Er träumte sich hinein in die Moderne
Klaus Herding und Max Hollein haben ein Standardwerk über Gustave Courbet herausgegeben, der nicht nur sozial engagierter Realist, sondern auch einer der großen Träumer in der europäischen Kunstgeschichte war
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGustave Courbet ist bekannt als Vertreter einer sozial engagierten Kunst – paradigmatisches Beispiel sind „Die Steinklopfer“ von 1849 (ehemals Dresden, Gemäldegalerie, 1945 verbrannt). Der Schriftsteller Jules Champfleury schrieb in einem Artikel von 1855 über die Separatausstellung des Freundes Courbet: „Man will nicht zugeben, dass ein Steinklopfer ebensoviel wert ist wie ein Prinz. Der Adel entrüstet sich, dass so viel Meter Leinwand Leuten aus dem Volk zuteil wurden. Nur die Herrscher haben das Recht, in ganzer Figur dargestellt zu werden“. Alles, was so dem guten Geschmack und den guten Sitten widersprach, wurde mit dem Schimpfwort „Realismus“ belegt, wie Champfleury mitteilt. Diesen Begriff machte Courbet jetzt zu einem Kampfruf und schrieb ihn über seine Ausstellung von 1855 zum Zeichen, dass er sich in der Wahl seiner Themen nicht beschränken ließe und dass die Malerei gerade die Würde der als hässlich verschrienen Gegenstände zum Ausdruck bringen könne und solle. Es war die erste Ausstellung eines „Unabhängigen“ neben der offiziellen Salonausstellung während der Pariser Weltausstellung von 1855. Es sollten noch viele folgen, sie begleiten den Weg der modernen Kunst.
Courbets Ziel war Wahrhaftigkeit in der Kunst, doch wurde von ihm auch die Unterstützung eines politischen Kampfes durch die Kunst keinesfalls abgelehnt. Allerdings hatte er bei den „Steinklopfern“ ein politisches Anliegen noch nicht im Sinn und wurde erst von seinem Freund, dem Sozialisten Pierre Joseph Proudhon, nachträglich überzeugt, dass er ein nicht nur im künstlerischen Sinne revolutionäres Bild geschaffen habe. Denn Proudhon berichtete, dass die Bauern von Courbets Geburtsstadt Ornans das Bild hatten erwerben und auf den Hauptaltar ihrer Kirche stellen wollen, was immerhin ein Akt der Respektlosigkeit gegenüber der herrschenden Ordnung gewesen, ja einer Kampfansage gleichgekommen wäre.
In dem berühmten „Atelier“ (1855), das er zusammen mit den „Steinklopfern“ und dem „Begräbnis zu Ornans“ in seiner Separatausstellung von 1855 zeigte, wird der Künstler als derjenige vorgestellt, der durch seine Arbeit die Gleichheit aller Menschen beschwört, indem sie als Individuen und als Gegenstände der Malerei gleichen Wert für ihn haben. Courbet hat dieses Monumentalgemälde so kommentiert: „Ich bin in der Mitte und male, rechts sind all die Teilhabenden, das heißt die Freunde, die Mitarbeiter und die Liebhaber der Welt der Kunst. Links dagegen ist die andere Welt, das tägliche Leben, das Volk, das Elend, der Reichtum, die Armut, die Ausbeuter und die Ausgebeuteten, die Menschen, die vom Tode leben“. Er wollte „die ganze menschliche Gesellschaft“ durch sein Bild ziehen lassen. Das Atelier des Malers ist sozusagen die Bühne, auf der die Welt, die er aus seiner Vorstellung herbeiruft, erst in ihrer Wahrheit erscheint.
