Ja zum Sonett, ja zum Schlager

Thomas Keck publiziert kurze Texte Ronald M. Schernikaus

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zugegeben, es sind Nebenwerke, die der Herausgeber Thomas Keck hier aus dem Schaffen Ronald M. Schernikaus zusammengestellt hat: Reportagen, Interviews, Rezensionen, Prosaskizzen, das meiste davon zu Lebzeiten des Autors in kleineren Zeitschriften veröffentlicht. Sicherlich schreibt man so etwas, um ein wenig Geld ins Portemonnaie zu bekommen. Doch scheint Schernikau großen Spielraum bei der Wahl seiner Themen gehabt zu haben und zeigen seine Texte, so unterschiedlich sie sind, doch als gemeinsamen Zug eine große Neugierde, das Interesse am Beobachten.

Wie arbeitet „Cornelia A., 35 Jahre, Inkasso-Kauffrau“? Schernikau betreibt keine gewinnträchtig inszenierte Ausbeutung der Schuldennot, wie sie heute bei Peter Zwegat und RTL zu sehen ist, er formuliert keine flammende Anklage gegen das System, sondern lässt sich von einer politisch bewussten Praktikerin genau berichten, wie ihre Arbeit abläuft. Erst dadurch werden die Details deutlich, versteht man die Funktionsweise dieses Bereichs und begreift man das Elend als die Normalität des Kapitalismus, nicht als Folge individuellen Versagens.

Man muss die Wirklichkeit mögen, um so sorgsam auf sie zu schauen. Das gilt ebenso für die Produktion in der DDR, etwa für die Brötchenversorgung Magdeburgs, der Schernikau 1986 eine gründliche Reportage widmete. Das mag heute abseitig wirken; doch die Widersprüche von individuellem Arbeitsethos und backindustrieller Beschleunigung, von staatlicher Massenproduktion und der wichtigen Rolle von Privatunternehmern, von sozialer Fürsorge und dem Anreiz zu achtloser Verschwendung verraten Genaueres über die Spätphase der DDR als die zigtausendste Klage über die Stasi.

Schernikaus Blick auf die Sache ist allerdings nicht einfach eine Wiederauflage der Neuen Sachlichkeit. Zunächst war er von den Problemen, über die er schrieb, selbst betroffen – von den Problemen des Kapitalismus sowieso, aber auch von denen des Sozialismus, dessen Potential er suchte und in den er für kurze Zeit übersiedelte (im September 1989 wurde er DDR-Bürger). Doch ist dies der geringere Grund. In jedem Fall beobachtet er genau, auch wenn er 1986 über das Personal einer Aids-Klinik schrieb und damit über Haltungen zu einer Krankheit, an der er selber 1991 sterben sollte. Vor allem ist Schernikau deswegen nicht neusachlich, weil er nicht vorgibt, einfach auf die Sache blicken zu können. So stellt er sich vielmehr als Suchenden dar; auch als einen, der weniger versteht, als seine Gesprächspartner hoffen: „Ich tue, als wüßte ich, worum es geht; er weiß, daß es nicht stimmt, ich weiß, daß er es weiß.“

Schernikau zeigt also weder die Dinge an sich, wie es die Neue Sachlichkeit anstrebte; doch geht es auch nicht um subjektives Empfinden. Vielmehr blickt er bewusst aus seiner eigenen Perspektive auf das kaum Bekannte, um es so zu durchschauen. Darin zeigt sich ein respektvoller Umgang mit den Menschen, die er porträtiert, und auch – wo es um Literatur geht – mit den Werken. Die ab 1983 in der „DVZ/die tat“ veröffentlichten Gedichtvorstellungen, kaum mehr als eine Druckseite lang, zeigen dies eindringlicher als es der zuweilen flapsige Ton verrät: Beim Umgang mit Lyrik auf oberflächliche Weihe zu verzichten, lässt erst so verschiedene Gedichte wie Theodor Storms „Die Nachtigall“ oder ein triumphierendes Kriegsgedicht des Vietnamesen Le Xuan Thu in ihrer Eigenart erscheinen.

Das ist möglich, weil es Schernikau nicht um Kritik geht, sondern um Bejahung. Affirmation gehörte lange Zeit zum Schlimmsten, was sich einem linken Autor vorwerfen ließ – hier ist sie offen formuliert. „Bejahung“ ist ein Wort, das in mehreren der Artikel vorkommt. Gegen Ende seines kurzen Lebens hat Schernikau diesen Ansatz auch gesellschaftlich reflektiert: „Möglicherweise kann es in bestimmten historischen Momenten sinnvoll sein, die Bejahung, die jeder Mensch zum Leben braucht, auch aus Dingen zu holen, deren Bejahung nicht selbstverständlich ist, und aus dieser schwierigen Bejahung Kraft zu ziehen für eine Arbeit, die Bejahung weniger gebrochen ermöglicht.“

Ein einverstandener Blick auf die Welt, um sie zu verändern – das erscheint als geradezu klassisches Programm. Tatsächlich datiert bereits von 1984 ein Lob des Sonetts als einer strengen Form, das damals noch unzeitgemäßer gewirkt haben dürfte als heute. Gleichzeitig aber finden sich in dem Band mehrere Artikel über Populärkultur, sogar ein sehr umfangreicher Beitrag über Schlager in der DDR.

Das Sonett als Form philosophischer Lyrik und der triviale Schlager haben auf den ersten Blick nichts gemeinsam und auf den zweiten das, dass sie Regeln gehorchen. Regeln schätzt, wer sich nicht ins Vage entgrenzen, sondern auf den Punkt kommen will. Insofern sind Sonette wie Schlager einerseits ideale Quellen für gesellschaftliche Veränderungen (in der DDR, wie Schernikau aufweist, dem Vorurteil entgegen zum Besseren), andererseits Formen, die mit einem Arbeitsethos einhergehen. Schernikau, dem es um Inhalte geht, bewertet nicht zuerst Inhalte, sondern Haltungen zur Welt.

Das klingt anstrengender als es ist. Die Haltung, die Schernikau einnahm, schloss Freude am Trash ein und auch pures Blödeln: „Können Tunten ernst sein?“ fragt die Überschrift des Gesprächs, das Schernikau 1987 mit den Tunten von „Ladies Neid“ zur Uraufführung seines Stückes „Die Schönheit“ führte und das als Antwort „Eher nein“ nahelegt. Man weiß nach der Lektüre zwar nicht, ob es sich bei dem Stück um eine „vereinfachte Fassung sämtlicher Südstaatendramen, die jemals geschrieben wurden“, handelt, vermutet jedenfalls, dass auch dies ein Witz ist. Doch ist man sich in einem sicher: Alle Beteiligten hatten ihren Spaß, und das war in einer Zeit, in der die Friedensbewegung stündlich mit dem Untergang der Welt rechnete, als politischer Ansatz auch nicht zu verachten.

Überhaupt regiert der Witz in vielen der Beiträge dieses Buches. Wer Witze macht, gewinnt Distanz – sei es, um sich aus allen Konflikten herauszuziehen, sei es, um Kraft für Konflikte zu sammeln. Dass für Schernikau die zweite Möglichkeit galt, beweisen die politischen Stellungnahmen in diesem Band. Berühmt wurde die Rede, die er im März 1990 auf dem Kongress der Schriftsteller der DDR hielt und in der er mit Illusionen von einem kommenden freundlichen Sozialismus aufräumte: „Wer die Gewerkschaft fordert, wird den Unternehmerverband kriegen. […] Wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen.“ Zusammengefasst: „Meine Damen und Herren, Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, das der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt.“

Zwei neoliberale Jahrzehnte später liest man diese Klarsicht mit Bewunderung. Das gilt auch für einige andere, meist kurze Prosatexte in diesem Band. In „Das war nur ein Moment“ zum Beispiel wird eine Gruppe von Wartenden an einem Grenzübergang in die DDR skizziert, die argwöhnische Geilheit auf totalitäre Sensationen, wo doch nur triste Normalität ist und die gefürchteten Grenzer allenfalls Kaffeekannen hin- und hertragen. Oder ein kurzer, präziser Essay über das Mitleid, in dem es heißt: „Jedes Mitleid ist eine Form von Selbstmitleid. Selbstmitleid geschieht, wo jemand nicht handelt.“

Anderes ist zeitgebundener; doch zeigt sich stets der Wille, die Welt so anzublicken, dass sie verändert werden kann. Schernikau besaß keine kommunistische Ideologie, sondern eine kommunistische Haltung, die grundsätzlich weltbejahend ist.

Titelbild

Ronald M. Schernikau: Königin im Dreck. Texte zur Zeit.
Verbrecher Verlag, Berlin 2009.
303 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426345

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