Vergebenes Potenzial

Katrin Bornemanns „Genretheorie des amour fou-Films“ liefert keine neuen Erkenntnisse

Von Katja HettichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hettich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Amour fou ist – das führen uns die Künste spätestens seit Dantes „Divina Commedia“ in immer neuen Varianten vor – eine Gewalt, die alle moralischen und sozialen Grenzen zu sprengen und ihre Opfer ans Ende ihrer psychischen und physischen Energien zu führen vermag. Dem Rezipienten bereitet der inszenierte Kontrollverlust der wahnsinnig Liebenden in der Regel zugleich Schrecken und Lust an der Transgression. So ist es nicht verwunderlich, dass sich auch jene Kunstform, die so intensiv wie keine andere das Fühlen und Empfinden seiner Rezipienten anzusprechen vermag, immer wieder diesem Topos zugewendet hat: Das Kino scheint geradezu prädestiniert, den unsagbaren Rausch der obsessiven Leidenschaft mit allen Sinnen erfahrbar zu machen. Katrin Bornemann nimmt sich in ihrer Dissertation einer Motivgeschichte der Amour fou im Film an und geht noch einen Schritt weiter: Sie sieht in dem Topos den thematischen und ästhetischen Dreh- und Angelpunkt eines eigenständigen Genres, dessen „umfassende Definition“ ihr erklärtes Forschungsziel ist.

Die Autorin nähert sich ihrer Genrebestimmung in zwei Schritten, über das „Wesen“ und das „Wirken des Amour fou-Films“. Im ersten Teil leitet sie aus einem kursorischen Überblick über Amour fou-Erzählungen von der Spätantike bis in die Moderne typische Elemente ab, die sie auch in der filmischen Gestaltung des Themas wiederfindet. Interessant ist, dass sie auch eine bestimmte Ikonografie des Amour fou-Films ausmacht. Deren knapp zwanzigseitige Beschreibung kann jedoch nicht überzeugen: Zu oberflächlich bleibt beispielsweise die knappe Einteilung in „drei unterschiedliche stereotypische Figurencharakterisierungen“: „die Kindfrau“, „die Femme fatale“ und „die graue Maus“ beziehungsweise „der jugendliche Adonis“, „der Sugar-Daddy“ und „der Biedermann“. Zu unspezifisch erscheinen filmanalytische Befunde wie zum Beispiel der, dass die als Hauptfiguren auftretenden „Amourfouristen […] wesentlich profunder und detailreicher charakterisiert sind als alle übrigen Figuren“, oder der, dass „[f]ilmsprachliche Mittel wie Montage und Mise en Scène […] in besonderer ästhetischer (metonymisch, symbolisch, assoziativ) Weise für die Handlung funktionalisiert“ werden. Ein Kapitel zum „Anpassungswert der amour fou im Medium Film“ streift die durchaus spannende These eines „ideologische[n] Paradoxon[s] der simultanen In- und Exklusion“ des Zuschauers, den der Amour fou-Film sowohl durch die offene Zurschaustellung von Intimität als auch durch suggestive Leerstellen mit seiner voyeuristischen Rolle konfrontiert. Eine analytische und theoretische Vertiefung des Gedankens bleibt jedoch aus.

Im zweiten Teil des Buches wird das „Wirken des amour fou-Films“ zunächst anhand von zeitgenössischen Besprechungen einiger für Bornemann prototypischer Vertreter nachgezeichnet. Methodisch irritiert zum einen, dass hier eingangs das Konzept der Intertextualität in Anschlag gebracht wird, ohne dass je entsprechende Bezugnahmen der Filme untereinander aufgezeigt werden. Zum anderen überrascht bei der Auswertung der Filmkritiken die weitgehende Beschränkung auf die angloamerikanische Presse. Die Auswahl wird damit begründet, dass „diese bereits früh ausführliche Kritiken über anlaufende Filme publizierte“ und „der Film im angloamerikanischen Raum viel früher als ein relevantes Kulturgut anerkannt wurde als dies etwa im deutschen Kulturraum der Fall war“. Das Argument erscheint wenig schlagkräftig, insbesondere wenn man bedenkt, dass unter den fünf hier untersuchten Beispielen nur eines teilweise britischer Provenienz ist, dafür vier Filme mit Beteiligung Frankreichs produziert worden sind, dessen öffentliche Filmwahrnehmung bekanntermaßen spätestens seit den „Cahiers du cinéma“ als besonders rege gelten kann. Nicht reflektiert wird, dass der Ansatz dieser Inhaltsanalyse sich weniger dem „Ziel […], eine[r] typische[n], dokumentierte[n] Reaktion auf die amour fou-Texte“ annähert, sondern dass er die öffentliche Äußerung zu bestimmten Themen in einer zeitlich und kulturell spezifischen Presselandschaft darstellt.

