ökonomische, soziale und politische Kontexte und strukturelle Faktoren gekoppelt ist“. Auch gebe es „keinen ‚Idealtyp‘ von Zwangsheirat“. Vielmehr lasse sich empirisch eine „weite Bandbreite von Zwangssituationen im Zusammenhang mit Partnerwahl, Heirat und Ehe feststellen“, zu denen es aufgrund einer „stark divergierenden Sichtweise zwischen den Eltern und ihren Kindern“ komme. „Unterschiedliche Vorstellungen über kollektive resp. individuelle Dimensionen von Heiratsentscheidungen wie auch über Autonomien und Selbstbestimmung bei der Partnerwahl führen zu Konflikt- und Zwangssituationen.“ Hinzu komme, dass sich eine ,nur‘ arrangierte Heirat sehr wohl zu einer Zwangsehe entwickeln kann. „Denn ‚Zwang‘ kann an unterschiedlichen Zeitpunkten eine Rolle spielen: zum Zeitpunkt der Partnerwahl, also vor der Verheiratung, oder aber nach der Trauung, nachdem jemand in eine arrangierte Ehe eingewilligt hat und später aus dieser Ehe nicht mehr ausbrechen kann.“ Der Begriff Zwangsheirat umfasst dem Verständnis der Autorinnen zufolge daher Zwangsverheiratung und Zwangsehe.

Trotz der schwierigen Unterscheidung und der einander überlappenden Momente von Zwangsverheiratung und arrangierter Ehe handelt es sich Riaño und Dahinden zufolge bei beiden um „qualitativ unterschiedliche Phänomene“. Eindeutig von einander geschieden sind sie jedoch auch für die Autorinnen nicht. Denn „nicht jede arrangierte Heirat beinhaltet automatisch das Element des Zwangs“. Doch stehe eine Zwangsverheiratung immer im Zusammenhang mit einer arrangierten Ehe.

Was nun die Zwangsheirat selbst betrifft, so unterscheiden Riaño und Dahinden drei „Dimensionen“: „die Erscheinungsformen von Zwangsheirat“, „die Personen, die von Zwangssituationen betroffen sind“ und schließlich „die Formen von Zwang, die hinter dem Begriff Zwangsheirat stehen“. Diese „analytische Differenzierung“ ist den Autorinnen zufolge auch darum sinnvoll, weil sie es ermöglicht, „angepasste Präventions- und Interventionsmassnahmen zu entwickeln“.

Wie nicht anders zu erwarten, unterscheidet sich die Wahrnehmung der Eltern und der Töchter und Söhne, die sie verheiraten wollen, im Falle einer Zwangsheirat sehr. So fühlen sich erstere schon als Opfer, wenn ihre Kinder nicht die für sie vorgesehenen Personen heiraten wollen, und ihnen vorwerfen, sie wollten sie zwangsverheiraten. Denn die Eltern sind davon überzeugt, nur das Beste für ihre Kinder zu wollen. „Die jungen Menschen hingegen fühlen sich zu Handlungen gedrängt, die sie nicht wollen und die ihrem Bestreben nach Selbstbestimmung und Autonomie widersprechen.“

Riaño und Dahinden zufolge gibt es für Eltern fünf Gruppen von Gründen für eine arrangierte Heirat. Erstens sollen arrangierte Ehen „Risiken minimieren und das Wohl des Kindes fördern. Zum zweiten können sie den Eltern als probates Mittel gelten, „(teils vermeintliche) Gefahren seitens ‚Fremder‘ abzuwenden“. Dies ist häufig der Fall, wenn die Eltern die in der „Aufnahmegesellschaft“ geltenden „Normen und Werte“ als „unmoralisch“ ablehnen. Des Weiteren kann die arrangierte Ehe dazu dienen, „den sozialen und ökonomischen Status der Familie aufrechtzuerhalten“. Der vierte mögliche Grund ist, dass arrangierte Ehen es erleichtern, „transnationalen Reziprozitätserwartungen und Solidaritäten nachzukommen“ und sie zudem auf die „kollektive Dimension von Heirat“ verweisen. Und last not least dienen sie als Disziplinarmaßnahmen gegen die Kinder.

