Erinnern, um zu überleben

Volker Harry Altwassers neuer Roman „Letztes Schweigen“ erzählt von einer schwierigen Kindheit in der DDR

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Letztes Schweigen“ ist das Mittelstück einer Romantrilogie, die der Rostocker Autor Volker Harry Altwasser (Jahrgang 1969) vor einem Jahr mit dem von der Kritik sehr zwiespältig aufgenommenen Roman „Letzte Haut“ begonnen hat und dem Vernehmen nach 2011 mit dem „Hochseeepos“ „Letzte Fischer“ – einen Ausschnitt las er bereits während der „Tage der deutschsprachigen Literatur“ 2010 in Klagenfurt – abzuschließen gedenkt. Historisch schlagen die drei Bände einen Bogen aus den letzten Jahren der NS-Diktatur über die DDR-Zeit bis in die unmittelbare Gegenwart. Begrifflich verklammert sie das dem Portugiesischen entstammende Wort „Saudade“, mit dem man im Westen der iberischen Halbinsel ein zwischen Melancholie und Nostalgie schwankendes Gefühl bezeichnet, die sehnsuchtsvolle Erinnerung an etwas für immer Verlorenes.

Auf einem Fischtrawler mit eben diesem Namen – „Saudade“ – wird Robert Rösch, zentrale Figur von „Letztes Schweigen“, als Experte für das fachgerechte Verarbeiten von Kurznasenseefledermäusen, einer seltenen Tiefseefischart, geschätzt. Und während der 30-Jährige im Bauch des Schiffes am Fließband einem Exemplar dieser teuer gehandelten Spezies nach dem anderen die stachlige, mit Giftdrüsen übersäte Haut abzieht, geht er der eigenen Geschichte in fünf erzählerischen Anläufen auf den Grund. Er erinnert sich an frühe Beschädigungen, Illusionen und Enttäuschungen und setzt sich noch einmal all den Zumutungen, Lügen und menschlichen Abgründen aus, die ihm das Erwachsenwerden so schwer werden ließen.

Aus den 1970er-Jahren bis in die ersten Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung führt die Binnenhandlung. Wir erfahren von einer Mutter, die in ihrem Sohn nur das Ebenbild seines ihr verhassten Vaters sah. Wir lesen von den zahlreichen Versuchen des Kindes, die Aufmerksamkeit dieser Frau zu erlangen, und der Ernüchterung, wenn es nicht einmal hart erkämpfte gute Noten in der Schule vermögen, ihren Panzer zu durchbrechen. Und während sie sich von einer unglücklichen Beziehung in die nächste flüchtet – dem Schläger, der sich längst abgesetzt hat, folgt der „Heiratsschwindler“, diesem wiederum die „Säufersau“ –, gibt sich der Sohn Illusionen und Tagträumen hin, die in der Vineta-Sage ihr poetisches Zentrum haben und um ein glückliches Leben kreisen, in dem Väter und Söhne eine untrennbare Einheit bilden.

Kein Wunder, dass dem Jungen ein mehrwöchiger Aufenthalt in der Pionierrepublik „Wilhelm Pieck“ in Altenhof am Werbellinsee fast zu einer Art Erweckungserlebnis aus seinen unglücklichen Alltagserfahrungen gerät. Altwasser beschreibt die Exerzitien in der bekanntesten Kaderschmiede für Kinder in der DDR ausführlich: vom militärischen Bettenbau über das Essen nach dem Kommando „Guten Appetit!“ bis zur Pflicht, seinen täglichen Schul- und Schulungsplan nie anders denn in Pionierhemd und mit Pionierhalstuch zu absolvieren. Und er demonstriert damit ganz nebenbei – auch wenn die entsprechenden Passagen etwas über Gebühr ausgedehnt erscheinen – die verführerischen Qualitäten eines totalitären Systems, das den Einzelnen schon früh in eine strenge Hierarchie einordnete, die ihm aber immerhin noch so viel Bewegungsfreiheit gestattete, dass er sich wahr-, wichtig- und ernstgenommen fühlen konnte.

„Letztes Schweigen“ kann man als eine Art Gegenstück zu Peter Wawerzineks Roman „Rabenliebe“ (2010) lesen – hier die lebenslange Muttersuche, bei Altwasser dagegen die verzweifelten Bemühungen eines Heranwachsenden, mehr für seine Mutter zu sein als eine Kopie des ungeliebten Vaters. Und auch ein Vergleich mit Uwe Tellkamps monumentalem Epos „Der Turm“ (2008) und Ingo Schulzes Briefroman „Neue Leben“ (2005) bietet sich an. Sieht Tellkamps Dresdener Bürgersohn Christian Hoffmann – darin in gewisser Weise dem jungen Enrico Türmer Schulzes ähnlich – mit dem Abstand, den ihm Bildung und Herkommen verschaffen, auf die Welt der späten DDR praktisch zunächst von oben herab, ehe ihn im zweiten Romanteil dann doch noch die Schikanen der „Ebene“ erwarten, steckt Altwassers Protagonist von Anfang an fest in einem proletarischen Milieu, das ihn im wahrsten Sinne des Wortes mundtot macht und ihm eine eigene Identität verweigert. Sein Zu-sich-Kommen findet dementsprechend in drei Etappen statt, die jeweils in einem Schlüsselerlebnis kulminieren, aus dem er als ein immer wieder anderer hervorgeht. Am vorläufigen Ende seines Entwicklungsweges ist er der Hochseefischer Robert Rösch, der seine Vergangenheit(en) in der Rückschau auch namentlich von sich abgetrennt – dem Jungen, der sich im Netz seiner unglücklichen familiären Verhältnisse gefangen hat, gibt er den Namen Volker, später wird daraus der gegen seine Herkunft revoltierende Jack.

Was an Altwassers Roman nicht überzeugt, sind etliche seiner erzählerischen Kunstgriffe. So bedient sich zum Beispiel bereits der erste Satz eines an inneren Monologen reichen Buches des Konjunktivs: „Es sei kein Hass gegen die weiblichen Menschen gewesen, er sei ihnen nur gerne aus dem Weg gegangen.“ Allein so spricht es im Innern eines Menschen nur, wenn diesem Sprechen ein Fragen vorausgegangen ist. Doch eine Frage ist hier nirgends zu entdecken, auch nicht als – rhetorische – Frage des Sprechers an sich selbst. Und so sieht sich der Leser über weite Strecken dieses Buches einem auf nicht gestellte Fragen Antwortenden gegenüber – ein Verfahren, das, je weiter man im Roman voranschreitet, umso stärker nervt und einen in die Nähe des Verdachts bringt, es gehe hier zumindest grammatisch unüberlegt zu.

Des Weiteren scheint die Verbindung zwischen Rahmen- und Binnenhandlung nicht unbedingt von Notwendigkeit geprägt zu sein. Natürlich ist die Metaphorik klar – der hier mit seinen „Musikerhänden“ geschickt Tiefseefische Häutende, reißt sich im Rückblick die Schichten seiner eigenen (vergifteten) Existenz erzählend vom Skelett, dringt in sein Inneres vor, entblößt sich vor dem Leser. Das allein reicht aber noch nicht aus, um jene im Heute spielende Erzählschicht, aus der heraus sich zurückerinnert wird, funktionell zu begründen, sondern stiftet eher Verwirrung, weil sich die Frage „Wer spricht?“ gerade am Anfang des Buches nur schwer beantworten lässt und die Hochseepassagen allzu isoliert daherkommen.

Titelbild

Volker H. Altwasser: Letztes Schweigen. Ein Abwrackroman.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2010.
254 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783882216813

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