Als „zweite[s] Herzstück“ der Arbeit fungiert ein Kapitel zur „Vorzugsrezeption des amour fou-Films“, in dem auf der Grundlage kognitivistischer Filmtheorien wahrscheinliche kognitive, somatische und affektive Reaktionstendenzen des Zuschauers erschlossen werden. Dass die Protagonisten nicht nur intradiegetische Wertmaßstäbe konterkarieren, sondern ihre Inszenierung auch die erwartbaren Prinzipien des Zuschauers und damit seine Sympathien ins Wanken bringt, ist als Erklärung für das bisweilen „als ,anstrengend’ beschriebene Filmerlebnis“ nachvollziehbar. Die besondere Erfahrung vieler der genannten Filme ist jedoch gerade in jener „als paradox empfundene[n] ideologische[n] Ambivalenz“ zu vermuten, die Bornemann am Ende „auflösen“ will. Pauschalisierende Aussagen wie die, dass „[d]ie Amourfouristen […] trotz Warnungen und wider besseres Wissen selbstverschuldet [scheitern] und […] moralisch verurteilt“ werden, erscheinen mit Blick auf viele Beispiele des Korpus an deren besonderen Wirkmechanismen vorbeizugehen.

Hier offenbart sich – wie schon in vorherigen Bemerkungen zu dem Einfluss, den Zensurrichtlinien wie der production code, Zielgruppenorientierung und Marketingstrategien auf den „Film als ökonomisches Gut“ haben – ein Kernproblem der Untersuchung. Beim allzu bemühten Versuch, „eine entscheidende Lücke im Genresystem“ zu schließen, werden immer wieder Widersprüche geglättet, die sich aus einem grundsätzlichen Denkfehler ergeben: Stillschweigend werden Genreregeln der standardisierten Hollywoodproduktion für Filme postuliert, die – wie die Autorin selbst betont – zu einem Großteil „von renommierten Arthouse-Regisseuren […] gedreht“ worden sind. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ein sinnentstellender Verweis auf Georg Seeßlens Verriss des Katastrophenfilms „Die Wolke“ (Deutschland 2006). Während es Seeßlen gerade um die Unterscheidung zwischen Filmkunst und dem Genrefilm mit seinen zwei Entertainment-Formeln feel-good und guilty pleasure geht, schreibt Bornemann, er teile „alle Filme“ in die beiden letztgenannten Kategorien ein. Ausgerechnet die Spannung, die sich aus der Überblendung von häufig noch immer dichotom gedachter Genrehaftigkeit und europäischem Autorenkino ergibt, böte aber Potenzial für einen gewinnbringenden Beitrag zur Genretheorie. Dieses bleibt jedoch auch im Schlusskapitel zur theoretischen Einordnung des amour fou-Films ungenutzt.

Den Anspruch, „eine zweckdienliche Klassifizierungshilfe“ zu leisten, mag die Untersuchung mit Einschränkungen einlösen. Der filmwissenschaftliche Erkenntniswert einer solchen induktiven Kategorienbildung, die sich im Selbstzweck erschöpft, kann jedoch in Zweifel gezogen werden. Denn das Insistieren auf der (thematisch ohnehin offensichtlichen) Kohärenz von sechzig teils sehr unterschiedlichen Filmen, darunter Luis Buñuels „L’Âge d’or“ (Das goldene Zeitalter; Frankreich 1930), Alain Resnais’ „Hiroshima mon amour“ (Frankreich/Japan 1959), Bernardo Bertoluccis „Ultimo tango a Parigi“ (Der letzte Tango in Paris; Frankreich/Italien 1972), Oliver Stones „Natural Born Killers“ (USA 1994) und Christian Petzolds „Jerichow“ (Deutschland 2008), verstellt den Blick nicht nur auf deren Eigenleben, sondern auch auf signifikante Tendenzen, die einzelnen Epochen, Kulturräumen oder Produktionssystemen bei der Ausgestaltung des Topos vielleicht tatsächlich zugeschrieben werden könnten.

Ärgerlich sind zudem einige formale Mängel, die freilich nicht nur der Autorin anzulasten sind. Die Entscheidung, den kompletten Anhang des Buches nur online zugänglich zu machen, erscheint fragwürdig, zumal darin nicht nur unverzichtbare Zusatzmaterialien enthalten sind, sondern auch eine Liste des zugrunde liegenden Filmkorpus. Problematisch ist außerdem, dass ein Literaturverzeichnis gänzlich fehlt und so die Titel der Quellen, die außer bei ihrer Erstnennung nach der Kurzzitierweise angegeben werden, nicht ohne Weiteres erschlossen werden können. Hinzu kommen neben sprachlichen Unebenheiten auch noch zahlreiche Fehlformatierungen und ein Inhaltsverzeichnis, dessen Seitenangaben nicht mit denen in der Arbeit übereinstimmen.

Titelbild

Katrin Bornemann: Carneval der Affekte. Eine Genretheorie des Amour-fou-Films.
Schüren Verlag, Marburg 2009.
370 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783894725563

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