Vom Zerreißen der Bilder
Georges Didi-Huberman analysiert „Documents“ und scheitert an Hegel
Von Reiner Niehoff
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Wissenschaft von den Bildern ist bekanntlich und seit geraumer Zeit recht en vogue, die Wissenschaft von den Medien tritt als Treibstoff hinzu. Gemeinsam heizen sie neuen (ästhetischen, kulturellen, politischen) Phänomenen kräftig ein und lassen zugleich frühere Symbiosen und parasitäre Kohabitationen überraschend spürbar und wiederlesbar werden. So unabweisbar scheint ihr heuristisches Potential, dass der Verlag Wilhelm Fink eine eigene Reihe namens „Bild und Text“ ins Leben gerufen hat. Frontmann ist der französische Philosoph Georges Didi-Huberman, dessen inzwischen fünftes, in Frankreich bereits 1995 erschienenes Buch mit dem Titel „Formlose Ähnlichkeit oder die Fröhliche Wissenschaft des Visuellen nach Georges Bataille“ nun in einer Übersetzung von Markus Sedlaczek erschienen ist. Bataille und die Bilder, das also ist das Thema.
Didi-Huberman setzt mit seiner anspruchsvollen Untersuchung bei dem legendären Zeitschriftenprojekt „Documents“ an, das unter dem Triumvirat von Bataille, Michel Leiris und Carl Einstein als „Magazine illustré“ 1929/30 in fünfzehn Heften erschienen war und im Vorankündigungsprogramm „die irritierendsten, noch nicht klassifizierten Kunstwerke sowie bestimmte, bis jetzt vernachlässigte Schöpfungen“, ja die „beunruhigendsten Phänomene“ schlechthin zu untersuchen sich auferlegt hatte. Dafür arbeiteten die Herausgeber und Beiträger mit einem üppigen Fundus von Zeitungsausschnitten, Kunstreproduktionen, Filmstills und Fotografien und montierten, konstellierten und kombinierten ihre visuellen Fundstücke mit fantastischen Essays und wörterbuchähnlichen Texten so ingeniös, dass es den visuellen Zeitgeist grauste.
Um dieses Grausen der Bilder nun theoretisch in den Blick zu bekommen, greift Didi-Huberman im ersten Teil seines Buches weit zurück – bis auf Adam und Eva. Am Anfang aller Bildlichkeit nämlich stehe die Ähnlichkeit, die Gott sich dereinst bei der Schaffung des Menschen zur Aufgabe oder zum Plaisir gemacht hatte. Diese Ähnlichkeit sei aber nicht so harmlos, wie sie scheinen möge, sondern impliziere – zumindest in christlicher Tradition, in der Tradition der Gottähnlichkeit des Menschen also – ein Hierarchiegefälle, das nur als Einbahnstraße funktioniere. Denn zwar könne das Abbild dem Abgebildeten ähneln, wie schon bei Thomas von Aquin zu lesen sei, nie aber umgekehrt; der Mensch kann Gott ähnlich sein, Gott selbstverständlich aber nicht dem Menschen. Und so stehe es auch im Reich der Bilder, in dem es ja, wofern nicht gänzliche Zufälligkeit herrsche, primär um das Problem der Ähnlichkeit gehe.
Um dieses seit jeher also latente Hierarchiegefälle zwischen vollendeter Form und defizitärer Ähnlichkeit aufzubrechen, sei nun, so die clevere These, Bataille mit „Documents“ angetreten. Mit seiner Ästhetik des Formlosen, mit seiner Passion für die Bilder des Niedrigen, Ungefestigten, Abfälligen, Brüchigen, Parodistischen, Ekelhaften und Blutigen (für die Mundhöhle, die Spucke, den Staub, den großen Zeh, das Schlachthaus), mit seiner auch metaphorischen Beschwörung des Störend-Verstörenden, mit seiner bildmontierenden Erzeugung von Disproportionen und Deformierungen und mit seinem geradezu strukturalistischen Hang zu Verknüpfungen, Verkettungen, Fernbeziehungen und Relationen „zersetze“ und „zerreiße“ Bataille alle substantialistische, formideale und anthropomorphistische Fixierung des Bildes. Durch „Kontakt und Kontrast“ zwischen Text und Bild und zwischen Bild und Bild produziere Bataille eine Zerreißung der Ähnlichkeit, die zugleich eine „zerreißende Ähnlichkeit“ sei. In den nun folgenden, präzisen Einzeluntersuchungen der Bildregie von „Documents“ findet die Untersuchung ihre luzidesten und stärksten Passagen. Um sie werden zukünftige Auseinandersetzungen mit der legendären Zeitschrift kaum umhin kommen, und man könnte geneigt sein, hier von einem Standardwerk zu sprechen, wenn – ja wenn es da nicht noch den zweiten Teil des Buches gäbe.