„Das Begräbnis zu Ornans“ (um 1849/50) zeigt Trauernde am offenen Grab – die Bewohner von Ornans, insgesamt 46 Personen, darunter auch Courbets Familienangehörige. Der Verstorbene mag wohl der Großvater des Malers sein, ein überzeugter Republikaner und Mitstreiter der Revolution von 1793, der allerdings am linken Rand des Bildes selbst noch einmal erscheint – als Zeuge seiner eigenen Beerdigung. Aus einem Dorfbegräbnis hat Courbet eine Genreszene im Format eines Historienbildnisses gestaltet, wobei sich aus den Haltungen und Gesichtern der Personen höchst unterschiedliche Reaktionen auf das Ereignis ablesen lassen.
Großen Erfolg hatte Courbet mit seiner Malerei in Deutschland, wo er sich 1858/59 und 1869 aufhielt. Vor allem Hans Thoma und Wilhelm Leibl waren stark beeindruckt von ihm. Sein Übertritt auf die Seite der Pariser Kommunarden 1871, von denen er den Auftrag erhielt, die Museen vor Kriegsschäden zu bewahren, brachte ihm nach der Niederlage der Kommune eine sechsmonatige Gefängnisstrafe ein und führte 1873 zu seiner Flucht in die Schweiz.
Der Kunsthistoriker Klaus Herding, ein international renommierter Courbet-Spezialist und zugleich Kurator der jetzt in Frankfurt gezeigten Ausstellung, wollte nun den „anderen“ Courbet ins Zentrum seiner Untersuchung rücken, den Träumer und Romantiker, den Maler, der die Innenwelt in unmittelbarer Verknüpfung mit der exakten Darstellung der äußeren Wirklichkeit erforschte. Denn Courbet war nicht nur der ausgewiesene Realist, er war auch einer der großen Träumer in der europäischen Kunstgeschichte: Traumverlorene Figuren, introvertierte Porträts, entlegene Landschaften, einsame Meeresbilder, Stillleben mit einer verwunschenen Welt hat er geschaffen. Auch im „Atelier des Malers“ verharren die Figuren, ohne zu agieren, in einem dämmrigen Halbdunkel. Diese Seite war in bisherigen Courbet-Ausstellungen noch nicht gezeigt worden. Zudem empfahl sich der Ausstellungsort, weil Courbet hier 1852 – in der Frankfurter Lederhalle – sein Gemälde „Ein Begräbnis in Ornans“ ausgestellt hatte. Er war auch selbst 1858 nach Frankfurt gekommen, wurde gefeiert und schuf hier einige bedeutende Gemälde, so „Die Dame auf der Terrasse“, die den Titel „Frankfurter Dame“ erhielt, sowie Jagdbilder. Auch die letzte große Courbet-Ausstellung fand 1977 in Hamburg wie in Frankfurt statt, und nun kann nach über 30 Jahren wieder die erste deutsche Courbet-Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt besichtigt werden (bis 30. Januar 2011).
Der reich mit Abbildungen versehene Katalog enthält 14 Aufsätze über den „anderen“ Courbet, ein kommentiertes Werkverzeichnis der ausgestellten Gemälde, Zeichnungen und Skizzen, eine Biografie des Künstlers sowie eine Bibliografie zu seinem Werk. In seinem programmatischen Beitrag würdigt Klaus Herding Courbet als alten Meister wie als Hauptfigur der Moderne. Für ihn ist der unmittelbare – realistisch genannte –Zugriff auf die Wirklichkeit vielfach gebrochen und erweist sich nur als ein anderes Mittel der Innenwendung. In vielen Bildern – so Herding – wird der Betrachter aufgefordert, hinter der Wiedergabe des Gegenstandes nach tieferen Sinnschichten zu suchen, aber auch die Malmaterie bis hin zur Abstraktion auf sich wirken zu lassen. Werner Hofmann widmet sich dem Künstler, Träumer und Philosophen Courbet und verweist auf die „Doppelbödigkeit“ und „Verkleidungsstrategie“ im „Atelier“-Gemälde, die nicht nur als Verschlüsselungen konkreter Rollenträger, sondern als „Charaktermasken“ des falschen Bewusstseins der Epoche zu lesen sind. Introspektion und mimischen Ausdruck bei Courbet untersucht Ulrich Pfarr, während sich Michèle Haddad mit Courbets träumenden Akten auseinandersetzt. Courbet als Maler von Albtraum und Schlaf ist das Thema von Ségolène Le Men; jene Figuren in Courbets Malerei stehen im Mittelpunkt, die, in einer Landschaft eingebettet, eine Art von Über-Realismus evozieren. Warum hat Courbet 1848 eine „Klassische Walpurgisnacht“ nach Goethes „Faust“ – eines der wenigen literarischen Sujets Courbets – gemalt und warum hat er sie später wieder übermalt?
Über dieses verschwundene Gemälde und sein unverhofftes Wiederauftauchen berichten Sylvain Amic und Florence Hudowicz. Courbet, Richard Wagner und dem Volkslied gilt das Interesse von James H. Rubin, Paul Galvez vergleicht Courbet und Jules Michelet als Chronisten des 19. Jahrhunderts und Bettina Erche beleuchtet die Hintergründe der „Dame auf der Terrasse“, die Courbet 1858 in Frankfurt gemalt hat. Gilbert Titeux nimmt sich der so aufschlussreichen Jagdbilder Courbets an und der Darstellung des Elends – „ein Traum der Gerechtigkeit“ – widmet sich Linda Nochlin. Mit der Courbet-Rezeption in der Kunst der Moderne und der Gegenwart befasst sich abschließend Klaus Herding und in einem separaten Beitrag geht Margret Stuffmann der Bedeutung von Courbets Zeichnungen nach.
Aus der Fülle der im Katalog abgebildeten Arbeiten seien nur zwei Gemälde des „anderen“ Courbet herausgegriffen, die zweifellos auch Höhepunkte der Ausstellung darstellen: „Die Begegnung oder Bonjour M. Courbet“ (1853) und „Die Mädchen an der Seine“ (1856/57). In der „Begegnung“ hat sich Courbet – in Wanderkleidung und die Staffelei im Rucksack – selbstbewusst im Profil dargestellt, dem der Kunstliebhaber Alfred Bruyas und dessen Diener ehrerbietig ihren Respekt erweisen. Das Bild, das den Gegensatz zwischen Künstler und Bürger postuliert, ist aber nur ein Wunschtraum – der Maler träumt davon, die Abhängigkeit von seinem Mäzen zu seinen Gunsten umkehren und einen Platz an der Spitze der Gesellschaft einnehmen zu können.
„Die Mädchen an der Seine“ haben seinerzeit – heute kaum mehr vorstellbar – im Pariser Salon von 1857 einen großen Skandal ausgelöst. Zwei junge Mädchen, prächtig nach der Mode der Zeit gekleidet, haben sich bei einem Ausflug erschöpft in den Schatten von Bäumen gelegt und träumen vor sich hin. Der Schock damals kann nur mit dem völlig neuen Realismus erklärt werden, den Courbet in die Malerei eingeführt hat. Denn er zeigt weder mythologische Akte, wie die Salonmalerei, noch orientalische Schönheiten, wie Eugène Delacroix, sondern die ganz gewöhnliche Situation eines sommerlichen Ausflugs, wobei er die Mädchen ganz nah an den Betrachter heranrückte. Während die vordere, bäuchlings liegende Schöne wie im Tagtraum mit halb geöffneten Augen und gekrümmtem Zeigefinger den Betrachter zu locken scheint, sinnt die zweite wohl einem vergangenen Liebesglück nach. Beide scheinen die Begierde und die Vergeblichkeit des Liebesverlangens zu verkörpern. Ohne das Sinnenhafte, ohne das Gespür für das Greifbare, Besitzbare hätte sich in Coubet nie dieses Gefühl für das Körperhafte, wesenhaft Materielle entwickelt, das einen der einprägsamsten und typischsten Charakterzüge seiner Malerei darstellt.
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