Unzeitgemäße Notstandsgesetze

Christina Mütings rechtsgeschichtliche Studie zeichnet die deutsche Reformdiskussion und Gesetzgebung zur sexuellen Nötigung und Vergewaltigung seit 1870 nach

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie sehr sich das nicht nur rechtliche Verständnis eines der schwersten geschlechtsspezifischen Verbrechen im Laufe der Zeit gewandelt hat, zeigt Christina Müting in ihrer akribischen Studie über Reformdiskussion und Gesetzgebung zur sexuelle Nötigung und zur Vergewaltigung, die heute beide nach Paragraph 177 des Strafgesetzbuches (StGB) zu verfolgen sind. Besonders genau und detailliert zeichnet die Autorin die rechtliche Entwicklung seit dem Jahr 1870 nach, doch blickt sie in der nicht weniger erhellenden „historischen Grundlegung“ der Einleitung sogar bis ins 16. Jahrhundert zurück, genauer gesagt, bis zur Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V., „die den gewaltsamen Beischlaf als sog. ‚nottzucht‘ unter Strafe stellte.“

Sowohl dort wie auch im Hauptteil folgt ihre Darstellung weitgehend der Chronologie der Rechtsdebatten und gesetzgeberischen Verfahren, zu deren zeitgeschichtlicher Kontextualisierung sie auch Publikationen der zeitgenössischen öffentlichen Debatten heranzieht.

An öffentlichen Quellen nutzt die Autorin insbesondere Gesetze, Gesetzentwürfe und -begründungen, Beratungsprotokolle, Sitzungsberichte, Anträge und Empfehlungen. Der Rückgriff auf die im Bundesarchiv liegenden unveröffentlichten Quellen war allerdings nur bis in das Jahr 1977 möglich, da die Institution Archivalien, die jünger als 30 Jahre sind, prinzipiell unter Verschluss hält.

Die Terminologie des vorliegenden Buches ist in einer Hinsicht etwas gewöhnungsbedürftig. So benutzt Müting etwa durchgängig die Begriffe „‚Gewaltunzucht‘, ‚gewaltsame Unzucht‘ oder Nötigung zur Unzucht‘“, wenn sie von „Verhaltensweisen“ spricht, „die heute als sexuelle Nötigung geahndet werden.“ Der gegenwärtig nach § 177 StGB zu ahndende Tatbestand der Vergewaltigung entspricht wiederum dem, was „früher als Notzucht bezeichnet“ wurde.

Anders als bisherige verwandte Untersuchungen handelt es sich bei der vorliegenden weder um eine allgemeine Darstellung der historischen Entwicklung des Strafrechts, noch konzentriert sie sich auf die Strafbarkeit sexueller Nötigung und Vergewaltigung in einem kurzen Untersuchungszeitraum, sondern bietet als erste eine umfassende Darstellung der historischen Entwicklung des heutigen § 177 StGB, beginnend mit der Partikulargesetzgebung im späten 18. Jahrhundert bis ins gegenwärtige 21. Jahrhundert hinein.

So arbeitet Müting deutlich heraus, „wie sich hinsichtlich der sexuell motivierten Gewalttaten ein ständiger Wandel des Rechtsgutsverständnisses und damit des Charakters der Notzucht vom Eigentums- und Ehrdelikt bis hin zum Delikt zum Schutz der sexuellen Freiheit und Selbstbestimmung abzeichnet, der sich als Spiegel der unterschiedlichen religiösen, politischen und sittlichen Vorstellungen der jeweiligen historischen Zeitabschnitte darstellt“.