In diesem zweiten Teil nun möchte Didi-Huberman noch einen Schritt über seinen frisch eroberten Stand der Dinge hinaus tun, und das will heißen: Er möchte nicht nur Batailles Arbeiten für „Documents“, sondern auch dessen sämtliche späteren Schriften als ein Unternehmen verstanden wissen, das durch und durch, fundamental und porentief von einer ganz bestimmten Denkfigur durchdrungen und gesteuert ist, von der Dialektik nämlich, natürlich negativ gewendet und hegelkritisch. Didi-Huberman reißt den Vorhang förmlich auf: „Dialektik, da ist das große Wort.“ Na dann.
Sicher, Didi-Huberman ist reflektiert genug, um nicht zu verschweigen, dass der Bibliothekar, Schriftsteller und Numismatiker Bataille 1929 Hegel kaum kennt (er übersetzt vielmehr Schestow, liest Nietzsche und Dostojewski und publiziert über die Azteken und über die Münzen der Sassaniden); dass seine Besuche der berühmten Hegel-Vorlesungen von Kojève erst in das Jahr 1933 fallen (1929 hört er noch Vorträge von Marcel Mauss), dass Hegels „Phänomenologie“ und „Logik“ in Frankreich Ende der 1920er-Jahre nur rudimentär übersetzt sind und dass das Wort „Dialektik“ nur in einem einzigen von Batailles vierzig „Documents“-Beiträgen halbwegs affirmativ verwendet wird – Bataille schreibt im zweiten Heft von 1930 in konditionaler Parenthese: „ – wenn es denn um eine Dialektik der Formen gehen kann –“. Das ist die Basis, und sie ist von Stecknadelkopfgröße.
Aber das schreckt Didi-Huberman nicht, im Gegenteil. Will man dem französischen Theoretiker glauben, kennt Bataille nämlich nicht nur eine einfache, schlichte und dialektische Dialektik, sondern gleich ein ganzes Rudel: eine häretische Dialektik, eine negative, eine regressive, eine alterierende, eine verworrene, eine konkrete, eine ekstatische und eine „symptomale“ Dialektik, die – irgendwie – an die Stelle von Hegels logischer Apparatur die Bewegung der Bilder treten lassen sollen. Was vielleicht komplex differenziert und neu klingt, ist leider so brisant nicht. Hinter den schillernden Adjektiven verbergen sich nämlich die durchaus bekannten, großen Spielfelder des Bataille’schen Denkens: die Kritik an der Schulphilosophie, die Apotheose des Lachens, der Kindheit, des Exzesses, der Ekstase und der Kunst. Bei Didi-Huberman folgen sie einander treppauf wie beim seligen Georg Friedrich Wilhelm und kulminieren im Film und in der Apotheose des Künstlers, hier in personam Sergei Eisensteins, der eine Doppelseite mit Bildern aus „Streik“ für „Documents“ montiert hatte und von den Herausgebern ohne Zweifel tief verehrt wurde. In einer haarsträubenden Gleichsetzung identifiziert Didi-Huberman nun den französischen Philosophen mit dem russischen Regisseur umstandslos: Entspräche nicht Batailles Option für die Mundhöhle formal der Technik der Nahaufnahme? Gebe es nicht da wie dort eine Mischung aus Dokument und Fantasma, wollten nicht beide mit Bildern das Denken reicher machen? Sprächen nicht beide von Ekstase? Und entspreche der Wunsch Eisensteins, vermittels der Bilder Pathos zu erzeugen, nicht Batailles Konzept der inneren Erfahrung? – Auch wenn es Didi-Huberman anders möchte, die Antwort lautet schlicht: Nein.
Und selbst angenommen, hier wäre der analytische Überschuss, an dem der erste Teil reich ist, so groß, dass man derlei als überzogen verschmerzen könnte, so bleibt doch immer noch das Wörtlein „Dialektik“ übrig, dass je häufiger wuselt, je seltener es die Vorlage hergibt. Denn es ist mir vollkommen unklar, was dieses Wörtlein in dieser Untersuchung zu suchen hat, welche Funktion ihm zukommt und was es in der Sache überhaupt leistet, um seinen übermäßigen Einsatz zu rechtfertigen. Solche grundlegenden Vorfragen zu klären, hätte aber zur Voraussetzung, dass zunächst einmal überhaupt ein Begriff von Dialektik ausgearbeitet würde, auf dessen Hintergrund oder in dessen Apparatur die vielfältig abweichenden Dialektiken verankert werden könnten und abhebbar würden. Auf solche Ausarbeitung aber verzichtet Didi-Huberman dezent; er bezieht seinen alles entscheidenden Dialektik-Begriff aus Littrés Wörterbuch (!), verweist auf den schätzenswerten Denis Hollier und auf Kojève und würzt seinen Text mit einigen wenigen Hegelzitaten aus der „Phänomenologie“, der „Enzyklopädie“ und der „Logik“ unter strenger Missachtung aller Kontexte – ein Verfahren, das man keinem akademischen Neophyten durchgehen ließe. Dass Didi-Huberman schließlich auch noch darauf verzichtet, diese Generalmobilmachung der Dialektik irgend mit den bildtheoretischen Prolegomena des ersten Teils zu vermitteln, macht die Sache endgültig ärgerlich.
Zumal der Bruch, der sich hier auftut, durch Rhetorik gekittet wird. An die Stelle der Plausibilität tritt die Wiederholung; alleine Batailles Formulierung von der „Dialektik der Formen“ wird runde dreißig Mal beschworen. Einschübe sprechen sich selbst Mut und Überzeugung zu, Kursivierungen vindizieren Sinn, und Anführungsstriche simulieren eine Faktizität, die irgendwie bedeutsam für sich selber sprechen soll. Das klingt dann etwa so: „Drittens erscheint die Regression (Gedankenstrich) und dies scheint mir der entscheidende Punkt zu sein (Gedankenstrich) hier als etwas, das die symbolischen Ausarbeitungen (Klammer auf) das, was Bataille die (Anführungsstriche) Architekturen (Anführungsstrich Ende) der Idee nannte (Klammer zu) in eine Krise stürzt, und zwar genau in dem Moment, da ihre Dynamik nur durch die (kursiv) Konstruktion (kursiv Ende) einer spezifischen Situation ermöglich werden kann (Fußnote). Der (Anführungsstriche) regressive (Anführungsstriche Ende) Aspekt der Erkenntnis bei Bataille schließt exakt an diese doppelte Forderung an: Nur im Rahmen einer bestimmten (Anführungsstriche) Situation (Anführungsstriche Ende) (Gedankenstrich) in unserem Fall: die Gesamtheit der (Anführungsstriche) Bildmontagen (Anführungsstriche Ende), in denen uns die Zeitschrift (kursiv) Documents (kursiv Ende) ihre eigenartige (Anführungsstriche) Fröhliche Wissenschaft (Anführungsstriche Ende) des Visuellen aufdrängt (Gedankenstrich), nur in einem solchen (Anführungsstriche) Rahmen (Anführungsstriche Ende) konnten die Gewalt des Dementi und die Art verallgemeinerter (kursiv) visueller Attraktionen (kursiv Ende) sich durchsetzen, die Bataille und seine Freunde in ihrer Zeitschrift unentwegt ins Werk gesetzt haben. Ins Werk gesetzt, das heißt (Gedankenstrich) auch (Gedankenstrich Ende) konstruiert.“ (Absatz, Kapitel Ende, danke, auf Wiedersehen, Döblin möge mir verzeihen.)
Also: Didi-Huberman will Bataille nicht nochmals im Rahmen einer von Friedrich Nietzsche inspirierten Vernunftkritik lesen, wie es noch Jürgen Habermas mit guten Gründen versucht hat; er weigert sich, Batailles Präparierungskünste des Heterokliten, Disturbierenden und Asymmetrischen in den Begriffen von homogen und heterogen zu denken, mit denen der erstaunliche Schriftsteller-Philosoph gerade die zwangsläufig gleichschaltende Widerspruchslogik der Dialektik auszuschalten versucht hat; er übersieht, dass Bataille die Figur des Widerspruchs, auch wenn sie in der entscheidenden Dichotomie von hoch und niedrig wiederzukehren scheint, durch die Figur des Ausschlusses und der Verfemung ersetzt; und Didi-Huberman ignoriert im Rausch der Dialektik, was sein eigenes bildtheoretisches Konzept für ihn hätte leisten können – wenn er seine Untersuchung mit den Analysen der Abbildungen fortgeführt hätte, die Bataille in „Die Erotik“ oder in den späten „Tränen des Eros“ eingefügt hat. Einem solchen Unternehmen wäre man gerne weiter gefolgt.
Als die Jesuiten nach China kamen, beschieden ihnen die Mandarine, ja, die Mathematik, die nehme man gerne, aber auf die Religion wolle man doch lieber verzichten. Didi-Hubermans kluge Überlegungen zu „Documents“ sind herzlich willkommen, die Dialektik allerdings…
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