Das alles ist überzeugend. Weniger überzeugend ist jedoch, dass „die Problematik in der unterschiedlichen und oft stark kontrastierenden Sichtweise auf das Thema der Partnerwahl zwischen den Eltern und den jungen Erwachsenen gründet“. Denn dies impliziert, dass es nicht die falsche Haltung der Eltern ist, die ihren Sohn oder ihre Tochter mit einem bestimmten anderen Menschen verheiratet sehen möchten und die bereit sind, dies – mit wie viel Gewalt und Zwang auch immer – durchzusetzen. Wäre etwa alles in Ordnung, wenn sich die Kinder willig in eine Ehe – womöglich mit einer unbekannten oder gar gehassten Person und unter Verzicht auf ein Glück mit einer geliebten Person – begeben würden, nur weil es der Wille der Eltern ist beziehungsweise weil sie in eine Gemeinschaft geboren wurden, die darauf hinarbeitete, dass etwas anderes als ein solcher Gehorsam jenseits ihres Vorstellungsvermögens liegt?

Mehr als nur plausibel ist hingegen, dass arrangierte Ehen und Zwangsverheiratungen für die so (zu) verheirate(n)den Frauen einerseits und die Männer andererseits eine völlig unterschiedliche Bedeutung haben. Denn die „Handlungsspielräume“, die Männer und Frauen jeweils besitzen, sind durch eine „genderspezifische Symbolik, entsprechende normative Konzepte und eine ungleiche Vergesellschaftung der Geschlechter, welche soziale Ungleichheiten resp. ungleiche Machtfelder produzieren“, bestimmt. Riaño und Janine Dahinden „identifizieren“ in den Geschlechtervorstellungen und -praxen einschlägiger Familien eine „hegemoniale Männlichkeit resp. Weiblichkeit“, die besagt, dass Mütter für die Erziehung der Kinder zuständig sind, und dass sie es sind, die „innerhalb der (transnationalen) Familien zur Rechenschaft gezogen“ werden, „wenn sich eine Tochter oder ein Sohn nicht regelkonform verhält“. Vätern kommt hingegen die Aufgabe zu, die Familie gegen außen zu verteidigen und Härte zu zeigen, da andernfalls „das Ansehen der Familie auf dem Spiel stehen“ kann. Während die Töchter einer starken und möglichst umfassenden Kontrolle ausgesetzt sind, wird den Söhnen von Anfang an „mehr Spielraum“ gewährt, der es ihnen selbst im Falle einer Zwangsheirat ermöglicht, „ihre Vorstellungen – im Rahmen eines Doppellebens – weiterzuleben“. Kommt es zur Trennung eines (zwangsverheirateten) Paares, wird die „Schuld“ sowohl von den Familien wie auch der Community „häufig fast automatisch den Frauen zugeschrieben“.

Familien und Heirat beschreiben Riaño und Dahinden als „Arenen von geschlechtsspezifischen Aushandlungsprozessen, die in einem grösseren Zusammenhang von sozioökonomischen, kulturellen, politischen und diskursiven Kontexten stattfinden.“ Ein Bild, das zugleich beinhaltet, dass nicht nur Kämpfe stattfinden, sondern dies vor Publikum geschieht.

Titelbild

Sabine Strasser / Elisabeth Holzleithner (Hg.): Multikulturalismus queer gelesen. Zwangsheirat und gleichgeschlechtliche Ehe in pluralen Gesellschaften.
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010.
370 Seiten, 32,90 EUR.
ISBN-13: 9783593391724

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Yvonne Riano / Janine Dahinden (Hg.): Zwangsheirat. Hintergründe, Massnahmen, lokale und transnationale Dynamiken.
Seismo, Zürich 2010.
164 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-13: 9783037770917

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