Auf wertende Kommentierungen verzichtet die Autorin dabei allerdings weitgehend. Erst im Fazit erlaubt sie sich im größeren Umfang wertende Beurteilungen und Stellungnahmen. Hier bezeichnet sie etwa die im Untersuchungszeitraum vollzogene „Entwicklung vom Rechtsgut Sittlichkeit und Geschlechtsehre hin zum Schutzgut der freien sexuellen Selbstbestimmung“ und dessen damit einhergehende „Entmoralisierung“ ausdrücklich als „begrüßenswert“. Auch verleiht sie ihrer kritischen Verwunderung darüber Ausdruck, dass es nach der „Anerkennung eines umfassenden Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung“ noch beinahe ein viertel Jahrhundert dauerte, „bis man dem mit dem Begriff der sexuellen Selbstbestimmung umschriebenen Werteverständnis durch die Reformierung der einzelnen Tatelemente Geltung verschaffte“ und die Vergewaltigung in der Ehe in den 1990er-Jahren endlich strafbar wurde. Dabei hatte die Frauenbewegung schon in den 1970er-Jahren lautstark und nachdrücklich gegen diesen „krassen Widerspruch zwischen der damals gültigen Rechtslage zur sexuellen Nötigung und Vergewaltigung als Straftaten und dem Recht auf freie sexuelle Selbstbestimmung“ protestiert. An dieser Stelle findet auch die Autorin überraschender Weise erfreulich deutliche Worte, wenn sie die „überalterten patriarchalischen-christlichen Wertevorstellungen“ dafür verantwortlich macht, dass sich die Vorstellung „der Ehemann habe ein vollkommenes Recht auf Beischlaf mit seiner Ehefrau“ so lange in geltendem Recht niederschlagen konnte. Wie viele andere auch kritisiert die Autorin zudem ganz grundsätzlich, dass sexuelle Nötigung und Vergewaltigung als „Einheitstatbestand“ gelten und gemeinsam in einem Paragraph unter Strafe gestellt werden.

Positiv bewertet Müting die „Abschaffung des minder schweren Falles der Vergewaltigung“, mit der „die vielfach opferbeschuldigenden prozessualen Verteidigungsstrategien an Bedeutung verloren haben“. Denn die Gesetzeslage mache nun deutlich, „dass das Opfer einer Vergewaltigung weder durch sein Vorleben, sein Verhalten vor der Tat oder eine vorangegangene besondere persönliche Beziehung zum Täter eine Mitverantwortung für den sexuellen Übergriff des Täters trifft“. Dass solche Strategien von Angeklagten und ihren StrafverteidigerInnen ebenso wie außerhalb der Gerichtsgebäude von verschiedenen JournalistInnen gleichwohl noch immer verfolgt werden, zeigt die fast alltägliche Berichterstattung über Vergewaltigungsprozesse.

Ebenfalls abgeschafft wurde der angeblich eine Vergewaltigung „rechtfertigende“ oder in ihrer Strafbarkeit milder zu bewertende „sexuelle Notstand“ des Täters, so dass „eine sexuelle Erregungsüberreaktion oder ein übermächtiger Sexualtrieb, sowie die Herkunft, mangelnde Reife und sexuelle Erfahrung des Täters“ kein Anlass mehr sind, „einen minder schweren Fall der Vergewaltigung“ anzunehmen. Auch dies wird von der Autorin – selbstverständlich – begrüßt. Wie viel im deutschen Vergewaltigungsstrafrecht gleichwohl noch im Argen liegt, lässt sich derzeit allerdings beispielhaft am Prozess gegen Jörg Kachelmann verfolgen, der das Glück hat, nicht in einem Land wie Israel oder Schweden angeklagt zu sein, die zum Beispiel ein weit weniger vergewaltigerfreundliches Strafrecht und Justizsystem haben.

Abschließend legt Müting nahe, „dass es im Bereich der sexuellen Gewaltdelinquenz nicht vordringlich darauf ankommt, neben oder ergänzend zu den bestehenden Strafvorschriften Modelle zu finden, um bereits verwirklichte sexuelle Gewaltübergriffe unter dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung der Bindung zwischen dem Täter und dem Opfer milder oder gar nicht mehr zu bestrafen“. Viel mehr solle das Hauptaugenmerk auf eine „verstärkte Auseinandersetzung mit geeigneten Präventions- und Resozialisierungsmaßnahmen“ gerichtet werden.

Titelbild

Christina Müting: Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (§ 177 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870.
De Gruyter, Berlin 2010.
273 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783110247947

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch