Das Pferd satteln und zurückreiten

Sabrina Janeschs Romandebüt „Katzenberge“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Auf dem Höhepunkt der Feier hatte sich Onkel Szymek die Kartoffelsalatschüssel wie einen Helm auf den Kopf gesetzt – ohne zu sehen, dass sie noch nicht ganz leer war –, sich auf die geschwollene Brust geschlagen und in meine Richtung deklamiert: Sattel das Pferd, wir reiten zurück in die Ukraine, nach Galizien.“Diese, von reichlich Wodka inspirierte, Aufforderung ist an die junge Berliner Journalistin Nele Leibert gerichtet, die sich zur Beerdigung ihres Großvaters nach Schlesien begibt und sich dort vollends in die geheimnisumwitterte, von Vertreibungen geprägte Familiengeschichte verfängt.

Dies ist der Handlungsrahmen des Romandebüts der 25-jährigen Sabrina Janesch, die im niedersächsischen Gifhorn geboren wurde und beim Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil in Hildesheim Kulturjournalismus und kreatives Schreiben und dazu einige Semester Polonistik in Krakau studiert hat. „Wie Nele stamme auch ich aus einer deutsch-polnischen Familie, auch mein Großvater musste Galizien für Niederschlesien verlassen. Er hat mich tatsächlich sehr mit seinem Aberglauben und seinen Erzählungen beeinflusst – sicherlich habe ich viele meiner Motive und Denkmuster ihm zu verdanken“, erklärt die Danziger Stadtschreiberin von 2009, die in diesem Jahr mit einem Auszug ihres nun vorliegenden Debüts am Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis teilgenommen hat.

Sabrina Janesch erzählt die Geschichte von Nele und ihrem verstorbenen Großvater aus wechselnden Erzählperspektiven. Die weibliche Hauptfigur, die als Kind häufig auf dem schlesischen Bauernhof zu Gast war, beschließt nach der Beisetzung, sich auf die Spuren ihres Großvaters Stanislaw Janeczko zu begeben, der am Ende des Zweiten Weltkriegs mit seiner Frau Maria aus Galizien (heute Teil der Ukraine) vertrieben und in die Nähe von Breslau umgesiedelt wurde – an die titelstiftenden Katzenberge im „schleimigen, schissigen Schlesien“. Sie reist immer weiter gen Südosten – bis in die Ukraine, ins Dorf Zastavne, das einst Zdzary Wielkie hieß und der Geburtsort des geliebten Großvaters war. In Neles Begegnungen mit Land und Leuten montiert Janesch fiktive historische Passagen aus dem Blickwinkel des verstobenen Janeczko, der als begnadeter Märchenerzähler arrangiert wird und viel interessanter, viel facettenreicher als die Enkelin daherkommt. Die Sprache des Romans ist einfach wie das beschriebene Leben, das Erzähltempo bedächtig gewählt, so dass immer Zeit für einen kleinen epischen Schlenker bleibt.

Die Reise auf Großvaters Spuren fungiert hier nicht nur als Rekonstruktion seiner Biografie, sondern Nele eignet sich durch eigenes Erleben so auch die jüngere europäische Geschichte an. Sie lernt aus Gesprächen auf ihrer Tour die doppelte Form der Vertreibung kennen. Damit einher geht (sowohl in Galizien als auch in Schlesien) die Angst davor, dass die Geflohenen (Vertriebenen) irgendwann noch Besitzansprüche geltend machen könnten. Sie begegnet Menschen, die eine Existenz auf Abruf führen, die wie in einer Heimat auf Zeit leben. So ähnlich erging es auch ihrem Großvater in Schlesien, der zudem noch gegen Dämonen und böse Geister, gegen Aberglaube und Ressentiments zu kämpfen hatte.

Und über allem schwebte ein dunkles Geheimnis, das um seinen einst in Galizien verschwundenen Bruder kreist. Kollektivschuld, Individualschuld, Sühne, Vergebung, Aussöhnung – es sind die ganz großen Sujets, die Janesch in ihrem literarischen Erstling thematisiert hat. Ohne großes Pathos, dafür mit schlichter Eleganz und erstaunlicher Souveränität öffnet diese Familiengeschichte einen gigantischen Horizont. Eine mehr als beachtliche Talentprobe: ein Debüt, das schon erstaunlich reif wirkt und neugierig auf mehr aus der Feder dieser jungen, hoffnungsvollen Autorin macht.

Titelbild

Sabrina Janesch: Katzenberge.
Aufbau Verlag, Berlin 2010.
277 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783351033194

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